Hräswelgr

Hräswelgr

Hräsvelgr, auch Hräswelg, ist in der nordischen Mythologie ein Adler, der mit seinen Schwingen den Wind entfacht. Man setzt ihn mit dem namenlosen Adler gleich, der auf dem Weltenbaum Yggdrasil sitzt.[1]

Inhaltsverzeichnis

Etymologie

Hräsvelgr, an. Hræsvelgr, bedeutet „Leichenverschlinger“.[2] Das Wort wird gebildet aus an. hræ „Leichnam“ und an. svelga „verschlingen“, das mit schwelgen verwandt ist.[3] Der Name wird [hrɛːsvɛlgr] ausgesprochen. Im Dänischen wird er Ræsvelg, im Schwedischen Räsvelg genannt.

Der Adler am Rand der Welt

Der riesige Adler Hräsvelgr sitzt am Rand der Welt. Möglicherweise im Norden.[4] Wenn er seine Schwingen hebt, entfacht er den Wind, der über die Menschen kommt (Vafþrúðnismál 36-37). Somit wird deutlich, dass Hräsvelgr die Personifikation des Windes ist. Die Vorstellung ist naheliegend, auch andere Völker kennen einen Riesenvogel, der den Wind verursacht.[5]

Genau genommen ist Hräsvelgr aber kein Adler, sondern ein Riese, ein Jötun, der nur wie ein Adler aussieht (Vafþrúðnismál 37). Außen Adler, innen Riese. In der nordischen Mythologie ist es nicht ungewöhnlich, dass Riesen oder Götter Adlergestalt annehmen. Mehrfach ist überliefert, dass sie in ein Adlergewand schlüpfen, um fliegen zu können. Jacob Grimm war der Ansicht, dass Wind und Riese miteinander verbunden wurden, weil beide als gefräßig galten. Diese Eigenschaft gab den Riesen im Nordischen sogar ihren Namen. An. jǫtunn „Riese“ stammt von germ. *etunaz „Vielfraß“, einer Ableitung von germ. *etan „essen“.[6]

Welche Vorstellungen mit Hräsvelgr verbunden waren, wissen wir nicht. Der Name „Leichenverschlinger“ deutet auf eine Beziehung Adler - Wind - Tod. Der Adler ist ein Aasfresser. Schon allein das könnte den Namen erklären.[7] Der Wind, insbesondere der Sturm, galt bei den Germanen wie der Riese als gefräßiges Wesen. Noch in späterer Zeit brachte man in Deutschland dem Sturm ein Opfer, um ihn zu besänftigen. Man nannte das Windfüttern. „Den sturmwind […] stellt sich das volk vor als ein gefrässiges, hungriges wesen und sucht ihn durch in die luft geschüttetes mehl zu beschwichtigen.“[8] Auch glaubte man in Deutschland, dass Sturm entsteht, wenn sich jemand erhängt. Nahender Sturm künde davon.[9] Da der Adler auch auf germanischen Gräbern zu finden war, scheint er eine Rolle als Seelenführer gehabt zu haben, als jemand, der die Seelen ins Reich der Toten geleitet.[10]

Der Adler auf dem Weltenbaum

In den Ästen des Weltenbaums Yggdrasil sitzt ebenfalls ein Adler, dessen Name aber nicht genannt wird (Grímnismál 32). Er gilt als vielwissend, zwischen seinen Augen sitzt der Habicht Vedrfölnir (Gylfaginning 16), sein weiser Ratgeber.

Das Eichhörnchen Ratatösk überbringt dem Drachen Nidhögg, der sich an den Wurzeln des Baums aufhält, die Worte des Adlers von oben (Grímnismál 32). Die Prosa-Edda sagt darüber jedoch, dass Adler und Drache sich miteinander streiten, mit Hilfe von Ratatösk, das getreulich dem einen die Worte des anderen übermittelt (Gylfaginning 16). Warum und worüber sie streiten wird nicht gesagt. Adler (Oben) und Drache (Unten) bilden zumindest ein Gegensatzpaar und liegen wohl wie alle Gegensätze im Streit miteinander. Setzt man Hräsvelgr mit dem Weltenbaumadler gleich, so haben Adler und Drache aber auch ein gemeinsames Merkmal, das sie miteinander verbindet. Der Adler heißt Leichenverschlinger, der Drache wird in seinen Taten als Leichenverschlinger beschrieben.

Textzeugen

Aus der Edda-Übersetzung von Karl Joseph Simrock:


Grímnismál 32

Ratatösk heißt das Eichhorn, das auf und ab rennt
An der Esche Yggdrasil:
Des Adlers Worte oben vernimmt es
Und bringt sie Nidhöggern nieder.


Gylfaginning 16

Ein Adler sitzt in den Zweigen der Esche, der viel Dinge weiß,
und zwischen seinen Augen sitzt ein Habicht, Wedfölnir genannt.
Ein Eichhörnchen, das Ratatösk heißt, springt auf und nieder an der Esche
und trägt Zankworte hin und her zwischen dem Adler und Nidhögg.


Vafþrúðnismál 36-37

Gangrad :
Sag mir zum neunten, wenn man dich weise nennt
und du es weißt, Wafthrudnir,
woher der Wind kommt, der über die Wasser fährt
unsichtbar den Erdgebornen.

Wafthrudnir:
Hräswelgr heißt der an Himmels Ende sitzt
in Adlerskleid ein Jötun.
Mit seinen Fittichen facht er den Wind
über alle Völker.


Möglicherweise diese Stelle zu Beginn Ragnaröcks: Völuspá 50 (= Simrock 49)

Hrym fährt von Osten und hebt den Schild,
Jörmungand wälzt sich im Jötunmute.
Der Wurm(1) schlägt die Flut, der Adler facht,
Leichen zerreißt er; los wird Naglfar.

(1) im Originaltext: neffölr "der Nasenbleiche"

Literatur

  • Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. 3 Bände. 4. Auflage. Berlin 1875-78. Neuauflage: Marix Verlag, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-143-8.
  • Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. 3. Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X.

Einzelnachweise

  1. so. z.B. Simek, Hräsvelgr, der auf die Identifizierung erst gar nicht extra eingeht.
  2. vgl. Simek: Hräsvelgr.
  3. Gerhard Köbler: Altnordisches Wörterbuch. 2. Auflage. 2003 (online).
  4. Simek: Hräsvelgr.
  5. Simek, Hräsvelgr
  6. Grimm, Bd. 1, S. 429 f. - Gerhard Köbler: Altnordisches Wörterbuch. 2. Auflage. 2003, Stichwort: jǫtunn (online).
  7. Simek, Rudolf; Lexikon der germanischen Mythologie; Kröner; 3. Aufl.; 2006
  8. Grimm, Bd. 1, S. 528 - vgl. auch Handbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 9, Sp. 511 - Gebrüder Grimm: Kinder und Hausmärchen. Bd. 1, Anhang „Einiges aus dem Kinderglauben“, Nr. 59: „Lege dich, - lieber Wind, - bringe das - deinem Kind!“
  9. Grimm, Bd. 1, S. 528
  10. Handbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 1, Sp. 176

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