Hörspiel

Hörspiel
Im Kontrollraum während einer Hörspielproduktion (1946)

Hörspiele sind dramatisierte, rein akustische Inszenierungen mit verteilten Sprecherrollen, Geräuschen und Musik. Das Hörspiel unterscheidet sich dadurch von einer reinen Lesung und vom Film. Hörspiele wurden ursprünglich für den Rundfunk entwickelt und ausgestrahlt und sind damit die erste originäre Kunstform, die der Hörfunk hervorgebracht hat. Sie sind ein eigenständiges literarisches Genre, vergleichbar mit dem Roman, der Novelle oder dem Drama. Der Übergang zur Klangkunst ist fließend.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Hörspielproduktionen sind Teamarbeit, auch wenn – im Gegensatz zum Film – beim Hörspiel oft nur der Autor als Urheber genannt wird. Der Autor schreibt in Zusammenarbeit mit einem Dramaturgen oder Redakteur den Text, der in der Regel die Grundlage für die Hörspielproduktion darstellt (Produktionsmanuskript). Das eigentliche Stück, das später im Radio gesendet oder auf CD, Kassette, Schallplatte (siehe auch Sprechplatte) oder als MP3-Datei vertrieben wird, ist eine Inszenierung, die maßgeblich durch den Regisseur und die beteiligten Schauspieler geprägt ist. Außerdem sind an einer Hörspielproduktion in der Regel zwei Tontechniker (Ton und Schnitt) und ein Regieassistent beteiligt. Häufig werden auch ein Komponist, ein Sounddesigner, ein Geräuschemacher sowie Musiker engagiert.

Geschichte

Die Entwicklung des Hörspiels ist eng mit der Geschichte von Theater und Film verbunden, zu denen es bis heute in Konkurrenz steht.

Die deutsche Hörspielgeschichte reicht bis in das Jahr 1918 zurück. Damals begann man bei der Firma Telefunken mit Bearbeitungen von Theaterstücken für die Ausstrahlung per Funk. 1923 inszenierte F. A. Tiburtius in den Experimentalstudios von Telefunken das erste richtige Hörspiel nach heutigen Maßstäben. Es hatte den Titel „Anke“. Gesendet wurde es jedoch nie. Die ersten im deutschen Radio ausgestrahlten Hörspiele waren „Zauberei auf dem Sender“ von Hans Flesch (am 24. Oktober 1924 in Frankfurt/Main über die Welle 467) und „Spuk“ von Rolf Gunold (1925 über einen Breslauer Sender).

Anfang der 1930er Jahre waren Hörspiele im Rundfunk so beliebt, dass die BBC Leitfäden für deren Produktion aufstellte, etwa für den Einsatz von Soundeffekten:

„Geräusche sollten eher die Stimmung [eines Hörspiels] unterstreichen, als die Szene bebildern. Angenommen, man hat einen Dialog wie diesen: Noch ein Glas Portwein? - Gern. - Edler Tropfen!, dann ist es doch offensichtlich, was passiert, dass zwei Leute Portwein trinken, und unnötig und vermutlich ziemlich lächerlich, den Dialog mit Klängen klirrender Gläser und dem Einschütten von Flüssigkeit zu illustrieren. [...] Man sollte in der Tat ein Schauspiel für den Rundfunk als symphonische Form verstehen, bei der das gesprochene Wort nur ein Faden in einem aus Klang gewobenen Stoff darstellt.“[1]

Am 30. Oktober 1938 sorgte die Ursendung von Krieg der Welten nach H. G. Wells in New York für Aufsehen. Zahlreiche beunruhigte Bürger meldeten sich bei der Polizei in Besorgnis um einen vermeintlichen Marsangriff.

In Westdeutschland erlebte das Hörspiel zwischen 1945 und 1960 einen regelrechten Boom, der sich in jährlich 500 gesendeten und insgesamt 160 abgedruckten Hörspielen niederschlug. Diese Tatsache war vor allem den äußeren Umständen im Nachkriegsdeutschland geschuldet, in dem der Großteil der Theater und Kinos noch zerstört waren.[2]

In den 1950er-Jahren und zum Teil auch in den 1960ern herrschte typischerweise das sogenannte Hörspiel der Innerlichkeit vor, das sich durch Geräuscharmut auszeichnete. Das Primat lag also auf der Sprache, weshalb es auch als „Worthörspiel“ bezeichnet wird - die Illustration durch klangliche Effekte oder eine Geräuschkulisse wurde minimiert und überwiegend nur als sogenannte „key sounds“, Geräusche mit symbolhafter Bedeutung, akzeptiert. Dies fördert die Suggestion einer inneren Welt (z.B. Erinnerungen) beim Rezipienten, was die Funktion einer Vergangenheitsbewältigung - die in der Nachkriegszeit eine große Rolle einnahm - potenziell unterstützen kann. Aus technischen Gründen wurde deshalb der Schnitt, der damals häufig noch als hörbare Markierung wahrgenommen werden musste, vermieden. „Weil der Schnitt stets auf das Magnettonband verweist, auf dem das Hörspiel aufgenommen ist, insistierte er auf die Materialität des akustischen Signifikanten, anstatt ihn zugunsten der Produktion eines imaginären Signifikats zu verdrängen.“[3] Bernhard Siegert konstatiert also für das Hörspiel nach 1945 vor allem das Charakteristikum der Abwesenheit des Mediums Radio in den über das Radio gesendeten Hörspielen. Er nennt dieses Phänomen „negative Radioästhetik“.[4]

Ein bedeutender Vertreter des „Worthörspiels“ ist Günter Eich. Siegert unterstellt Eich ein bewusst geäußertes Statement für das Worthörspiel, wenn er am Anfang seines Hörspiels Das Jahr Lazertis den Protagonisten Paul sagen lässt:

„Ich fuhr empor, als ich das Wort vernahm. Jemand, der an meinem Fenster vorüberging, mußte es ausgesprochen haben, im Gespräch und nebenbei, obwohl es das Wort war, das alle Geheimnisse löste. Für seine Dauer war die Welt verwandelt und begriffen, aber im gleichen Hauch war es auch wieder vergessen“

Günter Eich [5]

Ein historisches Nachschlagewerk ist Reclams Hörspielführer von 1969. Über die aktuelle Entwicklung im Bereich Radiokunst informierte von 1996 bis 2009 der monatliche Hörspielkalender des Deutschlandfunks.

Bis heute ist Deutschland das Land, in dem die meisten Hörspiele produziert und gehört werden. Die erfolgreichste deutsche Hörspielserie ist Die drei ???. Rund 40 Millionen Tonträger wurden von der Serie verkauft, die schätzungsweise 40 Prozent des kommerziellen Hörspielmarktes ausmacht.[6] Neben weiteren „Klassikern“, die, wie TKKG und Benjamin Blümchen, ursprünglich für Kinder und Jugendliche produziert wurden, gibt es rund 500 Mini-Labels, die den freien Hörspielmarkt in Deutschland bedienen.[7]

Besonders erfolgreich waren auch die legendären Paul-Temple-Hörspiele von Francis Durbridge, die vom NWDR bzw. dem WDR in den Jahren zwischen 1949 und 1968 meist unter der Regie von Eduard Hermann und mit René Deltgen in der Hauptrolle produziert worden sind. Inzwischen ist die Reihe auch auf CD erschienen.

Typologie

Es gibt viele Spielarten von Hörspielen. Das Originalton-Hörspiel beispielsweise verwendet ausschließlich direkt aufgenommenes akustisches Material, während Kriminalhörspiele häufig sehr dialoglastig produziert und mit realistischen Geräuschen illustriert sind. Bei vielen Hörspielen sind die Übergänge zum Radio-Feature („O-Ton-Feature“), zur Literaturlesung[8] und zur Dokumentation fließend.

Neben dem Kurzhörspiel, das sich in erster Linie durch seine Länge von einem „normalen“ Hörspiel unterscheidet, hat sich in den letzten Jahren in der deutschen Radiolandschaft das Genre des Hörstücks (auch „Minihörspiel“ oder „Dramolett“ genannt) etabliert. Mit diesem Begriff werden Stücke mit einer Länge von bis zu 3 Minuten bezeichnet, die in der Regel keine Geschichten erzählen, sondern Höreindrücke, Stimmungen und Atmosphären vermitteln. Hörstücke verwenden in der Regel die Collage-Technik.

Von Form und Inhalt unabhängig bezeichnet der Ausdruck „Original-Hörspiel“ einen Text oder eine Klangkomposition, die ursprünglich bzw. originär für die Produktion und Erstveröffentlichung in Hörspielform konzipiert worden ist.

Publikationsformen

Die Form, in der ein Hörspiel publiziert wird, hängt davon ab, ob es sich um die Inszenierung oder die reine Textfassung (das Sendemanuskript) handelt:

  • Die Inszenierung wird vor allem im Hörfunk oder (pseudo-)live vor Publikum aufgeführt und ist als Hörspiel-CD oder Hörspiel-Kassette im Handel erhältlich.
  • Die Textfassung erscheint gedruckt als Buch, wie es vor allem in den 1950er- und 1960er-Jahren populär war.

Außerdem gibt es noch den Spezialfall der „richtigen“ Live-Aufführung, wenn etwa populäre Hörspielreihen wie Die drei ??? mit Sprechern auf einer Bühne aufgeführt werden. Dabei ist der Übergang zur szenischen Lesung fließend.

Vertriebswege

Ab den 1970er-Jahren ist die Veröffentlichung von Hörspielen auf Tonträgern immer beliebter geworden, wobei der Handel in der Regel nicht zwischen Hörspielen und Lesungen unterscheidet und beide Formen unter dem Begriff „Hörbuch“ subsumiert. Hörspiele werden auch auf eigenen Festivals wie den ARD-Hörspieltagen, dem Leipziger Hörspielsommer und dem Dresdner Hörgarten präsentiert, der 2004 und 2005 im Parktheater des Großen Gartens in Dresden stattfand.[9]

Technische Umsetzung

Die Produktion von Hörspielen stellt hohe Anforderungen an die technische Umsetzung. Da jeder Mensch über eigene umfangreiche Hörerfahrungen verfügt, ist eine wirklichkeitsnahe Aufnahme nur unter akustischen Bedingungen möglich, die im Wesentlichen den Originalsituationen entspricht. Deshalb verfügen Studiokomplexe, in denen Hörspiele produziert werden (sogenannte Hörspielkomplexe), über mehrere Aufnahmeräume unterschiedlicher Größe und mit unterschiedlicher Akustik. So gibt es im Berliner Haus des Rundfunks einen Hörspielkomplex, in welchem sich ein großer Aufnahmeraum mit längerer Nachhallzeit und einer Treppe mit unterschiedlichen Belägen befindet. Ein mittelgroßer Aufnahmeraum, der in etwa einem Wohnzimmer entspricht, verfügt über umklappbare Wandelemente zur Veränderung der Akustik, außerdem existieren weitere für Tonaufnahmen optimierte Einbauten, wie eine Küche und ein WC. All diese Räume haben keine parallelen Wände, um die Bildung von stehenden Wellen (sogenannte Flatterechos) zu verhindern. Außerdem ermöglicht ein Reflexionsarmer Raum die Nachbildung der Akustik, wie sie außerhalb von geschlossenen Gebäuden herrscht. In diesem Raum sind unterschiedliche begehbare Flächen wie Holzdielen und Kies vorhanden. Der gesamte Hörspielkomplex ist als Haus-in-Haus-Konstruktion von den Umgebungsgeräuschen abgekoppelt. Alle Räume sind technisch (zum Teil auch über Studiofenster) mit dem Regieraum verbunden, in welchem der Toningenieur und der Hörspiel-Regisseur die Aufnahme gestalten und überwachen. Vergleichbare Hörspiel-Produktionszentren gibt es auch in anderen Rundfunkanstalten und privaten Studios.

Wirtschaftliche Situation

Da die technischen und räumlichen Anforderungen sehr hoch sind, gehören Hörspiele neben Aufnahmen mit großen Orchestern zu den teuersten Audio-Produktionen. Sie sind daher eine Domäne der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die den überwiegenden Teil der Hörspiele in Deutschland produzieren. Private Unternehmen können wirtschaftliche Erfolge nur mit Hörspielen und Hörspielserien erzielen, bei denen ausreichend hohe Tonträger-Verkaufszahlen erreichbar sind.

Preise

Die älteste Auszeichnung für deutschsprachige Hörspiele ist der seit 1952 jährlich verliehene Hörspielpreis der Kriegsblinden. Seit 1977 wird von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Bensheim ein Hörspiel des Monats gewählt, aus denen seit 1987 das Hörspiel des Jahres gekürt wird. Dazu gibt es zahlreiche weitere nationale und internationale Hörspielpreise, so etwa den ARD-Online-Award als Publikumspreis für das beste Hörspiel. Außerdem gibt es zahlreiche Auszeichnungen, mit denen Labels und Fangruppe kommerzielle Hörspielproduktionen bewerben.

Literatur

Bibliografien

Allgemein

Epochen

Siehe auch

 Portal:Hörfunk – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Hörfunk

 Portal:Gesprochenes Wort – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Gesprochenes Wort

Weblinks

  • HörDat Freie Hörspieldatenbank mit ca. 33.000 Hörspielen
  • ARD-Hörspieltage mit Deutschem Hörspielpreis der ARD und Kinderhörspielpreis
  • Hörspielprojekt.de, offene Gemeinschaft zur Produktion nicht-kommerzieller Hörspiele

Einzelnachweise

  1. Übersetzt aus dem Englischen. Producing Plays for Broadcasting, BBC Year Book 1931, S. 201
  2. Bernhard Siegert: Das Hörspiel als Vergangenheitsbewältigung. In: Irmela Schneider /Peter M. Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. I, Wiesbaden 2002, S. 287-298, hier S. 290.
  3. Bernhard Siegert: Das Hörspiel als Vergangenheitsbewältigung. In: Irmela Schneider /Peter M. Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. I, Wiesbaden 2002, S. 287-298, hier S. 289.
  4. Bernhard Siegert: Das Hörspiel als Vergangenheitsbewältigung. In: Irmela Schneider /Peter M. Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945,. Bd. I, Wiesbaden 2002, S. 287-298, hier S. 291.
  5. Günter Eich: Das Jahr Lazertis. In: ders.: Fünfzehn Hörspiele, Frankfurt/M. 1973, S. 314-353, hier: S. 314.
  6. aus „Das ABC der drei Fragezeichen“ von Björn Akstinat
  7. „Die Pubertätsleiden der ‚Drei ???‘“, Spiegel online, 13. Juni 2009.
  8. Das Hörspiel Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands (BR/WDR 2007) ist eine nur mit sporadischen Geräuschen versetzte Literaturlesung.
  9. Anne Wawro: Ohren waschen und dann ins Parktheater. In: Dresdner Neueste Nachrichten Online, 25. August 2004. (Interview mit den beiden Organisatoren des Festivals)

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