Jahr ohne Sommer

Jahr ohne Sommer
Vergleich der Temperaturen 1816 zum langjährigen Mittel 1971–2000

Als das Jahr ohne Sommer wird das vor allem im Nordosten Amerikas und im Westen und Süden Europas ungewöhnlich kalte Jahr 1816 bezeichnet. In den USA bekam es den Spitznamen „Eighteen hundred and froze to death“ und wurde entsprechend auch in Deutschland als das Elendsjahr „Achtzehnhundertunderfroren“ berüchtigt. Vergleichbare Sommeranomalien ereigneten sich in Mitteleuropa etwa 535/536, 1529, 1588, 1601, 1618, 1628, 1675 und 1813.[1]

Inhaltsverzeichnis

Ursache

Erst 1920 fand der US-amerikanische Klimaforscher William Jackson Humphreys eine Erklärung für das „Jahr ohne Sommer“. Er führte die Klimaveränderung auf den Vulkanischen Winter in Folge des Ausbruchs des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien zurück. Dieser war im April 1815 mit einer Stärke von 7 auf dem Vulkanexplosivitätsindex ausgebrochen und hatte neben ungefähr 150 km³ Staub und Asche auch Schwefelverbindungen, die auf ein Schwefeldioxidäquivalent von 130 Megatonnen geschätzt werden,[2] in die Atmosphäre geschleudert, die sich in den oberen Luftschichten wie ein Schleier um den gesamten Erdball legten. Die Abkühlung des Weltklimas durch den Ausbruch hielt noch bis 1819 an.[3]

Details

Anfang Juli und Ende August 1816 gab es im Nordosten der USA Nachtfrostperioden. Im Osten Kanadas und in Neuengland fiel Schnee, der in Québec eine Höhe von 30 Zentimetern erreichte. Dies führte zu schweren Ernteeinbußen und in der Folge zu stark gestiegenen Getreidepreisen, eine ausgesprochene Hungersnot gab es in diesem Jahr jedoch noch nicht. Der Getreidepreis erreichte erst im Folgejahr (1817) das Anderthalbfache des Niveaus von 1815.[4]

In Mitteleuropa kam es zu schweren Unwettern. Zahlreiche Flüsse (unter anderem der Rhein) traten über die Ufer. In der Schweiz schneite es jeden Monat mindestens einmal bis auf 800 m Meereshöhe und am 2. und 30. Juli bis in tiefe Lagen.[5] Die Folge der niedrigen Temperaturen und anhaltenden Regenfälle in Teilen Europas waren katastrophale Missernten. Am stärksten betroffen war das Gebiet unmittelbar nördlich der Alpen: Elsass, Deutschschweiz, Baden, Württemberg, Bayern und das österreichische Vorarlberg. Hier erreichte der Getreidepreis im Juni 1817 das Zweieinhalb- bis Dreifache des Niveaus von 1815.[4] An einzelnen abgelegenen Orten wurde auch das Vierfache erreicht. In der Zentralschweiz war die Hungersnot besonders groß, nach Beschreibungen des Frühmessers Augustin Schibig verzehrten die Leute „die unnatürlichsten, oft ekelhaftesten Sachen, um ihren Heißhunger zu stillen“. In Ybrig, in Rothenthurm und in den Berggegenden „haben die Kinder oft im Gras geweidet wie die Schafe“.[5] Insbesondere das Elend in der Ostschweiz veranlasste Zar Alexander I. zu einer Spende von 100.000 Rubeln und Getreidelieferungen aus Russland.[6]

Durch die geringere Schneeschmelze im Vorjahr und die angesammelten zusätzlichen Schneefälle zum Beispiel in den Alpen führte die Schneeschmelze nun örtlich erneut zu katastrophalen Überschwemmungen. Hungersnöte brachen aus. Tausende der zusätzlich noch unter den Folgen der Napoleonischen Kriege leidenden Europäer wanderten schließlich in die USA aus.

In Osteuropa (geprägt vom Kontinentalklima) und Skandinavien waren dagegen kaum Auswirkungen feststellbar. So stieg in Polen der Getreidepreis von 1815 bis 1817 wegen der verstärkten Exportnachfrage um lediglich ein Viertel.[4]

Zur Erinnerung an diese Zeit wurden in Deutschland mancherorts sogenannte Hungertaler geprägt; auch andere Formen von Erinnerungsstücken sind bekannt.[7]

Hungertaler

Indirekte Folgen

Die Hungersnot von 1817 war Anlass für verschiedene Maßnahmen zur Förderung der Landwirtschaft, darüber hinaus auch für Organisationsreformen im staatlichen Bereich, die auch im Zusammenhang von Restauration und Verfassungsdiskussion zu sehen sind, sowie für die Stiftung karitativer Organisationen. Im stark betroffenen Württemberg beispielsweise initiierte Wilhelm I. 1817 die Gründung eines landwirtschaftlichen Vereins, dessen Centralstelle ab 1818 jährlich ein landwirtschaftliches Fest mit Wettbewerben veranstaltete, das heutige Cannstatter Volksfest. Königin Katharina plante und leitete den Wohltätigkeitsverein, der ab 1817 als halbstaatliche Organisation Funktionen vergleichbar einer innerstaatlichen Entwicklungshilfe, außerdem der Hunger- und Katastrophenhilfe, übernahm und durch den wiederum 1818 die Württembergische Sparkasse gegründet wurde[8]. Ebenfalls 1818 gründete Wilhelm eine landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt, heute die Universität Hohenheim.

Der Chemiker Justus von Liebig wurde durch die Erinnerung an die Hungersnöte zu seinen Untersuchungen über die Bedingungen des Pflanzenwachstum angeregt. Dazu entwickelte er die Organische Chemie und führte die Mineraldüngung ein, die zu einer Steigerung der Erträge der Landwirtschaft führten.

Die Entwicklung der Draisine, eines Vorläufers des Fahrrades, geht auf das Pferdesterben infolge der Futtermittelknappheit nach der Tambora-Eruption zurück.

In den USA bewogen Missernten viele Farmersfamilien aus Neuengland und anderen Küstenstaaten in den Nordwesten, an die Frontier zu ziehen, so dass innerhalb weniger Jahre die Staaten Ohio, Indiana und Illinois besiedelt wurden.

Literarische Widerspiegelung

Die britische Schriftstellerin Mary Wollstonecraft Shelley verbrachte den Sommer 1816 mit Freunden in der Nähe des Genfersees. Sie besuchten öfters Lord Byron in der nahegelegenen Villa Diodati. Aufgrund des extrem schlechten Wetters konnten die Anwesenden oft das Haus nicht verlassen. So beschlossen sie, jeweils eine Schauergeschichte zu schreiben und den anderen vorzutragen. Shelley schrieb die Geschichte Frankenstein und Byrons Leibarzt John Polidori (1795–1821) verfasste Der Vampyr – eine Vampirgeschichte lange vor dem Entstehen von Bram Stokers Dracula. Lord Byron vollendete seine Geschichte nicht, doch hat er die Eindrücke dieses Sommers in dem Gedicht Die Finsternis verarbeitet.

Siehe auch

Literatur

  • Jelle Zeilinga de Boer und Donald T. Sanders: Das Jahr ohne Sommer, Essen 2004. ISBN 3-88400-412-3
  • Keith Briffa: Influence of volcanic eruptions on Northern Hemisphere summer temperature over the past 600 years, in: Nature 393 (Juni 1998), 450–455. (engl.)
  • Charles R. Harington (Hrsg.): The Year Without a Summer? World Climate in 1816, Ottawa 1992. ISBN 0-660-13063-7 (engl.)
  • William J. Humphreys: Volcanic dust and other factors in the production of climatic changes, and their possible relation to ice gases, in: J Franklin Inst (August 1913), 131–172. (engl.)
  • Christian Pfister: Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen. Bern 1999.
  • Henry und Elizabeth Stommel: Volcano Weather. The Story of 1816, the Year Without a Summer, Newport (R. I.) 1983. ISBN 0-915160-71-4 (engl.)
  • R. B. Stothers: The great Tambora eruption in 1815 and its aftermath, in: Science 224 (1984), 1191–1198.
  • Hans Peter Treichler: Als ob das Ende käme: Die Hungerjahre 1816/17. In: Hans Peter Treichler: Die bewegliche Wildnis. Biedermeier und ferner Westen. Schweizer Verlaghaus AG, Zürich 1990, S. 27–50. ISBN 3-7263-6523-0
  • L. Specker: Die große Heimsuchung. Das Hungerjahr 1816/17 in der Ostschweiz. 2 Bd., Historisches Museum St. Gallen: 1. Teil 1993, 2. Teil 1995.
  • Volker Kennemann: Das Hungerjahr 1816/17. in: An Bigge, Lenne und Fretter Heft 25, Dezember 2005. S. 124 ff. (bezieht sich vorwiegend auf das südliche Westfalen)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. nach Pfister 1999
  2. Hans Graf: Klimaänderungen durch Vulkane; Forschungsbericht 2002 des MPI für Meteorologie
  3. Diesen Kausalzusammenhang belegen auch andere große Vulkaneruptionen, siehe zum Beispiel Krakatau#Auswirkungen_weltweit (1883).
  4. a b c John D. Post: A Study in Meteorological and Trade Cycle History: The Economic Chrisis Following the Napoleonic Wars. In: The Journal of Economic History 34 (1974), S. 315–349.
  5. a b Ausbruch 1815 – Hungersnot in der Zentralschweiz, Artikel in der Neuen Luzerner Zeitung vom 17. April 2010
  6. Massenarmut, Hungersnöte und Auswanderung Abschnitt des Artikels Die Industrielle Revolution auf geschichte-schweiz.ch
  7. Volker Kennemann: Das Hungerjahr 1816/17. In: An Bigge, Lenne und Fretter, Heft 25, Dezember 2005, S. 124 ff.
  8. Landesarchiv Baden-Württemberg: Findbuch zum Bestand E 191. Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins bzw. für Wohltätigkeit – Einführung

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