Jochanan Trilse-Finkelstein

Jochanan Trilse-Finkelstein

Jochanan Trilse-Finkelstein (* 10. Oktober 1932 in Breslau) ist ein studierter Philosoph, Literatur- und Theaterwissenschaftler, Schriftsteller und Publizist. Er wurde als Christoph Trilse geboren und trug als Tarnname im Exil Krzystof Trilczé bzw. Christoph Trilse, wie auch später zeitweise in Publikationen der 1960er und 1970er Jahre.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Elternhaus

Trilse entstammte einem jüdischen sozialdemokratischen Elternhaus. Sein Vater war Arzt (Kieferchirurg und Stomatologe, ursprünglich Tropenarzt) und stammte aus Polen, die Mutter (Krankenschwester) aus Galizien. 1933 ging die Familie aus politischen und rassischen Gründen ins Exil, zunächst, da die Mutter österreichische Staatsbürgerin war, nach Wien. 1938 – nach dem Anschluss Österreichs an „Großdeutschland“ - floh sie nach Prag, dem Exilsitz des Vorstandes der deutschen Sozialdemokratie. 1939 gelangte sie dann über die Slowakei und Ungarn nach Triest, von dort mit einem der letzten Flüchtlingsschiffe nach Shanghai. Die Familie lebte dort bis 1941 bevor aus gesundheitlichen Gründen, die Mutter vertrug das das Shanghaier Klima nicht, die Rückkehr nach Europa erfolgte. Trilse lebte mit falschem Pass ohne jüdische Identität in der Illegalität, zeitweise in Wien, wo der Vater als Arzt arbeiten konnte. 1943 kam es zu einer erneuten gemeinsamen Flucht nach Jugoslawien. Der Vater schloss sich in Slowenien und Kroatien der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee als Mediziner im Offiziersrang an.

1946 kehrte die Familie nach Österreich zurück. Alle anderen Verwandten wurde in Auschwitz, Theresienstadt und anderen NS-Lagern ermordet. [1]. In Wien arbeitete der Vater bis zu seinem Tod 1951 wieder als Arzt und die Mutter bis zu ihrem Übergang in die DDR 1952 wieder als Krankenschwester. In der DDR wurde sie 1953 für ein halbes Jahr ohne Haftbefehl und Gerichtsurteil wegen „Titofaschismus“ und „Zionismus“ inhaftiert. Nach Stalins Tod im Sommer 1953 entlassen, führte sie ein nicht nachweisbares Leben bis 1956; nach dem 20. Parteitag der KPdSU unter Chruschtschow erfolgte die Niederlegung des Verfahrens und 1963 die politische Rehabilitierung (keine juristische). Seither lebte die Mutter Trilses ohne jede Funktion und als Mindestrentnerin zurückgezogen und unbehelligt, 1981 erhielt sie die ihr zustehende VdN-Pension, sie starb 1985; und erfuhr 1992 postum eine juristische Rehabilitierung.

Ausbildung

Trilse besuchte das Theresianum in Wien bis zur Matura 1951, absolvierte 1950/51 ein externes Schauspielstudium am Max-Reinhardt-Seminar, konnte aber trotz guten Examens infolge eines Kehlkopfleidens den Schauspielerberuf nicht aufnehmen. Daher lernte er bis Ende 1952 in der Forstwirtschaft, beendete die Lehrzeit als Forstgeselle. 1951 wurde er Mitglied der KPÖ nach Bürgschaft Ernst Fischers (bis 1969, Austritt nach Besetzung der ČSSR). 1953 – 1956 studierte er Philosophie sowie Literatur- und Theaterwissenschaft an der Universität Wien, 1956/57 dasselbe in Graz; 1957 für ein Semester in Frankfurt/Main Philosophie und Sozialwissenschaft bei Theodor W. Adorno; 1957/58 Fortsetzung des Studiums bei Ernst Bloch, Hans Mayer und Walter Markov an der Karl-Marx-Universität Leipzig (DDR).

Einen sprach- und sprechwissenschaftlichen Kurs bei den Professoren Hauschild und Weithase belegte er als Externer noch bis 1959 in Jena, Abschluss mit mehreren Diplomen, Theaterwissenschaft in Leipzig bei Armin-Gerd Kuckhoff. Er blieb in der DDR, promovierte 1971 und 1972 an den Universitäten Rostock und Dresden, habilitierte sich 1977 in Greifswald. 1985 erfolgte die Professur (Titular).

Tätigkeiten

Nach Abschluss der Studien hatte Trilse Ende der fünfziger Jahre zunächst ein Jahr als Dramaturg am Theater Güstrow gearbeitet. Wegen allzu schlechter Bezahlung und Erkrankung der Mutter zog er zurück nach Erfurt, wo er bis 1960 als Dozent an einer Fachhochschule für Architektur und Bauwesen tätig war. Danach arbeitete er bis 1966 an den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten für klassische Literatur in Weimar zunächst als vorwiegend fremdsprachlicher Museumsführer für Goethe- und Schillerstätten in Weimar und Thüringen, später als Philologe und Historiker an der Heine-Säkular-Ausgabe, die er maßgeblich aufbaute und einrichtete, später aber vertrieben wurde. 1966 – 1971 war er am Henschel-Verlag Berlin tätig, zunächst als Lektor, ab 1967 als leitender Lektor für Darstellende Kunst. 1972/73 im Aufbau-Verlag Redakteur bei „Weimarer Beiträge“. Seither ist Trilse freier Autor und war als Autor, Herausgeber und Publizist und in weitreichender internationale Reise-Tätigkeit engagiert.

Mitgliedschaften

1973 wurde er Mitglied im Schriftstellerverband der DDR (Vorsitzende Anna Seghers, Hermann Kant), 1986 im Verband der Autoren Österreichs (Vorsitz: Ernst Jandl), 1990 Mitglied des Verbandes Deutscher Schriftsteller der BRD; 1995 Mitglied der Academy of Sciences New York.

Annahme des Namens Finkelstein und gesellschaftliches Engagement

Als 1978 in der Novembernacht des 9. zum 10. zum fünften Mal Steine die Fenster der mütterlichen Wohnung trafen, nahmen seine Mutter und auch Trilse selbst die antisemitische Tat zum Anlass, ihre jüdischen Namen wieder anzunehmen – Esther und Jochanan Finkelstein, letzterer war der Geburtsname der Mutter. Esther Finkelstein ging in die Jüdische Gemeinde ohne sich als eigentlich religiös zu bezeichnen und wurde 1985 auf eigenen Wunsch auf dem „Guten Ort“ (Jüdischer Friedhof) in Berlin-Weißensee beigesetzt. Jochanan Trilse-Finkelstein ging – ohne ausgesprochen religiös zu sein - ebenfalls zur Jüdischen Gemeinde, besonders zu ihren kulturellen Veranstaltungen, gehörte ab 1985 zu den Aktivisten der Gruppe “Wir für Uns“, die sich mit biblischer und weiterer jüdischer Geschichte, mit Kultur, Religion und auch der Kaschruth (jüdische Reinheitslehre) befasste. 1990 wurde er Mitbegründer des „Jüdischen Kulturvereins“, wo er von 1992 bis 2003 elf Jahre ein sehr aktives Vorstandsmitglied war. Er veröffentlichte regelmäßig Artikel in der Vereinszeitschrift, unter anderem eine regelmäßigen Artikelserie „Jeder Tag ein Gedenktag“, hielt viele Vorträge im Kulturverein, organisierte Veranstaltungen und betreute Referenten und Gäste.

Aufgabe und Ziel seiner Tätigkeit sieht er in einem frei und bewusst gelebten säkularem Judentum – auf dem Wege von Betrachtung und Verstehen zu aktiver Gestaltung.
Als Beispiel für sein engagiertes gesellschaftliches Auftreten kann darauf verwiesen werden, das er zu den jüdischen Erstunterzeichnern der Berliner Erklärung Schalom 5767 [2][3] gehört.

Werkbibliografie (Auswahl)

27 veröffentlichte Bücher, darunter:

  • Geschichte der deutschen Schauspielkunst, 2 Bde, Berlin 1967;
  • Antike und Theater heute, Berlin 1975 (Übers. ins Griechische 1978, 2. dt. Auflage 1979);
  • Theaterlexikon, Berlin 1977 (2. Aufl. 1978);
  • Das Werk des Peter Hacks, Berlin 1982 (4 Aufl. bis 1982);
  • Heinrich Heine - Eine Bildbiografie, Leipzig 1984 (3 Auflagen bis 1988);
  • Lexikon Theater International, Berlin 1995 (5000 S., Manuskript, Hauptautor und Herausgeber); Taschenbuchausgabe 2001 und 2003;
  • Gelebter Widerspruch - Heinrich Heine, Berlin 1997/1998, 2001 (Aufbau-Verlag);
    • dazu acht Dramen-Ausgaben, drei Prosa-Ausgaben, zwei Lyrik-Ausgaben; zahlreiche Buch-Editionen mit Werken Heinrich Heines und zum Vormärz (Kommentierte Ausgaben);
  • Goethes erstes Weimarer Jahrzehnt, Ilse Nagelschmidt/Stefan Weiß/Jochanan Trilse-Finkelstein (Hrsg.), Tagungsband mit weiteren Forschungsergebnissen, 464 Seiten, Weimar 2010, ISBN 978-3-936177-15-2

Mitarbeit an:

  • Geschichte der deutschen Literatur in 12 Bänden, Berlin ab 1960ff; Kulturgeschichte der Antike, Bd 1: Griechenland, Berlin 1977ff;
  • Literatur der DDR, Einzeldarstellungen, Bd 1 - 3, Berlin 1977ff;
  • Österreichische Literatur, Einzeldarstellungen, Berlin 1988

Zudem Aufsätze, Essays, Einleitungen:

  • in den Sachgebieten Deutsche, österreichische und Weltliteratur,
  • zu Theatergeschichte und Theater heute: ca. 90 Beiträge;
  • zu Philosophie: 12 Beiträge;
  • im Bereich griechische Antike: 14 Darstellungen,
  • zu Judaica (Jüdische und Jüdisch-deutsche Kulturgeschichte): ca. 200 Beiträge
  • Reportagen, Reise- und Städtebilder: etwa 50;

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. [1]"Zunächst war ich Zeuge, und dann war ich hineingezogener Teilnehmer..." Jochanan Trilse-Finkelstein im Zeitzeugen-Projekt des Studiengangs Medienberatung, Institut für Sprache und Kommunikation der Technischen Universität Berlin in Kooperation mit dem Offenen Kanal Berlin
  2. Bundesregierung soll "endlich eine aktive Rolle zur friedlichen Lösung des Nahostkonflikts" einnehmen Im Wortlaut: Schalom 5767 (Berliner Erklärung)
  3. Jüdische Erstunterzeichnende der Berliner Erklärung Schalom5767



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