Institutionelle Diskriminierung

Institutionelle Diskriminierung

Als Institutionelle Diskriminierung werden in der politischen Theorie gesellschaftliche Phänomene bezeichnet, denen zugleich diskriminierender und institutioneller Charakter zugeschrieben wird. Sie wird verstanden als Ergebnis von organisatorischem Handeln in einem Netzwerk gesellschaftlicher Institutionen. Der potentielle Ort instititutioneller Diskriminierung wird in den formalen Rechten, den organisatorischen Strukturen, Programmen und Routinen von Institutionen ausgemacht.[1]

Die institutionelle Diskriminierung ist von anderen Formen der Diskriminierung – etwa der strukturellen Diskriminierung – zu unterscheiden.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

Institutioneller Rassismus

Historisch geht der Begriff der institutionellen Diskriminierung auf die Diskussion zum institutionellen Rassismus in den USA und Großbritannien zurück.

Der Begriff wurde erstmals von Stokely Carmichael und Charles Hamilton 1967 eingeführt. Den Black Power-Aktivisten ging es darum zu beschreiben, wie die Interessen und Einstellungen der ‚weißen’ Mehrheit in den Institutionen inkorporiert sei.[1] Da Rassismus eine Form von Diskriminierung ist, können die Debatten um institutionellen Rassismus im Rahmen des Macpherson-Reports auch hilfreich für eine Neudefinition institutioneller Diskriminierung sein. Anlass des Reportes, der als The Stephen-Lawrence-Inquiry (Macpherson 1999) veröffentlicht wurde, war die Ermordung von Stephen Lawrence, einem ‚schwarzen‘ jungen Mann, in London durch mehreren ‚weiße‘ junge Männer an einer Bushaltestelle. Die Täter wurden nicht gefasst und es gab massive Proteste gegen die nachlässigen Ermittlungstätigkeiten der britischen Polizei. Vom Parlament wurde eine Untersuchung der Ermittlungstätigkeiten angeordnet und im Februar 1999 wurde der Macpherson-Report dem Parlament vorgelegt (vgl. Bünger 2002, S. 239 ff.).

Im Macpherson-Report wird institutioneller Rassismus definiert als das „kollektive Versagen einer Organisation, angemessene und professionelle Dienstleistungen für Personen wegen ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft anzubieten. Dies kann in Entwicklungen gesehen oder festgestellt werden. Abwertende Einstellungen und Handlungsweisen tragen zur Diskriminierung und der Benachteiligung Angehöriger ethnischer Minderheiten bei. Dies erfolgt unwissentlich durch Vorurteile, Ignoranz, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotypisierungen.“ [Macpherson-Report 1999] Beachtenswert an dieser Definition ist, dass nicht nur offen diskriminierende/rassistische Handlungen als solche benannt werden, sondern das gemeinschaftliche Handeln von Institutionsmitarbeitenden gegenüber ethnischen Minderheiten in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird. Gibt es generell benachteiligende und unprofessionelle Handlungspraxen gegenüber Minderheitenangehörigen, handelt es sich nach dieser Definition um institutionellen Rassismus. In einigen Punkten ist Macphersons Definition ergänzungsbedürftig: Diskriminierungen können nicht nur unbeabsichtigt und unbewusst, sondern auch durch bewusste, wissentliche Ausgrenzungen, Vorurteile und Ignoranz erfolgen. Das kollektive Versagen erfolgt nicht WEGEN der ‚Hautfarbe‘, ‚Kultur‘ oder ‚ethnischen Herkunft‘, sondern aufgrund der Konstruktion und Abwertung von Gruppen und den damit verbundenen Handlungen.

Nicht das Nicht-Beachten der ‚Hautfarbe‘ kann das Ziel von Antidiskriminierung sein, sondern eine Veränderung der Einteilungsmuster, Zuschreibungen und Wertungen, die auf bestimmte Hautfarben und Physiognomien zielen sowie die damit verbundenen Ausgrenzungshandlungen und -mechanismen. Außerdem können Diskriminierungen nicht nur durch das unprofessionelle Handeln von Mitarbeitenden erfolgen, sondern auch durch die professionelle Umsetzung von diskriminierenden Gesetzen, Erlassen, Verordnungen und (Zugangs-)Regeln. Unklar bleibt auch, unter welchen Kriterien von Institutionenmitarbeitenden mehrfach ausgeübte ausgrenzende Handlungen gegenüber ethnisierten oder rassialisierten Personen als kollektiv zu bezeichnen sind.

Institutionelle Diskriminierung

Unter diesen Gesichtspunkten schlägt Claus Melter eine neue Definition von institutioneller Diskriminierung vor: Institutionelle Diskriminierung „ist von Institutionen/Organisationen (durch Gesetze, Erlasse, Verordnungen, Zugangsregeln, Arbeitsweisen, Verfahrensregelungen oder Prozessabläufe) oder durch systematisch von Mitarbeitenden der Institutionen/Organisationen ausgeübtes oder zugelassenes ausgrenzendes, benachteiligendes oder unangemessenes und somit unprofessionelles Handeln“ (Melter 2006, S. 27) gegenüber als nicht-zugehörig oder als normabweichend definierten Personen oder Gruppen.

Beispiele

Institutionelle Diskriminierung kann etwa im Bildungs- und Ausbildungssektor, dem Arbeitsmarkt, der Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik, dem Gesundheitswesen und der Polizei stattfinden.

Bei der frühen Aufteilung im deutschen Schulsystem spricht Lisa Britz von Institutioneller Diskriminierung. Dieser Begriff erkläre beispielsweise das schlechtere Abschneiden von Schülern aus Migrationfamilien nicht als absichtliche Benachteiligung durch das Lehrpersonal. Vielmehr werde damit umschrieben, dass die Schule als Organisation die Möglichkeit habe, ihre Schüler entlang des Kriteriums "ethnische Zugehörigkeit" zu unterscheiden. Aufgrund der mehrgliedrigen Struktur des Bildungssystems werde den Lehrpersonen Entscheidungen nahe gelegt, die objektiv diskriminierend wirken, obwohl sie von guten Absichten getragen werden.[2]

Der staatliche Zwang, von Geburtsdokumenten an das Geschlecht als männlich oder weiblich festzulegen, diskriminiert die Minderheit der Intersexuellen – mit oft ernsten Folgen.

Ökonomische Diskriminierung

Ein wesentlicher Bestandteil der Institutionellen Diskriminierung ist die Ökonomische Diskriminierung. Individuen gelten dann als ökonomisch diskriminiert, "wenn sie bei wirtschaftlichen Transaktionen mit Gegenleistungen konfrontiert werden, welche sich an persönlichen Merkmalen bemessen, die nicht in direktem Zusammenhang mit der Leistung stehen". Eine Ökonomische Diskriminierung findet insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, dem Kreditmarkt, dem Versicherungsmarkt und dem Wohnungsmarkt statt und äußert sich häufig in eine Lohn- und Einkommensdiskriminierung.[3]

Intersektionelle Unterschiede

Laut Cátia Candeias zeigten sich Unterschiede, wenn die Überschneidungen (Fachbegriff: Intersektionen) von Rassismus und Geschlecht betrachte. Männer erführen eher eine Institutionalisierte Diskriminierung, Frauen eher eine interpersonelle Diskriminierung.[4]

Rolle des Staates

In vielen Ländern gilt der Schutz vor ungerechtfertigter Diskriminierung als wichtige Aufgabe des Staates. Gesetze sollen helfen, solche Diskriminierungen zu verhindern.

Europarechtliche Vorgaben sollen vor allem im Bereich des Arbeitsrechts weitgehenden Schutz vor Diskriminierung gewährleisten. Dies betrifft etwa Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts und der Behinderung. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Mindestanforderungen, die aus diesen Bestimmungen erwachsen, durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in geltendes deutsches Recht integriert.

In zahlreichen Staaten wird eine systematische Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen staatlich organisiert und mittels der Gesetzgebung festgeschrieben. In diesem Falle erhofft sich eine Gesellschaftsgruppe Vorteile von einer solchen Diskriminierung, oder sie nimmt die Nachteile für die Minderheiten billigend in Kauf. Die Diskriminierung kann aktiv geschehen z. B.:

Forschungsmethoden

Residualmethode

Eine übliche und auch juristisch anerkannte Methode der Diskriminierungsmessung ist die Residualmethode, auch bekannt als Methode der Komponentenzerlegung. Mit der Residualmethode werden diskriminierende von nicht-diskriminierenden Ursachen von Ungleichheit unterschieden. So wird nicht einfach nur der Verdienstunterschied zwischen Männern und Frauen (Gender Wage Gap) betrachtet, sondern in Beziehung gesetzt mit der Ausbildung. Das heißt, der Verdienstunterschied, der mit einer unterschiedlichen Ausstattung mit Humankapital begründbar ist, wird von dem gesamten Verdientsunterschied "abgezogen". Dieser nicht-begründbare Rest ist das Residuum, welches Diskriminierung darstellt. Eine Kritik an dieser Methode setzt daran an, dass bereits die begründbare Ungleichbehandlung auf Diskriminierung beruht, in diesem Beispiel also die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Erlangung von Humankapital auf Diskriminierung beruhen könne. Mit der Residualmethode kann also nur ein Mindestmaß an Diskriminierung gemessen werden.[5]

Institutionelle Ethnographie

Dorothy Smith versucht mit dem Ansatz der „Institutionellen Ethnographie“ geschlechtsspezifische Diskriminierung zu analysieren.[6]

Institutioneller Rassismus in der BRD

  • Vereinte Nationen zum institutionellen Rassismus in der BRD

2009 besuchte der Sonderberichterstatter zu Rassismus der United Nations Githu Muigai Deutschland und bemängelte bei Politik und Gesellschaft Defizite im Kampf gegen den Alltagsrassismus. So werde in Deutschland immer noch Rassismus mit Rechtsextremismus gleichgesetzt und damit nicht ausreichend wahrgenommen. Hier seien ähnliche Mängel wirksam wie beim institutionellen Rassismus in Deutschland: "Polizei, Behörden und Gerichte müssen noch einiges tun". [7]

Literatur

  • Peter A. Berger, Heike Kahlert (Hrsg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Weinheim und München 2005, ISBN 3-7799-1583-9.
  • M.B. Brewer, N. Miller (Hrsg.): Beyond the contact hypothesis: Theoretical perspectives on desegregation. In: Groups in contact: The psychology of desegregation. Academic Press, New York 1984.
  • Iris Bünger: Der Macpherson-Report. Grundlage zur Entwicklung von Instrumenten gegen den institutionellen Rassismus in Großbritannien. In: Margarete Jäger, Heiko Kauffmann (Hrsg.): Leben unter Vorbehalt. Institutioneller Rassismus in Deutschland. Unrast, Duisburg 2002, S. 239–254.
  • Mechtild Gomolla, Frank-Olaf Radtke: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Leske + Budrich, Opladen 2002, ISBN 3-8100-1987-9.
  • Mechthild Gomolla: Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Strategien gegen Diskriminierung in England, Deutschland und in der Schweiz. Waxmann, Münster 2005, ISBN 3-8309-1520-9.
  • Ulrike Hormel, Albert Scherr: Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Strategien zur Überwindung struktureller, institutioneller und interaktioneller Diskriminierung. 2. Auflage. VS, Wiesbaden 2004. Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin 2004.
  • Ulrike Hormel, Albert Scherr: Diskriminierung, Grundlagen und Forschungsergebnisse. VS, Wiesbaden 2010.
  • Claus Melter: Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe. Eine qualitative Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit. Waxmann, Münster u.a. 2006.
  • Dorothy Smith: Institutionell Ethnographie. Eine feministische Forschungsstrategie. In: Dorothy Smith: Der aktive Text. Eine Soziologie für Frauen. Hamburg 1998, S. 98–126.
  • Heike Weinbach: Social Justice statt Kultur der Kälte. Alternativen zur Diskriminierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Dietz, Berlin 2006, ISBN 3-320-02911-8.
  • Christian Müller: Rechtsprobleme eines Anti-Diskriminierungsgesetzes. Unter Berücksichtigung bereits bestehender nationaler und internationaler Normen. Kovac, Hamburg 2003, ISBN 3830011210.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Mechthild Gomolla: Institiutionelle Diskriminierung im Bildungs- und Erziehungssystem [1]
  2. Lisa Britz: Bildung und Integration, bpb: Migration: Integration und Partizipation[2]
  3. Renate Schubert: Zur ökonomischen Diskriminierung von Frauen, in: Gerd Grözinger, Reante Schubert, Jürgen Backhaus: Jenseits von Diskriminierung. Zu den Bedingungen weiblicher Arbeit in Beruf und Familie, Marburg 1993, S. 22ff
  4. Cátia Candeias: Institutionelle Diskriminierung: Die rechtliche Stellung der Migrantinnen[3]
  5. Renate Schubert: Zur ökonomischen Diskriminierung von Frauen, in: Gerd Grözinger, Reante Schubert, Jürgen Backhaus: Jenseits von Diskriminierung. Zu den Bedingungen weiblicher Arbeit in Beruf und Familie, Marburg 1993, S. 26ff
  6. Dorothy Smith: Institutionell Ethnographie. Eine feministische Forschungsstrategie. In: Dorothy Smith: Der aktive Text. Eine Soziologie für Frauen. Hamburg 1998, S. 98–126
  7. UN kritisiert Alltagsrassismus. Von Sabine am Orde. taz 1. Juli 2009 [4]

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