Jagdmagie

Jagdmagie

Als Jagdmagie bekannt wurde eine von Salomon Reinach zu Anfang des 20. Jahrhunderts aufgestellte Theorie, mit der sich Freud in Totem und Tabu auseinandersetzt. Mitte des 20. Jahrhunderts galt Reinachs Theorie, vor allem auch durch ihre Weiterentwicklung unter Henri Breuil und Henri Bégouen, als eine Art Dogma in der Erforschung der kultischen Rituale der Früh- und Vormenschen.

Die Völkerkunde hatte bis zu dieser Zeit ein Bild von Früh- und Vormenschen gezeichnet, das mit der Vorstellung vom „Primitiven“ („Guten Wilden“) einherging, der sich frei und unbesorgt in einer Welt des Überflusses tummelte. Das 1911 erschienene Buch von J.-H. Rosny dem Älteren, „Der Krieg ums Feuer“ (La Guerre du feu) hingegen, zeigte die frühen Menschen als schwache Wesen, die in einer feindlichen Welt ums Überleben kämpften.

Inhalte

Die neue Sicht der Kunst der Früh- und Vormenschen als „die magische Kunst“ unterstellte dieser demnach ein ausschließlich praktisches Ziel, sie trug entsprechend vor allem zum Überleben bei. Henri Bégouen drückte diese Vorstellung in den Worten aus: „Die Kunst jener Zeit ist zweckgerichtet“.

Pferdedarstellungen aus der Chauvet-Höhle, Aurignacien/Châtelperronien
Höhlenmalerei aus Lascaux

Die zweite Grundlage der Theorie von der „Jagdmagie“ stellt die Höhle in den Mittelpunkt der Überlegungen. Dass sich prähistorischen Menschen so weit in die Dunkelheit und Gefahr unterirdischer Bereiche vorwagten, und ihre Zeichnungen an entlegenen Orten anbrachten, wurde so gedeutet, dass es nicht darum ging Zeichnungen zu schaffen die „gesehen“ werden wollten. Dies konnte nach der Theorie von der Jagdmagie nur einem magischen Ziel dienen. Die Ausführung der Zeichnung oder der Skulptur war das eigentliche „magische“ Motiv. Die Abbildung des Tieres selbst war eine kultische Handlung, die für sich selbst einen Wert besaß. War sie einmal ausgeführt, dann hatte ihr unmittelbares und materielles Ergebnis, die Abbildung, keine weitere Bedeutung mehr. Damit will man in dieser Theorie auch erklärt haben, warum sich so viele Figuren auf denselben Höhlenwänden überlagern und kaum sichtbare Gravierungen angebracht wurden.

Die Theorie von der Jagdmagie ergeht sich so in der Erklärung der Kunst und Religion der Früh- und Vormenschen. Man glaubt postulieren zu dürfen, dass in der Vorstellung „Primitiver Wesen“ die Abbildung eines jeden Lebewesens, sei es als Zeichnung oder als Skulptur eine Daseinsform oder Emanation eben dieses Wesens sei. Weiter wird folgende Vorstellung als Existent postuliert: Ergreift der Mensch Besitz über das Abbild, so hat er damit Macht über das Wesen selbst. Dieser Teil der Theorie wurde gestützt durch eine damals gängige Interpretation der Beobachtung, dass viele vorzivilisatorische Menschen echte Angst empfanden, wenn man sie photographierte oder eine Zeichnung von ihnen anfertigte. So wurde die Annahme gestützt, dass auch die Früh- und Vormenschen glaubten, dass die Darstellung eines Tieres sie indirekt bereits dazu befähige, es zu beherrschen.

Die magischen Praktiken verfolgten der Theorie von der Jagdmagie nach im Wesentlichen drei Ziele: Jagd, Fruchtbarkeit und Vernichtung. Die Jagdmagie sollte erfolgreiche Jagdzüge herbeiführen. Zu diesem Zwecke bemächtigten sich die Früh- und Vormenschen der Darstellung des Tieres, das sie erlegen wollten, und damit des Tieres selbst. Die magische Wirkung sollen sie verstärkt haben, indem sie der Darstellung des Tieres pfeilförmige Zeichen hinzufügten, Verwundungen auf manchen Tieren eintrugen (Niaux), Tiere in einer Zeremoniellen Tötungs- oder Opferhandlung abbildeten oder ihr Fallen (Font-de-Gaume) darstellten. Die Zeichnungen unvollständiger Tiere sollten so angeblich darauf abzielen, diese in Teilen ihrer Fähigkeiten zu berauben, so dass man sich ihnen leichter nähern und sie besser töten konnte.

Während sich so die Jagdmagie den großen bevorzugten Jagdbeuten: Pferde, Wisente, Auerochsen, Steinböcke, Rentiere und Hirsche widmete betrieben Früh und Vormenschen der Theorie zufolge auch eine Vernichtungsmagie. Diese, so die Vorstellung befasste sich vor allem mit Tieren, die für den Menschen gefährlich sind: Raubkatzen und Bären (Les Trois Fréres, Montespan). Der Fruchtbarkeitszauber schließlich soll der Theorie nach erreichen, dass sich die nützlichen Tierarten vermehren. Dazu stellten die Früh- und Vormenschen Tiere unterschiedlichen Geschlechts dar, auch in Szenen, die einer Paarung vorangehen (die Wisente aus Lehm in Tuc-d'Audoubert), oder trächtige weibliche Tiere.

Kritik

Die Sichtweise dieser Theorie macht also die Kunst der Früh- und Vormenschen zu reinen zweckgerichteten kultischen Bild-Ritualhandlungen. Die in Tierhäute gehüllten, mit Attributen der Tier ausgestatteten „Magier“, trugen diese, um sich die Fähigkeiten und Kräfte der Tiere besser aneignen zu können.

Dass die Religion der frühen Menschen, in der Vorstellung der Theorie bei Zauberern und Schamanen endet, Ihnen aber nicht die Fähigkeit zur Abstraktion eines höheren Wesens, einer Gottheit zugestanden wird, begründet gleichzeitig einen wesentlichen Schwachpunkt der Theorie und einen Ansatzpunkt späterer kritischer Auseinandersetzung. Warum z.B. postuliert der Gott des alten Testamentes „Du sollst Dir kein Bild ... machen“?

Grenzt sich die Religion des alten Testamentes tatsächlich bewusst von der Religion der Schamanen ab? Oder stellt sie deren konsequente Fortsetzung in den Bereich der Abstraktion des göttlichen dar: Nur die Priester dürfen die Bilder (darstellen) sehen und berühren; von Gott selbst aber darf sich niemand ein Bild machen; dieses würde schließlich, um in der Theorie zu bleiben dazu dienen, den Gott selbst zu beherrschen. Diese Kette von Postulaten würde schließlich selbst innerhalb der Theorie von der Jagdmagie erklären, warum Götter schon damals nicht abgebildet wurden.

Warum also verschiebt die Theorie der Jagdmagie die Erfindung der göttlichen Abstraktion aus der Zeit der Früh und Vormenschen in eine spätere Phase der menschlichen Entwicklung? Wollen die teilweise selbst tief religiös verhafteten Schöpfer der Theorie evtl. die Erfindung des göttlichen bewusst ihrer eigenen Religion vorbehalten? Diese und andere kritische Fragen lassen die Theorie von der Jagdmagie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer weniger Forschern attraktiv genug erscheinen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen.

Literatur

  • Henri Breuil: Beyond the Bounds of History. Scenes from the Old Stone Age. Gawthorn, London 1949, (Nachdruck: AMS Press, New York NY 1976, ISBN 0-404-15934-6).
  • Henri Breuil, M. C. Burkitt: Rock paintings of Southern Andalusia. A Description of a Neolithic and Copper Age Art Group. Clarendon Press, Oxford 1929 (Nachdruck: AMS Press, New York NY 1976, ISBN 0-404-15935-4).
  • Sigmund Freud: Totem und Tabu.
  • Salomon Reinach, Elizabeth Frost: The Phenomena of Animal Toteism. Kessinger, Whitefish MT 2010, ISBN 978-1-161-55076-4 (Abdruck aus: Salomon Reinach, Elizabeth Frost: Cults, Myths and Religions. D. Nutt, London 1912).
  • Salomon Reinach, Elizabeth Frost: Art and Magic. Kessinger, Whitefish MT 2005, ISBN 1-425-36238-9 (Abdruck aus: Salomon Reinach, Elizabeth Frost: Cults, Myths and Religions. D. Nutt, London 1912).
  • J.-H. Rosny aîné, Louis-René Nougier: La Guerre du feu. Hachette-Jeunesse, Paris 2002, ISBN 2-01-321943-1 (Le livre de poche jeunesse. Roman historique 1129).

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