Häuptlingstum

Häuptlingstum

Ein Häuptlingstum ist im allgemeinen Sprachgebrauch der Herrschaftsbereich eines Häuptlings oder eines sonstigen traditionellen Anführers.

In der Ethnologie bezeichnet der Begriff Häuptlingstum im Rahmen der Theorie der multilinearen Evolution eine bestimmte Form der sozialen Organisation, die zwischen den segmentären, herrschaftsfreien Stammesgesellschaften und den in Staaten organisierten Gesellschaften steht. Nach Robert Carneiro ist ein Häuptlingstum “An autonomous political unit comprising a number of villages or communities under the permanent control of a paramount chief” (Carneiro 1981, S. 45). (also „eine autonome politische Einheit, die aus einer Anzahl von Dörfern oder Gemeinschaften besteht und die sich unter der Kontrolle eines obersten Häuptlings befindet“).

Inhaltsverzeichnis

Voraussetzungen

Eine Voraussetzung für die Entstehung eines Häuptlingstums ist das Aufkommen von gesellschaftlicher Ungleichheit in segmentären Stammesgesellschaften, insbesondere zwischen:

  • Frauen und Männern Viele dieser Gesellschaften sind patriarchal und patrilokal organisiert. Frauen haben dort im Allgemeinen einen niedrigeren Status als Männer. Insbesondere die Tatsache, dass die Frauen bei der Heirat ihre Ursprungsgemeinschaft verlassen und in der ihres Mannes leben, benachteiligt sie in vielfacher Weise:
  1. Ihr gesellschaftlicher Status geht zurück. Sie sind von allen bisherigen sozialen Kontakten, zum Beispiel zu Freundinnen, abgeschnitten und müssen unter Menschen leben, die sie bisher nicht kannten.
  2. Im Allgemeinen sind Frauen nicht erbberechtigt und können auch nur begrenzt von der Arbeitskraft ihrer Nachkommenschaft profitieren.
  3. Die Bande der Verwandtschaft werden in patriarchalen Systemen nur über die Männer hergestellt.
  4. Obwohl die Frauen in der Landwirtschaft und der häuslichen Produktion eine dominierende Stellung einnehmen, werden die Arbeitsprodukte von den Männern kontrolliert (vgl. Meillassoux: Früchte, S. 80).
Aus dem ursprünglicheren Frauentausch entwickeln sich Brautpreis-Systeme, so dass Frauen de facto von der Familie des Bräutigams gegen sog. Heiratsgüter, die meistens aus wertvollen und dauerhaften Gegenständen bestehen, gekauft werden können (vgl. Meillassoux: Früchte, S. 79ff und Friedman: Tribes, S. 171ff).
  • jüngeren und älteren (Männern) Eine andere Form der Ungleichheit ist in diesen Gesellschaften die hervorgehobene Position der Ältesten (Männer). Dieses Prinzip wird als Anteriorität bezeichnet. Die Ältesten haben häufig die größte Autorität und entscheiden über die wichtigsten allgemeinen Belange der Produktion. Sie koordinieren den Produktionsprozess und verwalten die landwirtschaftlichen Vorräte. In patriarchalen und patrilokalen Gesellschaften handeln sie mit den Ältesten der anderen Gemeinschaften die Heiratsallianzen aus und bestimmen, welche Mitglieder der jeweiligen Gruppen miteinander verheiratet werden.
  • erfolgreichen und weniger erfolgreichen (Männern) Die Angehörigen segmentärer Gesellschaften glauben, jede besonders erfolgreiche Hervorbringung, zum Beispiel die eines Jägers, Fischers, Ackerbauern oder Kriegers sei das Resultat des Besitzes von übersinnlichen Kräften, die im polynesischen Mana genannt werden, aber überall auf der Welt in unterschiedlichen Namen bekannt sind. Je mehr Erfolg ein Mensch hat, über desto mehr ‘mana’ verfügt er, also über um so mehr übersinnliche Kräfte. Da das mana nicht auf alle Gesellschaftsmitglieder gleichmäßig verteilt ist, sondern so, dass es dem religiösen, politischen oder wirtschaftlichen Erfolg des Einzelnen entspricht, bewirkt es eine Staffelung der Gesellschaft in unterschiedliche Statusgruppen, die durch ihren Anteil am mana definiert sind. Die Existenz von mana führt zu einem ständigen Kampf um Anerkennung zwischen den Mitgliedern des Gemeinwesens (vgl. Breuer: Soziogenese, S. 171ff).

Entstehung

Der Ethnologe Jonathan Friedman beschreibt die Entstehung eines Häuptlingstum am Beispiel der Kachin in Myanmar: Ein Häuptlingstum entsteht, wenn ein Individuum zum Beispiel im Krieg aber besonders durch das Ausrichten von redistributiven Festen (Beispiel: Potlatch) ein so hohes Prestige erwirbt, dass eine positive Rückkopplungsschleife entsteht und sich schließlich ein großer Teil des gesellschaftlichen Arbeitsprodukts in einer Familie bzw. Lineage konzentriert. Beispiel:

  1. Der Anführer einer Lineage gibt ein besonders großes Fest für das gesamte Dorf. Er kann sich das leisten, weil er eine gute Ernte hatte.
  2. Dieses Fest steigert sein Prestige („Mana“) erheblich. Er kann jetzt für seine Töchter besonders hohe Brautpreise verlangen.
  3. Das durch die Brautpreise erworbene Surplusprodukt wird dazu genutzt, um weitere Frauen zu erwerben.
  4. Hierdurch erhöht sich einerseits das Prestige der Lineage. Durch die Frauen und die von ihnen geborenen Kinder stehen jetzt auch mehr Arbeitskräfte zur Verfügung und es können mehr Güter für die Feste produziert werden.
  5. Diese wiederum erhöhen das Prestige des Anführers dieser Lineage noch mehr (vgl. Friedman: Tribes, S. 170).

Merkmale

Aufgrund des Mana-Mechanismus nehmen die Stammesangehörigen an, dass der Anführer der prestigereichsten Lineage besonders gute Verhältnisse zu den Ahnen, Geistern und Göttern unterhält. Sie beginnen, an seinem Hausaltar zu opfern. Die Opfergaben gehen an die Lineage des Häuptlings.

Es kommt auch zu einer Vertikalisierung der Verwandtschaftsbeziehungen. Die Lineage des Häuptlings gilt nun als die älteste der Domäne, die unmittelbar mit dem Gründerahnen bzw. den Geistern und Göttern verwandt ist. Die anderen Lineages gelten nun als die Nachkommen der jüngeren Söhne des Gründerahnens. Aus einer Struktur mehrerer egalitärer Lineages, die durch Heiraten miteinander verbunden sind, entsteht eine Ramage oder ein konischer Klan, dessen durch Heiraten verbundene Lineages eine hierarchisch gestaffelte Rangposition besitzen, die durch deren genealogische Distanz zur prestigereichsten Lineage beschrieben wird, die den Häuptling stellt. Dabei ist es unerheblich, wie die wirklichen Verwandtschaftsverhältnisse aussehen.

Diese Konstellation bewirkt eine relativ dauerhafte Institutionalisierung der politischen Macht beim Häuptling und begünstigt die Erblichkeit seines Amtes, meistens in Form der Primogenitur. Seine Nachkommen müssen nicht mehr besondere Heldentaten begehen, um als Anführer anerkannt zu werden, es reicht, wenn sie sich durch die Redistribution von Gütern, die ihnen durch Opferrituale und Brautpreise zufließen, Prestige verschaffen (vgl. Breuer: Soziogenese, S. 184). Das Ansehen des Häuptlings kann sich weiter vergrößern, denn er ist durch die ihn zur Verfügung stehenden Güter in der Lage:

  1. seine zentrale Position im Netzwerk der matrimonialen Allianzen ausbauen.
  2. durch kultische Veranstaltungen seiner Macht zusätzliche sakrale Verstärkungen verschaffen.
  3. eine Gefolgschaft erwerben, die materiell und statusmäßig von ihm abhängt und die auch bewaffnet sein kann. Damit erhält der Häuptling tendenziell die Möglichkeit, seine Entscheidungen auch bei Widerstreben der Beherrschten durchzusetzen. Allerdings ist die Gefolgschaft in Häuptlingstümern zahlenmäßig wegen geringer Ressourcen noch begrenzt und demnach noch nicht besonders effektiv.

Während die Macht der Häuptlinge in diesem Prozess ständig weiter zunimmt, kann ein Teil der Lineages die gestiegenen Abgaben und Brautpreise nicht mehr bezahlen. Sie können dann in den Status von Schuldsklaven des Häuptlings absinken.

Die zentrale Position des Häuptlings im Netz der Verwandtschaftsbeziehungen und der Religion führt dazu, dass er jetzt in stärkerem Maße über alle wichtigen Angelegenheiten der Ramage entscheidet. So beaufsichtigt er den Produktionsprozess und mobilisiert Gruppen für gemeinsame Arbeiten oder für den Krieg gegen Nachbargebiete. Allerdings gehören ihm die wichtigsten Produktionsmittel im allgemeinen nicht.

Im Gegensatz zu den segementären, egalitären Gesellschaften existiert im Häuptlingstum eine dauerhafte politische Macht, die an ein vererbbares Amt gebunden ist. Von staatlich organisierten Gesellschaften unterscheiden sich Häuptlingstümer dadurch, dass noch kein Gewaltmonopol und kein ausreichend großer Erzwingungsstab existiert, mit dessen Hilfe die Zentralinstanz ihre Entscheidungen durchsetzen könnte. Häufig können die Häuptlinge nicht einmal allein entscheiden, sie sind auf die Mitwirkung des Stammes oder der Ältesten angewiesen und müssen ständig mit der Möglichkeit von Abspaltungen und Revolten rechnen (vgl. Breuer: Soziogenese, S. 185).

Weiterentwicklung

Häuptlingstümer sind expansiv. Sie entwickeln einen ständig steigenden Bedarf an Arbeitskräften. Denn nur wenn die Lineage des Häuptlings über zahlreiche Arbeitskräfte verfügt, kann sie ein Mehrprodukt erwirtschaften, das für seine zahlreichen Verpflichtungen ausreicht. Neben der Ausbeutung der anderen Lineages des Häuptlingstums wird er versuchen, durch Kriege gegen Nachbargebiete weitere Arbeitskräfte zu gewinnen. Aus diesem Grund tendiert die Bevölkerung der Häuptlingstümer in ihrer Kernzone dazu, rapide zu wachsen. Zudem dehnen sie sich über größere Gebiete aus (vgl. Friedman: Tribes, S. 180). Wenn die historischen und ökologischen Bedingungen eine solche Expansion zulassen und fördern, festigen sich die vertikalen Machtstrukturen und es können sich aus den Häuptlingstümern die ersten Formen der eigentlichen Staaten entwickeln.

Wenn dies nicht der Fall ist, werden die Häuptlingstümer nach einer gewissen Zeit wieder zusammenbrechen. Allerdings können sie sich danach auch wieder neu bilden. Dies war zum Beispiel bei den Kachin, aber auch vielen Häuptlingstümern auf Pazifikinseln der Fall.

Literatur

  • Stefan Breuer: Zur Soziogenese des Patrimonialstaates, in: Stefan Breuer / H. Traber (Hrsg.): Entstehung und Strukturwandel des Staates, Opladen 1982
  • Stefan Breuer: Der archaische Staat, Berlin 1990
  • Robert L. Carneiro: The Chiefdom: Precursor of the State. The Transition to Statehood in the New World / Ed. by G. D. Jones and R. R. Kautz, pp. 37–79. Cambridge, UK – New York, NY 1981
  • Jonathan Friedman: Tribes, States, and Transformations, in: Maurice Bloch (Ed.): Marxist Analyses and Social Anthropology, London 1975
  • Claude Meillassoux: „Die wilden Früchte der Frau“, Frankfurt am Main 1976
  • Timothy Earle (Hrsg.): Chiefdoms: Power, Economy, and Ideology. Cambridge Univ. Press, 1997.

Siehe auch


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