Jahrmarktsorgel

Jahrmarktsorgel
Jahrmarktsorgel der Firma "Gebrüder Bruder" (Waldkirch, 1925)

Die Jahrmarktsorgel, auch Kirmes- oder Karussellorgel genannt, gehört zur Gattung der mechanischen Musikinstrumente und ist eng verwandt mit der Drehorgel oder auch dem ortsfesten Orchestrion.

Mit der Drehorgel hat die Jahrmarktsorgel die Mobilität gemeinsam, wenngleich die letztere – weil wesentlich größer und schwerer – meist einen eigenen Transportanhänger für PKW oder gar LKW benötigt. Die Ähnlichkeit zum Orchestrion besteht darin, dass neben verschiedensten Orgelpfeifen meist auch Rhythmusinstrumente die Musik mitgestalten. Alle Funktionen (Musiknoten, Registerschaltung, Rhythmusimpulse, Bewegungen von Figuren) werden vom Programmträger gesteuert.

Mit Hilfe der Jahrmarktsorgel versuchten Schausteller seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Vergnügungsbetriebe für das Publikum attraktiver zu gestalten. Beispielsweise Karussells, Schiffschaukeln, Reitschulen und das Panoptikum (begehbares Schauzelt) umwarben das Publikum durch musikalische Darbietungen.

Jahrmarktorgel auf dem „Berger Markt“ als Begleitung des Kinderkarussells

Die Jahrmarktsorgel will vordergründig ein kleines Orchester imitieren. Durch das Arrangement der Musik und die Zusammenstellung der Klangfarben entsteht jedoch zumeist ein unvergleichliches, ganz eigenständiges Hörerlebnis. Bei der Auswahl der Musik wurde häufig Märschen und Tanzmusik der Vorzug gegeben. Aber auch Querschnitte aus populären Opern und Operetten sowie Gassenhauer und sogenannte Charakterstücke („Die Post im Walde“; „Heinzelmännchens Wachtparade“) gehör(t)en zum Repertoire.

Anfangs wurden Jahrmarktsorgeln mit Gewichtsantrieb oder Kurbel, gelegentlich auch mit Dampfmaschine oder Gasmotor, angetrieben. Später (nach etwa 1920) wurden sie meist mit einem Elektromotor ausgestattet.

Faltkartonsteuerung einer Tanzorgel – hier als Endlosbuch in einer speziellen „Wiege“

Die Musik der ersten Jahrmarktsorgeln wurde auf Stiftwalzen programmiert. Ab 1892 baute zuerst die Firma Gavioli & Cie, Paris, eine neuartige Ventilsteuerung, bei der die Musikinformationen in Kartons (siehe unten) gestanzt wurde. Dieses neue System wurde schnell von anderen Herstellern übernommen und variiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde – vor allem von den Orgelbauern in Waldkirch – die Faltkartonnote (siehe Bild) – durch leichtere Notenrollen ersetzt, die materialschonend durch Druck- oder Saugluft abgetastet werden. Beide Systeme – Kartonnote und Lochband – kommen auch heute noch in mechanischen Musikinstrumenten zum Einsatz.

Faltkartonnoten – auch Bücher genannt – sind kleinformatige, mit Leinenstreifen verbundene, lackgetränkte Kartonblätter, die als Leporello gefaltet aufbewahrt werden. In die Kartons sind die Musik- und Steuerinformationen für die Instrumente als Rund- oder Langlöcher eingestanzt. Notenlochbänder bestehen in der Regel aus einfachem Papier, in neuerer Zeit auch aus Kunststoff-Folie. Die Herstellung von Faltkartons und Lochbandrollen erfordert musikalisches Können, gepaart mit dem Gefühl für die Eigenheiten des entsprechenden Musikinstrumentes. Einige großartige Arrangeure fanden sich zum Beispiel in den Werkstätten der Firmen Gavioli und Limonaire Fréres (Paris) oder Bruder, Ruth oder Frei (Waldkirch). Auch heute finden sich noch einige hervorragende Arrangeure für moderne Musikstücke, die auf den alten Originalinstrumenten oder Neubauten erklingen.

Die oben genannten Orgelbaufirmen waren bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts die wichtigsten Hersteller von Jahrmarktsorgeln. Hinzu kamen noch einige bedeutende belgische Hersteller wie zum Beispiel Decap und Mortier (Antwerpen) sowie Produzenten in den Niederlanden.

Durch die Einführung der elektrischen Verstärkertechnik und der elektrischen Schallplattenspieler Ende der 1920er Jahre ebbte die Herstellung von Jahrmarktsorgeln bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges immer mehr ab. Durch die nun billigere und einfachere „elektrische Aufnahme“ von Musik durch das Kohlemikrofon und die Wiedergabe durch Verstärker über Lautsprecher waren die aufwändigen Orgelwerke nicht mehr konkurrenzfähig. Sie wurden vielfach übertönt und auch als unmodern empfunden. Nur einzelne, kleine Handwerksbetriebe waren nach dem Kriege noch in der Lage, alte Jahrmarktsorgeln zu warten und zu reparieren. Neubauten mit der alten Steuertechnik waren eine Seltenheit. Ein Ausnahme bildete zum Beispiel der rheinhessische Orgelbauer Franz Göckel.

Viele wertvolle Instrumente fielen in der Zeit von 1930 bis Mitte der 1960er Jahre der Axt zum Opfer und wurden buchstäblich verheizt. Im besten Falle wurden sie in Lagerhallen abgestellt und sich selbst überlassen.

Dennoch hielten viele Schaustellerfamilien ihre Orgeln in Ehren. Es ist in Schaustellerkreisen heute noch Brauch, ein verstorbenes Familienmitglied mit einem getragenen Musikstück, gespielt von der eigenen Orgel, auf seinem letzten Weg zu ehren.

Ende der 1960er Jahre setzte eine Rückbesinnung auf die alten, romantischen Kirmesorgeln ein. Die Nostalgiewelle erfasste die Welt und brachte auch diese Instrumente zu alten Ehren. Restaurierte Orgeln finden sich heute wieder bei den zugehörigen Prachtkarussells, spielen auf Weihnachtsmärkten oder sind in eigenen Museen zu bestaunen und zu vernehmen.

Literatur

  • Herbert Jüttemann: Waldkircher Dreh- und Jahrmarkt-Orgeln. Geschichte, Aufbau und Fertigungsprogramme. 2. Auflage. Kaufmann, Lahr 2005, ISBN 3-7806-7237-5
  • Produktkatalog der Firma Gavioli & Cie, um 1903 (ohne Ort, ohne Jahr)

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