Internetkunst

Internetkunst

Netzkunst ist ein Sammelbegriff für künstlerische Arbeit in Netzen, insbesondere dem World Wide Web, und mit künstlerischen Netzwerken.

Inhaltsverzeichnis

Definitionen

Bei Netzkunst kann zwischen ‚Kunst im Netz‘ und ‚Kunst mit Netzwerken‘ unterschieden werden. Mischungen kommen vor.

  • ‚Kunst im Netz‘ gibt es als ‚Mediale Digitale Kunst‘, für die Rechnernetze oder Internetdienste wie Telnet oder Webseiten unverzichtbares Mittel der Bild-, Klang- und Texterzeugung sind. Dabei ist nicht entscheidend, ob sie durch eine oder mehrere Personen entsteht, sondern dass zentrale Aspekte und Aussagen der Werke nur in Verbindung mit einem Rechnernetz erfahrbar sind. Gegenwärtig üblich ist die Anordnung Computer- Tastatur- Bildschirm/ Projektor- Internetanbindung- Peer/Server oder ähnlich. Andere Anordnungen sind denkbar oder werden praktiziert, z. B. können Mobilfunknetze für mediale Handykunst genutzt werden.
  • ‚Kunst im Netz‘ als ‚kollektiv-virtuelles Kunstschaffen‘ betreiben telekommunikativ vernetzte Teilnehmer, die gemeinsames an einem visuellen oder auditiven Werk arbeiten. Ihre Netztechnik muss dabei nicht unbedingt digital sein. Die Teilnehmer bringen ihre Beiträge meist bewusst ein, können in digitalen Netzwerken jedoch auch freiwillig oder unfreiwillig durch Programme abgeschöpft werden. Viele Netzkünstler haben das Kriterium der Interaktivität in ihren Projekten zur Bedingung gemacht. Bei zusätzlichem Einsatz von Datenbanken und Logdateien lassen sich beliebige Zustände des Gesamtergebnisses nachverfolgen, welches durch die aktiven Besucher der jeweiligen Projektseite ständig veränderbar bleibt. Problematisch geworden ist das Angebot, Texte beizusteuern, da es gegen Missbrauch durch Spamming gesichert werden muss.
  • ‚Kunst mit Netzwerken‘ verändert oder erschafft Netzwerke. Sie kann technische Kommunikationsnetze als Mittel zum Zweck nutzen. So gründete Joseph Beuys Organisationen, die als konzeptuelle künstlerische Arbeiten entstanden und zu langlebigen Netzwerken aus Ideen, Kommunikation und Arbeitszusammenhängen wurden. Nach diesem Kunstverständnis sind die Beiträge von Tim Berners-Lee zur Entstehung des World Wide Web sowohl intelligent angewandte Netz-Wissenschaft als auch global folgenreiche künstlerische Eingriffe eines kreativen Netzwerkers, der ein bestehendes Netz visuell erweiterte. Außer einzeln oder gemeinsam auftretenden Netzwerk-Künstlern, siehe etoy, gibt es demnach Netzwerker, die von sich weisen, künstlerisch zu handeln, selbst aber bedeutende Netzwerke schaffen oder es Anderen ermöglichen.

Dagegen nutzt ‚Kunst auf dem Netz‘ das Netz wie beliebige andere Medien. Sie ist keine Netzkunst. Sie stellt Projekte und Werke analoger oder digitaler Kunst auf Webseiten vor, die im Prinzip auch ohne Netz möglich wären. Eine künstlerische Auseinandersetzung mit Netz oder Netzwerk findet dabei nicht oder nur in oberflächlicher Weise statt. Netzkunst liegt nicht vor bei: Angewandter Kunst mit Webseiten; Abbildungen von Kunstwerken auf Webseiten; Seiten für Künstlerkontakte; Verwendung des Begriffs ‚Netzkunst‘ oder ‚Netart‘ aus Statusgründen.

Begriffe

Netart als Begriff im Deutschen verwendet, kann wie oben definiert als ‚Netzkunst‘ gemeint sein, oder wie im Englischen ähnlich ‚Internetkunst‘ (siehe unten: Internet Art). Unter Künstlern ist ‚Netart‘ ein Kürzel für die entsprechende internationale Kunstszene. Als Synonym für "Netart" in Gebrauch ist net.art (vgl. net.art).

Diese Schreibweise ist ebenso eine Art Markenzeichen einer bestimmten Gruppe von Künstlern, die Webseiten und Internet seit 1994 als künstlerisches Material und Werkzeug einsetzen. Als Gruppenmitglieder werden üblicherweise genannt: Vuk Ćosić, Jodi.org, Alexei Shulgin, Olia Lialina, Heath Bunting. Die Gruppe wurde von Tilman Baumgärtel, Josephine Bosma, Hans Dieter Huber und Pit Schultz beschrieben, teils als Parodie einer Avantgardebewegung.

Netz oder Netzwerk

Der Ausdruck Vernetzung wird im Zusammenhang mit technischen Netzen und sozialen Netzwerken benutzt.

‚Netzwerk‘ ist der deutsche Begriff für ‚netzartiges Gefüge‘ (s. Wahrig 1968). Allerdings wird oft der englische Begriff ‚network‘ falsch übernommen wo ‚Netz‘ die bessere Übersetzung ist.

Im übertragenen Sinne ‚netzartige Gefüge‘ oder Netzwerke sind beispielsweise ‚Soziale Gefüge‘, ‚Beziehungsgefüge‘ oder ‚Psychologische Zusammenhänge‘ mit vielen Variablen, oder das Denken selbst. Solche Gefüge verändern und reproduzieren sich unter günstigen Bedingungen nach eigenen Regeln, die kaum linear, eher chaostheoretisch fassbar sind. ‚Netzwerk‘ kann daher in sozialwissenschaftlichen Texten, ebenso wie bei Kunst mit Netzwerken, der treffende Begriff sein.

Die unterschiedliche Bedeutung von Netz und Netzwerk erfordert bei medientheoretischen Überlegungen, zwischen Netzkunst und künstlerischen Netzwerken zu unterscheiden. Im sprachlichen Alltag geschieht das nur bei Bedarf.

Netz und Netzwerk gehen dort ineinander über, wo sich komplexe Beziehungen zwischen Gegenständen und Menschen gleichzeitig als bewegliches, drei- und mehrdimensionales Netz, oder als soziales Netzwerk beschreiben lassen, das technische Hilfsmittel einsetzt. Da beide Blickwinkel zudem in Beziehung zu theoretischen Netzwerk- und Netzbegriffen gesetzt werden, öffnet sich ein weites Feld, in dem kreative Varianten künstlerischer Arbeit durch sprachliche und theoretische Missverständnisse begünstigt werden. Die Inflation der Begriffe ‚Netz‘ und ‚Netzwerk‘ legt nahe, zu prüfen, ob abgeleitete Ausdrücke sinnvoll sind:

Netzparadigma‘ meint bei ‘Kunst im Netz‘ ein Vorstellungsmuster, wie das Netz technisch oder organisatorisch beschaffen ist oder sein könnte, um damit Netzkunst herstellen zu können. Der vermeintlich ähnliche Begriff ‚Netzwerkparadigma‘ bei ‚Kunst mit Netzwerken‘ ist sinnvoll anwendbar nur mit durchdachtem medientheoretischen Hintergrund (wie z. B. in Manuel Castells „Das Informationszeitalter“).

Kunst im Netz und mit dem Netzwerk

Wenn Künstler das Internet benutzen, um darin ein Bild zu zeigen, dass sie von einem Programm aus ihren Kommunikationsdaten erzeugen lassen, benutzen sie ein technisches Kommunikations-Netz als Werkzeug zur Herstellung eines künstlerischen Produkts. Es geht um ein Netz und ein Produkt, nicht um ein Netzwerk.

Wenn Künstler auf Grundlage technischer Netze, beispielsweise der Anbieter von Post- und Telekommunikationsdienste ein Netzwerk als Kunstwerk schaffen, wie etwa Mail Art, dann geht es um ein soziales, kommunikatives und künstlerisches Netzwerk, das sich in einem kreativen Prozess nach eigenen Gesetzen entwickelt.

Netzkunst ist oft gleichzeitig an Netze und ein Netzwerk gebunden. Wenn Teilnehmer telematischer Netze durch ständige kommunikative Prozesse Netzwerke kreieren, beispielsweise eine ‚Online-Community‘, können sie darin zu Netzwerkern werden. Sie verändern die Netzwerke und bewegen sich darin. Dabei werden beliebige technische Netze genutzt, oder es wird auf einer bestimmten Netztechnik aufgebaut.

Künstlerische Netzwerke sind in der Mehrheit jedoch keine Netzkunst: Sie müssen als Kunstwerk angelegt werden, um mehr zu sein als Vermarktungsvehikel, Vorteilstauschbörsen oder Adressvernetzung.

Netzkunst ist durch sozialwissenschaftliche Theorien, soziale Utopien und literarische Vorbilder inspiriert. In der Anfangszeit war die Veränderbarkeit digitaler Netze für künstlerische Netzwerker leicht erfahrbar, da sie Macher und Nutzer in Personalunion waren. Künstlerische Netzwerke können jedoch kommerziellen Online Communities ähneln, in denen Nutzer Dienste konsumieren, die oft sogar durch Nutzer erbracht werden müssen, während die Konzeption, Verwaltung und Steuerung den Interessen der Macher unterworfen bleibt.

Sparten von Netzkunst:

  • 'Mail Art' oder ‚Postkunst‘ benutzt alle verfügbaren Netze für ihr Netzwerk. Das in den 1960er Jahren entstandene, weltweit zugängliche Postsystem, in das alle öffentlichen Einrichtungen der Telekommunikation integriert waren, wurde in ursprünglich gesellschaftsverändernder Absicht einerseits zum künstlerischen Gegenstand, andererseits zum Mittel für künstlerische Prozesse in darauf aufbauenden Netzwerken, die Netzwerk-Kunst vielfältiger Art hervorbrachten. So gab es schon früh selbsternannte ‚Mail Art Postboten‘ und -Kuriere als eine Art ‚Mail Art Performer‘, die Postkunst auslieferten. Heute gibt es Mail Art z. B. auch als ‚E-Mail Art‘. Als anspruchsvolle Parallele oder Sonderform gilt ‚Correspondence Art‘ (Kunst der Korrespondenz). ‚Korrespondenz‘ bezieht sich dabei gleichzeitig, im Sinne von Pop Art, trivial auf die gegenständliche Korrespondenz aber im Sinne des verborgenen Themas der ‚New York School of Correspondance‘ Ray Johnsons, auch auf theoretische oder ‚spirituelle (Nicht-)Korrespondenz‘.
  • 'Internet Art’ ist im anglo-amerikanischen Sprachraum ein selbstverständlich verwendeter Begriff. Ungefähr ab 1982 wird die globale Vernetzung von Rechnernetzen zunehmend als ‚Internet‘ bezeichnet. Die deutsche Fachliteratur bevorzugt jedoch die Bezeichnung ‚Netzkunst‘, weil ‚Internetkunst‘ oft zu banal als ‚Kunst, die im World Wide Web zu sehen ist‘ verstanden wird.
  • ‚Web Art‘ ist Digitale Netzkunst, die als künstlerische Arbeit mit Webseiten über deren reine Gestaltung hinausweist, beispielsweise indem sie die Bedingungen für Wahrnehmung und visuelle Manipulation im Internet thematisiert. Web Art hat künstlerisch immer mit Digitaler Netzkunst zu tun, aber nur von Fall zu Fall mit künstlerischen Netzwerken. Sie kann oberflächlichem kommerziellem ‚Webdesign‘ nahe stehen.

Stichworte

Analog und digital

Marshall McLuhans Satz, „The Medium is the Message“, ist für Netzkunst und ihre Interpretation bedeutend. Sogar wenn ein Netzwerk scheinbar unabhängig von der Art der eingesetzten technischen Netze und Medientechnologien funktioniert, sind Form und Inhalt jeder Mitteilung und Darstellung von den technischen Grundlagen des Mediums beeinflusst und verändern dadurch die Wirklichkeit. Ebenso wie der Übergang von Buchdruck zu elektronischen Netzen die Welt veränderte, wirkt sich auch der Übergang zu digitaler Informationsverarbeitung aus, denn sie beruht auf einem charakteristischen technologieabhängigen Verschlüsselungs- und Entschlüsselungsvorgang, dessen Beherrschung weitreichende gesellschaftliche Folgen hat.

Netzkunst ist bereits durch teilnehmende Interaktion in analogen telematischen Netzen erfahrbar. Für digitale Netzkunst benötigt der Teilnehmer oder Netzwerker jedoch Geräte, Displays, Webseiten und andere technische Mittel. Viele Erscheinungen, die erst mit dem Webseiten-Internet (WWW – World Wide Web) bekannt wurden, sind jedoch in analogen telematischen Netzen bereits zu beobachten. Ein einfaches Netz von Teilnehmern, die sich Karten senden, kann durchaus ein soziales Netzwerk mit einem virtuellen Raum erzeugen, in dem virtuelle Persönlichkeiten geschaffen werden können.

Geschieht die künstlerische Arbeit oder der künstlerische Prozess in Auseinandersetzung mit digitalen Netzen und einem entsprechenden Netzparadigma, so handelt es sich um ‚Digitale Netzkunst‘ im engeren Sinne. Netzkunst in Netzwerken dagegen, ist nicht immer digital, selbst wenn sie digitale Medien nutzt, da sie sich auf soziale oder abstrakte Bedeutungen bezieht.

Gesellschaftsveränderung

Netzkunst ist von Anfang an ein mit Vorstellungen von Gesellschaftsveränderung verbundener Teil der Internetkultur (siehe Kommunikationsguerilla, Medienguerilla) und von Begeisterung für soziale und technische Möglichkeiten geprägt (siehe „Telematische Gesellschaft“ bei Vilém Flusser). Kritische Versuchsanordnungen in Bereichen wie Wahrnehmung, Medien und Gesellschaft sind für Netzkunst nicht ungewöhnlich. Beispielsweise kann es Netzkunst sein, bestimmte soziale oder kulturelle Traditionen des Internet bei Projekten außerhalb der technischen Struktur des Internet zu praktizieren.

Netzkünstler interessiert die Dekonstruktion ästhetischer, digitaler und meist auch gesellschaftlicher Codes. Netzwerke benötigen zwar die positive mentale Teilhabe der Teilnehmer, unter Umständen können störende und unbequeme Netzwerkstrategien künstlerisch aber auch konsequent sein.

Netzkunst kann sich auf eher technische und ästhetische Aspekte beziehen, aber in der internationalen Szene der Netzkünstler interessiert auch der „kreative Netz-Hack“ als Akt des politischen und ästhetischen Widerstands. Für die Künstler ist es nicht ungewöhnlich, Netzaktivist und 'Hacktivist' zu sein.[1] Die Präsentation eines Computervirus auf der 49. Biennale Venedig war keine kriminelle Tat, sondern das Werk von Netzwerkkünstlern. Künstlerische Aktivitäten dieser Art geraten immer wieder in Gefahr, missinterpretiert und kriminalisiert zu werden.

Frühe Netzkunst war Teil einer Bewegung für den freien Austausch von Information, Software und Ideen im Angesicht der Kommerzialisierung des Netzes.[2] Kunst und elektronischer ziviler Ungehorsam (electronic civil disobedience und hacktivism) überschnitten sich.[3] Die egozentrische Kunst-Propaganda des Neoismus gehörte ebenso wie die Verunsicherung der Wahrnehmung (Beispiel JODI) zum verantwortlichen Einsatz destruktiver ästhetischer, digitaler oder sozialer Codes im Rahmen des zivilen Ungehorsams und der Freiheit der Kunst.

Die jeweils aktuellen Formen von Netzkunst stehen in Zusammenhang mit Veränderungen in den Bereichen ‚Telekommunikation‘, ‚gesellschaftliche Interaktion‘ und ‚Wahrnehmung in der Mediengesellschaft‘. Netzkunst kann diese Veränderungen reflektieren, daran beteiligt sein, und manchmal kommende Entwicklungen vorwegnehmen.

Virtuelle Persönlichkeiten

Schon im Mail Art Netzwerk wurden virtuelle Persönlichkeiten durch Netzkommunikation erzeugt. Besonders in den Propaganda-Aktionen des Neoismus sind virtuelle Persönlichkeiten, an denen jeder teilnehmen kann, als offene Konzepte realisiert worden. Eine solche Persönlichkeit kann aus einem Netzwerk der an ihr Beteiligten Netzwerker entstehen, als künstliche Persönlichkeit in Erscheinung treten, ein durch die Macher nicht mehr steuerbares Eigenleben entwickeln und sogar kommunizieren. So führt heute etwa die Eingabe ‚Karen Eliot‘ in eine Suchmaschine in ein Dickicht neoistischer Propaganda, in dem mit etwas Glück immer wieder jemand zu finden ist, der unter dem Namen Karen Eliot antwortet oder fragt. Karen Eliot wurde in analogen Netzen und in Mailboxen propagiert und setzt sich im Internet fort. Karen Eliot lebt von den neuen Bedürfnissen und Möglichkeiten, mit ihr zu kommunizieren, ihre verstreute Identität anzunehmen, sie für sich arbeiten zu lassen und sich durch sie überall vertreten zu wähnen. So wurde die im Internet gebräuchliche Idee des Avatars als künstliche Persönlichkeit bereits in analogen künstlerischen Netzen vorweggenommen.

Rechtliche Konsequenzen

Auf Grund ihres explizit unkommerziellen Charakters bewegen sich Netzkunst-Projekte im rechtsfreien Raum. Niemand hat z. B. ein persönliches Anrecht am Produkt, wenn es zu verwertbaren Ergebnissen in Projekten kommt, welche literarische, musikalische oder grafische Werke zum Ziel haben. Sowohl der Initiator als auch der Teilnehmer an einem solchen Projekt muss mit dieser Tatsache leben: alle Ergebnisse sind gemeinfrei. Selbst beim Vorhandensein von Logfiles ließe sich nicht mehr rekonstruieren, wem welche IP-Adressen nachträglich zuzuordnen wären.

Völlig ungelöst ist das Problem der Vergänglichkeit virtueller Netzkunstobjekte, deren Nachweisbarkeit unmittelbar abhängig von der Verfügbarkeit im Internet ist, letztlich also von der Wartung der Projekte durch die Netzkünstler, die direkten (und im Idealfall auch administrativen) Zugriff auf die anbietenden Server haben. Eine nachträgliche Rekonstruktion ist in der Regel unmöglich.

Geschichte

Rezeption und Globalisierung

‚Kunst mit dem Netz‘ war kunsthistorisch nicht leicht zu erfassen: Nach Verwirklichung eines prozessualen Kunstwerks in kommunikativen Prozessen, ist es nur noch aus Nebenprodukten, aus Dokumenten der gesellschaftlichen Rezeption und aus Künstlerarchiven rekonstruierbar. Deshalb erfolgte die kunsthistorische Aufarbeitung nach heutigen Maßstäben verspätet. Ab wann und wo der vielschichtige Begriff „Netzkunst“ in Kunsttheorie und Kunstgeschichte sinnvoll eingesetzt wird, bleibt daher diskussionswürdig.

Spätestens seit den frühen 1960er Jahren sind bedeutende Entwicklungen wie Mailart, Happening und Fluxus und Konzeptkunst festzustellen, die konzeptuell oder real, lokal oder global, vernetzt kommunizierende und agierende Teilnehmer und Netzwerker voraussetzen. Zu den ersten Initiatoren solch künstlerischer Netzwerke gehören Künstler wie Ray Johnson, der seine Kommunikationszusammenhänge für teils reale, teils ‚virtuelle‘ Ausstellungen nutzte; Yves Klein and Ben Vautier, die ‚Post-Skandale‘ inszenierten; und Ken Friedman, dessen Ausstellungsprojekt ‚[Omaha Flow Systems]‘ (1972) den Charakter eines Kommunikations- und Ereignisnetzwerkes hatte. Robert Filliou prägte 1968 mit George Brecht den Begriff ’Fete Permanente'/'Eternal Network’ ('Die Ständige Feier'/'Das Ewige Netzwerk'), der für die damalige kulturelle Situation bezeichnend, für die Idee und Entwicklung eines nichtmilitärischen Internet erwähnenswert und für künstlerische Netzwerker grundlegend ist. Mindestens ab diesem Zeitpunkt ist ‚Kunst mit dem Netz‘ kunsthistorisch wahrnehmbar.

Bereits diese frühen Formen von Netzkunst haben nicht nur analoge Netze, wie die Briefpost, sondern auch elektronische Netze einbezogen, z. B. Telefon- und Fax. Netzkunst wurde weit vor Entstehung des World Wide Web der Webseiten, in Zusammenhang mit der besonders für die digitale Bild- und Tonerzeugung bedeutenden Digitalen Kunst zu Digitaler Netzkunst; zunächst über vernetzte Rechner an einzelnen Forschungseinrichtungen, dann über das beginnende Internet. Bei den ersten telematischen Kunstprojekten (s. Telematik), die auf digitalen Netzen basierten, sind anfangs nur kurzzeitig Netzwerke als Kunstwerke entstanden. In den 1980er Jahren folgte die künstlerische Nutzung von Mailbox-Systemen (vgl. Tilman Baumgärtel ‚Immaterialien‘ am 26. Juni 1997 in Telepolis). Es entstanden komplexere, auf digitaler Netztechnik basierende Netzwerke, die unter anderem politisch bedeutend wurden, wie das ‚Zamir‘ Netzwerk (siehe FoeBuD). Webseiten wurden etwas später, vorwiegend durch neue Akteure, als visuell und akustisch, aber auch als sozial und politisch einsetzbares Medium entdeckt. Dabei kann als einer der wichtigsten Bezugspunkte bis etwa 2000 The Thing genannt werden (Initiator und Betreiber: Wolfgang Staehle), und als frühe Webart- und Netart-KünstlerInnen Olia Lialina und Heath Bunting (irational.org).

Deutschsprachiger Raum

Vorläufer für den Beginn von Netzkunst sind u. a.: Der Postkartenaustausch der Künstler der Brücke bis 1913; in Beziehung auf Kommunikationstheorie und Ästhetik auch Max Bense und die Stuttgarter Gruppe/Schule ab Beginn der 60er Jahre. Die Organisationen von Joseph Beuys (als Kunst mit Netzwerken) oder Robert Adrian X mit ARTEX (als digitale Netzkunst) machten Netze schon bewusst für künstlerische Netzwerke dienstbar.

Netzkunst, oft als Mail Art, war im geteilten Deutschland, sofern grenzüberschreitend, eine Auseinandersetzung mit Postzensur, außerdem ein Besuchsnetz, das Künstler und Netzwerker aus vielen Ländern gerade wegen der Ausreisebeschränkungen der DDR dort zusammenbrachte. Es gab künstlerische Netzwerker, die als Kuriere zwischen Ost und West die Grenzen der Machtblöcke überschritten um Mailart zu transportieren. So konnten trotz Behinderung durch „staatliche Organe“ sogar zwischen Mail Art Netzwerkern und Akteuren des Samiszdat einzelne Verbindungen hergestellt werden.

Ein seit 1993–1994 bekanntes Beispiel für deutschsprachige digitale Netzkunst ist unter [sero.org/handshake/] dokumentiert und teilweise benutzbar.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Brendan Jackson: Brendan Jackson & Natalie Bookchin. In: CRUMB Interviews. : „On the other hand there are hacktivists and net activists who do not see themselves as artists per se, but I would argue that their practices can often be seen as a form of art (...).“. Abgerufen am 04.11.08. (englisch)
  2. Brendan Jackson: Brendan Jackson & Natalie Bookchin. In: CRUMB Interviews. : „Early net art tended to have an activist bent to it, in part because it emerged in the context of an on-line scene active in the free distribution of information, software and ideas in the face of the imminent commercializing and 'malling' of the net …“. Abgerufen am 04.11.08. (englisch)
  3. Electronic Civil Disobedience and the World Wide Web of Hacktivism: A Mapping of Extraparliamentarian Direct Action Net Politics

Literatur

  • Tilman Baumgärtel: [net.art] Materialien zur Netzkunst. Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 1999, ISBN 3-933096-17-0.
  • Tilman Baumgärtel: net.art 2.0. Neue Materialien zur Netzkunst. New Materials on art on the internet. (englisch/deutsch). Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 1999, ISBN 3-933096-66-9.
  • Manuel Castells: Das Informationszeitalter. Leske und Buderich, Leverkusen 2001, ISBN 3-8252-8262-7.
  • Caterina Davinio: Tecno-Poesia e realtà virtuali (Techno-Poetry and Virtual Realities). (italienisch/englisch), Sometti, Mantova 2002, ISBN 88-88091-85-8.
  • Rachel Greene: Internet Art. Modern and Contemporary Art (World of Art).Thames & Hudson, London 2004, ISBN 0-500-20376-8.
  • Nina Kahnwald: Netzkunst als Medienkritik. Neue Strategien der Inszenierung von Informationsstrukturen. Kopäd, München 2006, ISBN 3-938028-70-X.
  • Verena Kuni: netz.kunst. Jahrbuch des Instituts für moderne Kunst '98/'99. Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 1999, ISBN 3-933096-01-4.
  • Christiane Paul: Digital Art. Thames & Hudson, London 2003, ISBN 0-500-20367-9.
  • Cornelia Sollfrank (Hrsg.): 'net.art generator. Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2004, ISBN 3-936711-30-5.
  • Mark Tribe, Reena Jana: New Media Art. Köln 2006.
  • Hans-Georg Türstig: Netzkunst als Kunstnetz. Kooperationen der Kreativität im Internet. Roderer, Regensburg 2003.
  • Matthias Weiß: Das Gütersloher Netzkunstbuch. Stiftung Künstlerdorf Schöppingen, Schöppingen 2004, ISBN 3-937828-07-9.

Online Literatur und Materialien

Weblinks


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