Ideen von 1914

Ideen von 1914

Der Begriff Ideen von 1914 beschreibt eine Stimmungslage unter national gesinnten Intellektuellen in Deutschland zur Zeit des Ersten Weltkrieges, die publizistisch auf den Ausbruch des Krieges reagierten (Augusterlebnis). Die Ideen von 1914 umfassten verschiedene Vorstellungen über die politische Neugestaltung Deutschlands, die auf eine Aufhebung der Ideale der Französischen Revolution gerichtet waren. Der Erste Weltkrieg wirkte in Deutschland wie auch in anderen beteiligten Ländern als Katalysator nationalpolitischer Sinndeutungen und Zukunftsentwürfe. Die Ideen von 1914 befürworteten antiliberale, antidemokratische und korporatistische Konzeptionen von Staat und Volk, oft ohne diese Stimmungslagen zu konkretisieren.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte, Umfang und Wirkung

In den Ideen von 1914 fand das im 19. und 20. Jahrhunderte gepflegte Selbstverständnis von Deutschen, eine Sonderkultur darzustellen, als ideologische Fundierung der deutschen Kriegsanstrengungen einen Höhepunkt.

Die „Ideen von 1914“ waren eine Ausformulierung einer nationalistisch-romantischen Ideologie durch eine intellektuelle, aber auch durch eine jugendbewegte Elite, die sich auf Eigenheiten des „deutschen Wesens“ in Kultur, Gesellschaft und Politik berief. Dazu gehörten Gegensatzpaare wie „Kultur“ und „Zivilisation“ sowie „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“.

Während die anderen europäischen Staaten Zivilisationen verkörperten, stehe Deutschland für eine Kultur, schöpferisch und tiefsinnig, zugleich bieder und tatkräftig. Zivilisation sei etwas „Welsches“ (Romanisches), steril und oberflächlich, zugleich tückisch und zungenfertig. Dem gleichheitsbetonenden Ideal einer Gesellschaft wurde ein organisches Konzept der Gemeinschaft entgegengehalten. Im Zeichen der innenpolitischen Burgfriedenspolitik wurde versucht, alle Bevölkerungsteile in eine nationale Einheitsfront zu integrieren und den durch den Krieg geschaffenen Zusammenhalt (Kriegssozialismus) für eine dauerhafte Solidarisierung innerhalb der Volksgemeinschaft zu nutzen.

Die deutschen Ideen von 1914 richteten sich propagandistisch gegen englische „Krämerseelen“, „gallische Oberflächlichkeit“ und „slawischen Despotismus“ und knüpften an die „Phobien“ der Vorkriegszeit an: Englandhass und Antisemitismus, an Germanisierungsdünkel und romantisierende Deutschtümelei. Die „Schützengrabengemeinschaft“ wurde zur Pseudolösung für Probleme der deutschen Klassengesellschaft.[1]

Prägung des Begriffs

Die Ideen von 1914 wurden schon während der ersten Kriegstage von Historikern, Philosophen, Kulturschaffenden usw. geprägt. Es sollte eine Sinnstiftung des Krieges stattfinden, eine Metaphysik mit dem „Deutschtum“ als Kern wurde geschaffen, die sich explizit gegen den englischen Liberalismus und die französische Demokratie wandte. Der Prozess der Prägung nahm dabei einerseits Elemente der Demokratiekritik des 19. Jahrhunderts, andererseits auch aktuelle Diskussionen auf.[2]

Steffen Bruendel benennt als „Erfinder“ der Ideen von 1914 den Nationalökonomen und Soziologen Johann Plenge. Durch ihre Polyvalenz boten die Ideen von 1914 Anschlussmöglichkeiten nach rechts wie links. Bruendel zufolge seien die Ideen von 1914 bisher vor allem in moralisierender Weise als irrationale, präfaschistische Verirrungen abqualifiziert worden, deren „begrifflich rekonstruierbaren rationalen Kern“ es nun werturteilsfrei herauszuarbeiten gelte.

Literatur

Beispielhafte Schriften

  • Rudolf Kjellén: Die Ideen von 1914. Eine weltgeschichtliche Perspektive, Leipzig 1915
  • Thomas Mann: Gedanken zum Kriege, 1914
  • Paul Natorp: Über den gegenwärtigen Krieg, 17. September 1914, in: „Kölnische Zeitung“, S.15 f
  • Paul Natorp: Der Tag der Deutschen. Vier Kriegsaufsätze, Hagen 1915
  • Paul Natorp: Krieg und Friede. Drei Reden, München 1915
  • Johann Plenge: 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, Springer, Berlin 1916
  • Gustav Radbruch: Zur Philosophie dieses Krieges. Eine methodologische Abhandlung, in: „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, Jg. 44, 1917, S. 139-160
  • Max Scheler: Der Genius des Kriegs und der Deutsche Krieg, 1915
  • Max Scheler: Krieg und Aufbau, 1916
  • Georg Simmel: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, Leipzig 1917
  • Werner Sombart: Händler und Helden, 1915
  • Ernst Troeltsch: Die Ideen von 1914 (Rede, gehalten vor der Deutschen Gesellschaft, in: „Die neue Rundschau“ 27 (1916), S. 605-624; auch separat Berlin 1916; Wiederabdr. in: Deutscher Geist und Westeuropa, 31-58)

Forschungsliteratur

  • Barbara Beßlich: Wege in den Kulturkrieg. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914, Phiol. Diss., 2000 [exemplarisch über Th. Mann, Eucken, Bahr und Plenge]
  • Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Akademie Verlag, Berlin 2003
  • Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000.
  • Domenico Losurdo: Die Gemeinschaft, der Tod, das Abendland. Heidegger und die Kriegsideologie, Stuttgart (Metzler) 1995
  • Hans Maier, Ideen von 1914 – Ideen von 1939? Zweierlei Kriegsanfänge, in: VfZ 38,4 (1990), S. 525-542
  • Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 34), München 1996;
  • Wolfgang J. Mommsen: Der Geist von 1914. Das Programm eines politischen Sonderweges der Deutschen, in: Ders., Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches, Frankfurt am Main 1992, S. 407-421.
  • Klaus Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969.
  • Jürgen und Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf: „An die Kulturwelt!“. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996
  • Ralph Rotte: Die „Ideen von 1914“. Weltanschauliche Probleme des europäischen Friedens während der „ersten Globalisierung“. Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit, Bd. 22, Hamburg 2001

Personenbezogene Forschungsliteratur

  • Nils Bruhn: Vom Kulturkritiker zum „Kulturkrieger“. Paul Natorps Weg in den „Krieg der Geister“; Königshausen & Neumann, 2007
  • Peter Hoeres: Der Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, 2004
  • Raimund Neuss: Anmerkungen zu Walter Flex. Die „Ideen von 1914“ in der deutschen Literatur. Ein Fallbeispiel, SH-Verlag, Schernfeld 1992
  • Andreas Peschel: Friedrich Naumanns und Max Webers „Mitteleuropa“. Eine Betrachtung ihrer Konzeptionen im Kontext mit den „Ideen von 1914“ und dem Alldeutschen Verband, Dresden 2005, ISBN 3-938863-00-5

Einzelnachweise

  1. Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. (= Deutsche Geschichte Band 9) Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 31977), S. 211.
  2. Maier, Ideen von 1914, S. 526f.

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