Israelischer Historikerstreit

Israelischer Historikerstreit

Als „Neue Historiker“, oft auch Postzionisten genannt, werden israelische Historiker bezeichnet, deren Ziel es ist, die Geschichte Israels und des Zionismus einer Revision zu unterziehen. Besonders betroffen sind die israelische Staatsgründung von 1948 und deren Vorgeschichte. Maßgebliche Historiker dieser Richtung sind Benny Morris, Ilan Pappe, Avi Shlaim, Tom Segev und Shlomo Sand.

Inhaltsverzeichnis

Hauptargumente

Kernthese dieser Historiker ist, dass zur Errichtung des Staates Israel die Vertreibung eines Teils der arabischen Bevölkerung nötig war, was von der traditionellen israelischen Geschichtsschreibung bis dahin als freiwillige Migration gedeutet wurde. Daraus folgt nach Meinung der „Neuen Historiker“ eine (hauptsächliche) Mitverantwortung des Staates Israel für den Nahostkonflikt und das palästinensische Flüchtlingsproblem. Exemplarisch seien hier die fünf Hauptthesen der Schule aus der Sicht Avi Shlaims vorgestellt:

  1. Nach der traditionellen israelischen Geschichtsschreibung wollten die Briten die Errichtung eines jüdischen Staates verhindern. Die „Neuen Historiker“ hingegen stellen die These auf, dass die Briten die Zionisten bei der Errichtung einer jüdischen Heimstätte von Anfang an unterstützten.
  2. Die herkömmliche Geschichtsschreibung sagt, dass alle Palästinenser während des Unabhängigkeitskrieges ihre Häuser freiwillig verließen. Die „Neuen Historiker“ hingegen sagen, dass ein Teil der Flüchtlinge gewaltsam von israelischen Milizen vertrieben und deportiert wurde.
  3. Die offizielle Version lautet, dass während der Gründungsphase des Staates Israel die Machtverhältnisse zugunsten der Araber gesprochen hätten. Laut Shlaim und den Anhängern seiner Schule hingegen war Israel hinsichtlich der verfügbaren Kräfte wie auch im Hinblick auf die Bewaffnung den Arabern überlegen.
  4. Nach der herkömmlichen Geschichtsschreibung verfolgten die Araber einen aufeinander abgestimmten Plan zur Vernichtung Israels. Die „Neuen Historiker“ hingegen sagen, dass die Araber zu keinem Zeitpunkt eine einheitliche Linie verfolgt hätten.
  5. Die zionistischen Historiker vertreten die Ansicht, die Unnachgiebigkeit der Araber habe bisher einen Frieden verhindert. Shlaim und seine Kollegen vertreten das Gegenteil: Israel sei Schuld an dem festgefahrenen Friedensprozess.

Kritik

Die Thesen der „Neuen Historiker“ werden meistens sowohl von der zionistischen Geschichtsschreibung als auch von pro-arabischen Autoren, die sie der Verharmlosung beschuldigen, abgelehnt. Als einer der führenden Kritiker gilt Efraim Karsh, der ihnen vorwirft, systematische Geschichtsfälschung zu betreiben.

Kritisiert wurde, dass die „Neuen Historiker“, häufig die Schuld allein bei der israelischen Seite suchen und historische Persönlichkeiten unter heutigen moralischen Gesichtspunkten verurteilen, ohne ausreichend auf den Zeitkontext einzugehen. Verständigungsversuche von arabischer Seite – etwa 1955 durch den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser – seien lediglich taktisch motiviert gewesen und daher nicht ernst zu nehmen. Auch wurde kritisiert, sie würden von einem linksradikalen und marxistischen Standpunkt aus forschen.

Auch seitens der Politik erfahren diese Historiker Ablehnung. Die Werke der „Neuen Historiker“ „sollten nicht in der Schule gelehrt werden“, meinte etwa der ehemalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon (Haaretz Magazine, Ausgabe vom 12. August 2005, S. 15).

Kontroverse untereinander

Wie Benny Morris 2004 feststellte, wurde die Zusammenfassung der einzelnen Neuen Historiker zu einer vermeintlichen "Gruppe" eher von deren Kritikern geprägt. Tatsächlich aber habe es "nie eine fest verbundene, homogene Schule" gegeben, man habe sich teilweise kaum gekannt. In diesem Zusammenhang stellte Morris methodische Unterschiede in der Arbeitsweise der jeweiligen Historiker fest und kritisierte vor allem Ilan Pappe und Avi Shlaim. Pappes Arbeiten seien politisch motiviert und unfundiert. Shlaims "antiisraelische Analysen" seien mit denen "europäischer Neofaschisten und islamischer Dschihadisten" zu vergleichen.[1] Shlaim warf Morris wiederum „rassistische Ansichten“ (Haaretz Magazine, Ausgabe vom 12. August 2005, S. 17) vor, weil Morris seit dem Ausbruch der Zweiten Intifada die Vertreibung der Palästinenser im Jahr 1948 nunmehr rechtfertige.

Literatur

(in chronologischer Reihenfolge)

  • Shlomo Sand: Comment le peuple juif fut inventé, Fayard, 2008.
  • Tom Segev: Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates. Siedler Verlag, Berlin 2008, 416 S., 16 s.-w. Abb., ISBN 978-3-88680-889-2 [2]
  • Avi Shlaim: The War for Palestine. Rewriting the History of 1948 (Cambridge Middle East Studies). Cambridge University Press 2007.
  • Ilan Pappé: Die ethnische Säuberung Palästinas. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt 2007.[3]
  • Tom Segev: Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels. Pantheon 2005, 672 S., 40 s.-w. Abb., ISBN 978-3-570-55009-0, wurde mit dem National Jewish Book Award des Jewish Book Council ausgezeichnet
  • Efraim Karsh: Fabricating Israeli History. The New Historians (Israeli History, Politics, and Society). Taylor & Francis Ltd 2000.
  • Barbara Schäfer (Hg.): Historikerstreit in Israel. Die „neuen“ Historiker zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Campus, Frankfurt am Main/New York 2000.
  • Benny Morris: The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947-1949. Cambridge University Press 1988.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. http://de.wikipedia.org/wiki/Ilan_Pappe#cite_note-1
  2. Rezension von: »Die ersten Israelis«, SWR, 2008
  3. Stellungnahme von Manfred Lahnstein: „Ethnische Säuberung in Israel? Notwendige Polemik gegen einen, der entweder ein komischer Kauz oder ein nützlicher Idiot ist“, veröffentlicht von der Deutsch-Israelische Gesellschaft Berlin, November 2007

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