Jacques Bouveresse

Jacques Bouveresse

Jacques Bouveresse (* 20. August 1940 in Épenoy) ist ein französischer Philosoph, der u. a. für seine Arbeiten zu Wittgenstein und seine Inbezugsetzungen von analytischen und kontinentalen, insbesondere diskursanalytischen und dekonstruktivistischen Methoden und Theorieansätzen bekannt wurde, wobei er oftmals Thesen französischer Philosophen wie Michel Foucault, Lyotard oder Derrida kritisierte[1], ähnlich wie etwa den Pragmatismus Richard Rortys.[2]

Inhaltsverzeichnis

Leben

Bouveresse wurde in Épenoy in Doubs, Frankreich als Sohn von Landwirten geboren, schloss seine Sekundarausbildung am Seminar von Besançon ab und bereitete sich dann in Faverney in Haute-Saône zwei Jahre auf einen Bachelor in Philosophie und scholastischer Theologie vor. Er besuchte die präliminaren literaturwissenschaftlichen Kurse am Lycée Lakanal in Sceaux und wurde 1961 an die École normale supérieure in Paris zugelassen. Seine Dissertation erfolgte ebenda unter dem Thema „Le mythe de l'intériorité. Expérience, signification et langage privé chez Wittgenstein“. Schon in den 1960er Jahren hatte Bouveresse begonnen, Texte analytischer Theoretiker zu lesen, was in seinem Umfeld mindestens so ungewöhnlich war wie seine Beschäftigung mit Robert Musil. Seiner analytischen Interessen wegen besuchte er Vorlesungen bei Jules Vuillemin und Gilles Gaston Granger - dort damals fast die einzigen, die derartige Themen verfolgten. Mit beiden verbindet ihn eine anhaltende Freundschaft. Von 1966–1969 gab Bouveresse Logikkurse an der Sorbonne, von 1969–1971 war er Dozent (Maître-Assistant) an der philosophischen Fakultät (Unités d'enseignement et de recherche ed Philosophie) der Universität Paris I, dann bis 1975 am CNRS, dann bis 1979 Lehrdozent (Maître de conférences) an der Universität Paris I, anschließend bis 1983 Professor an der Universität Genf und im Anschluss daran bis 1995 Professor an der Universität Paris I. Seit 1995 hat er den Lehrstuhl für Sprachphilosophie und Epistemologie (philosophie du langage et de la connaissance) am Collège de France inne, welcher den Lehrstühlen für Epistemologie (philosophie de la connaissance) von Jules Vuillemin (1962–1990) und der vergleichenden Épistémologie von Gilles-Gaston Granger (1986–1990) nachfolgte.

Forschungsschwerpunkte

Bouveresse befasste sich intensiv mit Ludwig Wittgenstein, Robert Musil und Karl Kraus. Thematisch befasste er sich insbesondere mit Wissenschaftstheorie, Épistémologie, Philosophie der Mathematik, Sprachphilosophie und analytischer Philosophie. Er setzte sich sehr kritisch mit der Nouvelle Philosophie auseinander.

Religionsphilosophie

Bouveresse verteidigt eine nichtreligiöse, nichtrelativistische, rationalistische religionsphilosophische Position. Dabei hat er 2007 auf Thesen von Jacques Ellul und Régis Debray geantwortet.[3] Diese hatten argumentiert: jeder Versuch, Religionen durch nichtreligiöse Ersatzformen zu überwinden, muss scheitern, weil dieser Ersatz entweder direkt religiös ist oder notwendig religiös wird. Bouveresse führt mehrere Gegenargumente ins Feld:[4]

  1. Dabei wird irrig von Faktizität (es war immer so…) auf Geltung (es muss notwendig so sein…) geschlossen.
  2. Jeder Ersatz mag mit irgendeinem „Glauben“ (in Kants Sinn rein subjektiven Für-wahr-Haltens) einhergehen, aber nicht notwendig einem religiösen Glauben. Debray bekomme diesen Unterschied nicht in den Blick wegen seiner Orientierung an Emile Durkheim, der Religion nicht auf Erkenntnis von Wahrheiten, sondern Befähigung zum Handeln bezieht. Dann können beliebige Objekte und Ideen „religiös“ oder „heilig“ heißen und dann produziert jedwede allgemeine Zielverfolgung trivialerweise soziale Kohäsion und eine religiöse Herausgehobenheit des Ziels gegenüber privaten Zielen.
  3. Nicht jede „Religion“ ist rational gleich gut gestellt. Eine „Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft“ etwa ist besser gestellt als eine, welche diese Grenzen nicht kennt. Und die republikanischen Werte brachten „weniger Opfer an Vernunft und Intellekt“ und „weniger direkte Gefahren oder schädliche Nebenwirkungen“. Gerade wenn man Durkheim folgt, müsse man Religionen an ihren „Früchten“ messen und seinem Urteil zustimmen, dass nur die „Religion der Humanität“ als Zivilreligion, die u. a. „den Schutz der Persönlichkeitsrechte sicherzustellen hat“, legitimerweise „die Religion von heute sein“ kann. Das schließe aber „eine Religion vom Typ der historischen Religionen“ aus. Zu kritisieren dagegen sei, die „Früchte“ am politischen Erfolg zu messen und eine „Gesellschaft die der Vereinigten Staaten um ihren Erfolg (zu) beneiden“, da diese, „weniger weiß und in einem … traditionellen … Sinn … religiös bleibt, um mehr zu können“.

Stattdessen wird der Ausgangsbefund für Bouveresse durch folgende Hypothesen besser erklärt:

  1. Die Ersatzreligionen waren schlicht entweder gar keine richtigen Religionen oder nicht überzeugend genug.
  2. Gegen Debrays Berufung auf Durkheim ist die „Kraft, deren Wirken das Individuum in der religiösen Erfahrung verspürt, … in Wirklichkeit … der Ausdruck der Macht der Gesellschaft über das Individuum.“
  3. Das muntere Aufleben „der ältesten Götter“ erklärt sich einerseits durch das „zunehmend verbreitete Gefühl sozialer Verlorenheit, an dem insbesondere die sozial stark benachteiligten leiden“. Darum ist die heutige Gesellschaft als Sinngebungsinstanz unfähig und keine ernsthafte Konkurrenz. Andererseits liege ein Fall „historischer Amnesie“ vor: nach Scheitern von Neuerungen wird geschichtsvergessen auf „die guten allen … Lösungen“ zurückgegriffen, „obwohl man eigentlich weiß, dass diese Versuche, gelinde gesagt, nicht sehr erfolgreich gewesen sind“.

Daraus ergibt sich eine andere Zukunftsperspektive als für Debray, der meinte, dass die europäischen „Freidenker“ anderen Ländern „provinzlerisch“ „hinterherhinken“. Vielmehr sei, wie auch Jean Bricmont schon gegen Debray geltend gemacht hat, gerade „das Fehlen einer laizistischen und antireligiösen Tradition in den USA … für die Zurückgebliebenheit dieses Landes in religiöser Hinsicht verantwortlich“ – und selbst wenn uns ein derartiger „theologische(r) Dynamismus“ zeitlich noch bevorstehen würde, handelte es sich doch schlicht um „Regression“. Umgekehrt schlägt Bouveresse mit Bertrand Russell als Konsequenz vor: eine Gesellschaft müsse lernen, über ihre Leitideen „auf eine nicht religiöse Weise nachzudenken“. Insbesondere werde die Gesellschaft erst dann als Sinngebungsinstanz konkurrenzfähig, wenn sie das gegenwärtige „Gefühl sozialer Verlorenheit“ überwindet. Bouveresse stimmt daher Bricmont zu in der Anerkennung „für die Skeptiker, Aufklärer und Wissenschaftler …, die große Risiken auf sich genommen haben, damit wir heute frei von religiösen Glaubensvorstellungen leben können.“

Werk (Auswahl)

  • Prodiges et vertiges de l'analogie. De l'abus des belles-lettres dans la pensée, 1999
  • Peut-on ne pas croire? Sur la vérité, la croyance et la foi, Marseille: Agone 2007, ISBN 2748900685

Sekundärliteratur

  • Manfred Frank: Familiarité psychique et auto-attribution épistémique. A propos du livre de Jacques Bouveresse: Le mythe de l'intériorité, in: Critique, Août-septembre 1994, Jacques Bouveresse: Parcours d'un combattant, 593-624 („fehlerhafte franz. Übersetzung durch André Combes“[5])

Einzelnachweise

  1. Vgl. z. B. Kevin Mulligan: Introduction: On the history of continental philosophy, in: Topoi 10/2 (1991), 115-120: „John Searle is one of the very few analytical philosophers to have accorded to a Continental philosopher the privilege he so frequently accords his analytic peers: that of explaining at length his disagreements. A second example of this all too rare species is Jacques Bouveresse, whose wide-ranging critical forays do for his Parisian colleagues what Benda had done for their predecessors.“
  2. So in Reading Rorty: Pragmatism and its Consequences, in: Brandom, Robert (Hg.): Rorty and his Critics, Oxford/Malden 2002, 129-145.
  3. In seinem Band Peut-on ne pas croire?, der vier ältere religionsphilosophische Aufsätze in überarbeiteter Fassung enthält.
  4. Alle Zitate nach Jacques Bouveresse: Annäherung an die Funktion Gott, in: Le Monde diplomatique vom 13. April 2007 (hier als Beilage der taz). Der Übersichtlichkeit halber werden nachstehend freiere thetische Paraphrasen gegeben. Vgl. auch: Peut-on ne pas croire?, in: Le Monde diplomatique, 2/2008, 26f, engl. Übers.: Debate: the need to believe, in: forLiberation! 1. April 2007; Interview zum Buch bei radio france - france culture
  5. Prof. Dr. Dres. h. c. Manfred Frank, Philosophisches Seminar, Schriftenverzeichnis, Universität Tübingen

Weblinks


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