Hühnergott

Hühnergott
Hühnergott, Fundort: Sassnitz, Insel Rügen
Hühnergott, Fundort: Unterhalb des Königsstuhls, Insel Rügen
Hühnergott, Fundort: Dänholm
Hühnergott, Fundort: Kalifornien
Linsenstein, Fundort: Wien

Als Hühnergott wird volkstümlich ein Stein mit einem natürlich entstandenen Loch bezeichnet.[1]

Steine dieser Art sind oft Feuersteinknollen mit herausgewitterten Kreideeinlagerungen. Der „echte“ Hühnergott hat ein Loch von etwa 5 bis 8 mm Durchmesser, manchmal Überbleibsel eines einst eingelagerten fossilen Seelilienstängels (siehe Paramoudra zur Theorie über das Entstehen der Löcher). Hühnergötter kommen an der Ost- sowie Nordseeküste (beispielsweise an den Stränden der Nordfriesischen Inseln) und in eiszeitlichen Geröllen des Binnenlandes vor und sind unter Urlaubern als Glücksbringer ein beliebtes Souvenir. Andernorts in Deutschland sind solche Bildungen eher selten zu finden oder als Begriff unbekannt.

Bei dem Begriff Hühnergott und der Vorstellung, mit als Talisman gedeuteten entsprechenden Gegenständen das Hausgeflügel gegen böse Geister schützen zu können, handelt es sich um einen sehr alten slawischen Volksglauben. Im vorliegenden Fall geht es um die Abwehr des schädlichen Einflusses eines weiblichen Hausgeistes, der so genannten Kikimora.

Die Kikimora ist eine zum Poltergeist umgewidmete alte slawische Gottheit. Ihr wird unter anderem nachgesagt, dass sie Fäden spinnt, poltert, demjenigen, der sie sieht, Unglück bringt – und das Hausgeflügel stiehlt oder es am Eierlegen hindert. Um den bösen Einfluss abzuwehren, muss der abgeschlagene Hals eines Kruges oder aber eines Steins mit einem natürlichen Loch bei den Ställen aufgehängt werden. Nachzulesen zum Beispiel in dem im 19. Jahrhundert entstandenen und bis heute unter Wissenschaftlern wie sprachinteressierten Laien sehr populären Wörterbuch der großrussischen Sprache von Wladimir Dal. Die Vermutung, es handle sich um einen Glauben der Krimtataren, wie sie beispielsweise in der unten erwähnten Erzählung Jewtuschenkos vorkommt, greift daher zu kurz. Die Krimtataren haben hier mit einiger Wahrscheinlichkeit Vorstellungen ihrer slawischen Nachbarn übernommen.

Das Wort Kuriny bog (russ. куриный бог; Hühnergott) seinerseits bezeichnet im slawischen Sprachraum nicht nur Lochsteine, sondern auch andere gebrauchte und zerschlagene Gegenstände, etwa alte Gefäße ohne Boden oder abgetragene Bastschuhe.

Da der Begriff Hühnergott in älteren deutschsprachigen Nachschlagewerken des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere im Wörterbuch der deutschen Sprache der Gebrüder Grimm, fehlt, gilt er als Neologismus. Längere Zeit wurde vermutet, der deutsche Begriff gehe auf die 1966 erschienene Übersetzung der gleichnamigen, 1963 verfassten Novelle von Jewgeni Jewtuschenko durch Thomas Reschke zurück. Es gibt inzwischen aber mehrere Nachweise, dass der Begriff Hühnergott im Deutschen schon längere Zeit existiert. Der älteste bisher bekannte Nachweis stammt, wie Freunde Reschkes auf dessen Bitte hin ermittelt haben, aus dem 1927 bei de Gruyter in deutscher Sprache erschienenen Buch von D. Zelenin zur ostslawischen Volkskunde (siehe unten). Der Begriff „Hühnergott“ wurde in dem Roman „Iwan III.“ von Waleri Jaswizki, erschienen 1953 im Verlag Rütten & Loening, Berlin W8, in der Übersetzung von Alexander Böltz, verwendet. Dort steht im Band I, Seite 98: „An ihrem Hals [der Hühner] waren mit Zwirn bunte Steinchen angebunden, die ‚Hühnergötter‘, die sie vor Seuche behüteten.“

Der Begriff fand 1975 Eingang in den DDR-Duden, wurde aber im nach 1990 gemeinsamen Duden wieder getilgt. Die im Jahr 2000 erschienene 22. Auflage des Bandes Die deutsche Rechtschreibung verzeichnet ihn jedoch wieder.

Lochsteine als schützende Talismane haben in der Vergangenheit in ganz Europa und darüber hinaus eine Rolle gespielt. Belegt ist das zum Beispiel für den germanischen, etwa den angelsächsischen und alemannischen, wie auch den französischen Volksglauben. So wurden sie beispielsweise in der Schweiz und in Frankreich in Kuh- und Pferdeställen aufgehängt, um das Vieh vor Unglück zu bewahren. Auch in Deutschland waren solche Vorstellungen verbreitet. Zwar wurden die Lochsteine „Trutensteine“, „Schratensteine“ oder ähnlich genannt, es wurde aber genau wie beim Hühnergott an die Abwehr von Hexen und Geistern, eben der „Truten“ oder der „Schrate“ und deren bösem Zauber gedacht. Interessanterweise hat auch dieser Volksglaube ein Analogon bei den Ostslawen, das als Viehgott (skotij bog, russ. скотий бог) bezeichnet wurde. Ähnlich wie beim Hühnergott dienten hierfür neben anderen Dingen Lochsteine, die an gut sichtbarer Stelle aufgehängt wurden, um „böse Blicke“ abzuwenden und den unter anderem als Beschützer des Viehs angesehenen heidnischen slawischen Gott Weles zu beschwören. Nicht unerwähnt soll dabei bleiben, dass die in manchen Quellen angeführte Beziehung der Hühnergötter zum germanischen Donnergott Thor (Donar), dem unter anderem auch das Huhn heilig gewesen sein soll, nicht abwegig ist, denn die slawischen Gottheiten Weles (Wolos), dessen meist als slawische Hauptgottheit betrachteter Gegenspieler Perun und der germanische Donnergott Thor weisen eine Reihe ähnlicher Züge auf.

In Österreich werden Steine mit kleinen Löchern auch Linsensteine genannt: Wird durch das Loch geschaut, erscheint alles vergrößert (Beugung des Lichts).

Literatur

  • Dmitrij Zelenin: Russische (Ostslavische) Volkskunde. Grundriß der slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Hrsg. v. Reinhold Trautmann und Max Vasmer. Walter de Gruyter, Berlin/Leipzig 1927.
  • Rolf Reinicke: Feuersteine - Hühnergötter. - 80 S., zahlr. Abb., Demmler Verlag, Schwerin, 2009, ISBN 978-3910150-78-2
  • Gerhard Priewe, Jürgen Bummert: Hühnergötter: Glückssteine vom Strande. - 79 S., zahlr. Abb., Hinstorff-Verlag, 3.Auflage (2007), ISBN 978-3356011869

Einzelnachweise

  1. Felix Haase: Volksglaube und Brauchtum der Ostslaven, Seite 87, Georg Olms Verlag, 1980, ISBN 3487069954

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