Homosexualität im Alten Testament

Homosexualität im Alten Testament

Die Ablehnung der Homosexualität in konservativen Richtungen des Judentums und Christentums beruft sich im Wesentlichen auf die Verurteilung homosexueller Praktiken im 3. Buch Mose und einigen weiteren Textstellen. Diese Textstellen werden unterschiedlich bewertet: In der römisch-katholischen, orthodoxen und manchen evangelischen Kirchen wird die Verurteilung von homosexuellen Handlungen als bis heute gültig angesehen; in manchen moderaten, liberalen und progressiven Kirchen, wie beispielsweise in der Metropolitan Community Church, United Church of Christ, in der Episkopalkirche der Vereinigten Staaten von Amerika, in der Altkatholischen Kirche Mitteleuropas, in den lutherischen, reformierten und uniierten Landeskirchen der EKD, in der Evangelical Lutheran Church in America, in der Schwedischen Kirche und in der Dänischen Kirche werden diese Texte dagegen historisch kontextualisiert und ihre unmittelbare Aktualität im Sinne einer Handlungsanweisung für gegenwärtige Christen wird zum Teil auch aus theologischen Erwägungen abgelehnt.

Im Rahmen der Aufarbeitung kulturellen Materials durch die Lesben- und Schwulenbewegung wurde (ähnlich wie durch den Feminismus) auch das Alte Testament auf positive Darstellungen schwul-lesbischer Lebensmodelle untersucht und weitere Bibelstellen als positive Vorbilder herangezogen, die mitunter für gleichgeschlechtliche Segnungszeremonien in den Kirchen die Grundlage bilden. Die Resultate dieser Aufarbeitung sind ebenfalls kontrovers.

Inhaltsverzeichnis

Verbot im Levitikus

Im 3. Buch Mose (Levitikus/Wajikra) werden in den Kapiteln 18 und 20 verschiedene sexuelle Verbote (Kap. 18) bzw. schwere Sünden (Kap. 20) angesprochen. Beide Kapitel enthalten Stellen, die sich inhaltlich sehr ähnlich sind und die nach konservativ-traditioneller christlicher Meinung als eine Verurteilung des homosexuellen Beischlafs gewertet werden. Sie stehen beide auch in Nachbarschaft des ebenfalls zweimal erscheinenden Inzestverbots.

Der hebräische Originaltext lautet:

We-et-zakar lo' tishkav mishkevey 'ishah (ואת־זכר לא תשכב משכבי אשה)

Dies wird z.B. von der Einheitsübersetzung wie folgt übersetzt:

Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel. (Lev 18,22 EU);
Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen. (Lev 20,13 EU).

In der alten Lutherübersetzung (vor 1975) wird die Passage anders übersetzt: „Du sollst nicht beim Knaben liegen wie bei einer Frau ....“[1]

Das Wort zakar (זָכָר) wird bei Buber/Rosenzweig (Die Schrift) mit „Männlich“ übersetzt:

Einem Männlichen sollst du nicht beiliegen in Weibes Beilager, Greuel ists.

Es handelt sich dabei um „das eigentliche Wort zur Bezeichnung des Geschlechts Lv 18,22 ..., von allen Altern Lv 27 3.5-7 ..., auch vom neugeborenen Kinde Lv 12,2.7, Jes 66,7“.[2] Die Etymologie des Worts ist nicht gesichert und wurde in älteren Wörterbüchern der Wurzel zkr (זכר, „gedenken“) zurückgeführt.[3] Wörter mit der gleichen Wurzel, die wahrscheinlich die Grundbedeutung „Phallus“ hatte, sind auch in anderen semitischen Sprachen belegt: ugaritisch dakaru, aramäisch זכר / דכר (dakar), akkadisch zak(a)ru / zikaru.[4]

Liberale Ausleger kritisieren die Ablehnung von Homosexualität unter Berufung auf das Levitikus häufig unter Anführung weiterer im 3. Buch Mose aufgeführter Textstellen und Verurteilungen, die in der heutigen Zeit sowohl politisch, gesellschaftlich als auch unter vielen bibeltreuen Christen selber als inakzeptabel gelten. Die Schriften könnten somit auch nicht über Fragen bezüglich der Akzeptanz von Homosexualität als maßgeblich betrachtet werden.
So lautet es zum Beispiel im Kapitel 25:

Willst du aber Sklaven und Sklavinnen haben, so sollst du sie kaufen von den Völkern, die um euch her sind, und auch von den Beisassen, die als Fremdlinge unter euch wohnen, und von ihren Nachkommen, die sie bei euch in eurem Lande zeugen. Die mögt ihr zu eigen haben und sollt sie vererben euren Kindern zum Eigentum für immer; die sollt ihr Sklaven sein lassen. (Lev 25,44-46 EU);

Der Verweis auf das Levitikus zu Fragen über Homosexualität wird somit als inkonsequent und fundamentlos betrachtet, da auch weitere Textstellen, wie oben zitierte zur Befürwortung des Sklavenhandels, heute allgemein abgelehnt werden.

Dem entgegnen konservative Ausleger, dass Levitikus homosexuelle Handlungen (Lev 18,22 EU Lev 20,13 EU) beide Male im unmittelbaren Kontext mit den sexuellen Handlungen Inzest (Lev 18,6-18 EU Lev 20,11-12 EU) , Ehebruch (Lev 18,21 EU Lev 20,10 EU) und Zoophilie (Lev 18,23 EU Lev 20,15-16 EU) aufführt. Homosexuelle Handlungen gehören zu den Verboten in Levitikus, die nach Ansicht einiger Ausleger im Neuen Testament wiederholt werden, und sie gehören wie Inzest, Ehebruch und Zoophilie, den Bewertungsmaßstäben des Buches Levitikus zufolge zu den schwersten Vergehen, nämlich denen, auf denen die Todesstrafe steht (im Gegensatz z.B. zum Beischlaf mit einer menstruierenden Frau).[5][6]

Einige liberale Bibelwissenschaftler und Historiker führen aus, dass dem Verbot gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte im Buch Levitikus andere sexualkonzeptionelle Vorstellungen zugrunde lägen als diejenigen der neutestamentlichen Zeit und zudem die alttestamentlichen Autoren mit altorientalischen bzw. kanaanäischen Ausprägungen mann-männlichen Sexualverhaltens (möglicherweise Kultprostitution) konfrontiert gewesen seien, die sich in ihrer historischen, religionsgeschichtlichen und morphologischen Struktur sowie Konfiguration deutlich von denjenigen Erscheinungsformen gleichgeschlechtlichen Verhaltens unterschieden, die zu Lebzeiten des Paulus innerhalb der römischen bzw. hellenistischen Kultur des Imperium Romanum verbreitet waren und gesellschaftlich toleriert wurden.[7][8] Während sich das Verbot gleichgeschlechtlicher Sexualität im Pentateuch aus dem Ideenkonzept kultischer bzw. „göttlicher“ Reinheit speise und vielleicht auch aus einer ethischen Abwehrreaktion gegenüber gleichgeschlechtlicher kultischer Prostitution des alten Orients, handle es sich bei den von Paulus (Röm. 1, 27, 1. Kor. 6, 9) und dem Autor des Ersten Timotheusbriefs (1. Tim. 1, 9/10) verurteilten Erscheinungsformen antiker Sexualität um geschlechtliche Kontakte zwischen römischen Bürgern bzw. freien Einwohnern der römischen Provinzen einerseits und männlichen Sklaven bzw. halbwüchsigen Sklavenknaben andererseits, also um Geschlechtsverkehr zwischen Herren und Unfreien bzw. um „römisch-priapische“ oder hellenistische Päderastie, teilweise auch um Prostitution mit versklavten Lustknaben.[9][10][11][12]

Manche Autoren bezweifeln, dass Paulus bei seiner Verurteilung des gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens der (römischen bzw. griechisch-hellenistischen) „Heiden“ im Römerbrief (Röm. 1, 27) inhaltlich überhaupt auf Lev. 18, 22 und Lev. 20, 13 fuße, d.h., dass diese alttestamentlichen Stellen als literarisches und theologisches Vorbild für seine Ausführungen in Röm. 1, 18 – 32 anzusehen seien, wobei einige Wissenschaftler eine unmittelbare Anknüpfung des Paulus an die besagten Levitikus-Stellen durchaus negieren.[13]

Nicht alle Exegeten interpretieren somit die paulinischen Aussagen zum gleichgeschlechtlichen Verhalten seiner heidnisch-römischen bzw. heidnisch-hellenistischen Umwelt einfach als bloße „Wiederholung“ der alttestamentlichen Gesetzesvorgaben im Buch Levitikus. Hinzu kommt, dass der paulinischen Theologie des Römer- und des Galaterbriefes zufolge mit Christi Heilswirken in Kreuz und Auferstehung das alttestamentliche Zeremonial- und Judicialgesetz des Pentateuchs für Christen seine unmittelbare Bedeutung als Handlungsanweisung im juristriktiven Sinne verloren habe[14][15][16][17][18], worauf neben Reformatoren wie z. B. Martin Luther[19] auch aktuelle Ausleger hinweisen.[20] Da die oben erwähnten beiden Stellen im Buch Levitikus (Lev. 18, 22, Lev. 20,13) Bestandteile eben dieses Judicialgesetzes seien, so seien auch sie mitsamt dem Rest der alttestamentlichen Gesetzlichkeit bezüglich Ritus und Judicialwesen als für Christen erfüllt und damit ihrer unmittelbaren Bedeutung als Handlungsanweisung entkleidet anzusehen, was die Strafandrohungen im Buch Levitikus nicht nur aus historischer, sondern auch aus innerchristlich-theologischer Sicht als obsolet erscheinen lasse.[21] Im Gegensatz dazu interpretieren konservative und evangelikale Vertreter des Calvinismus die Bibelperikopen Römer 1 und 2 als eine zeitlose Beschreibung der menschlichen Verworfenheit, aufgrund einer von ihnen postulierten Rebellion gegen Gott. Johannes Calvin vertrat im 16. Jahrhundert die These, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen eine Illustration dieser Rebellion seien, wobei Hays betont, dass der Bezug auf Gott den Schöpfer bei jüdischen Lesern die Assoziation zur Schöpfungsgeschichte mit „als Mann und Frau schuf er sie“ und „seid fruchtbar und mehret euch“ hervorgerufen und so diese Rebellion gegen Gottes Plan besonders deutlich gemacht habe.[22][23]

Während heute auf keiner der oben genannten Handlungen (Inzest, Ehebruch, Zoophilie, homosexuelle Sexualkontakte) mehr die alttestamentliche Todesstrafe steht, werden einige von ihnen dennoch in der christlichen Tradition und im westlichen Kulturkreis bis heute abgelehnt, Zoophilie und Inzest allgemein, außerehelicher Geschlechtsverkehr und homosexuelle Sexualkontakte in fundamentalistischen, konservativen und bisweilen auch in moderaten Kreisen innerhalb der christlichen und jüdischen Glaubensgemeinschaften teilweise. Im Neuen Testament wird in einem konkreten Fall von Unzucht in der Gemeinde von Korinth (1 Kor 5,1-2 EU) – ein Mann hat sexuellen Verkehr mit der Frau seines Vaters – anstelle einer Todesstrafe in alttestamentlichem Sinne die Exkommunikation geboten.

Homosexuelle kultische Prostitution

Mehrere Bibelstellen enthalten Verurteilungen der kultischen Prostitution,[24] die in den vielen israelitischen Heiligtümern der Königszeit – nicht anders als überall im Alten Orient – verbreitet gewesen sein müsste.[25] In der Regel ist dabei von weiblicher Prostitution die Rede. Männliche homosexuelle Prostitution ist ausdrücklich in den Berichten über die Könige Judas Rehabeam (1_Kön 14,24 EU), Asa und Josaphat erwähnt: Beide letztgenannte Könige sollen eine Vertreibung der „Tempelhurer“ (hebr.: קָדֵשׁ, qadesch) aus dem Land veranlasst haben (1_Kön 15,12 EU und in 1_Kön 22,47 EU).

Im Kapitel 23. des Deuteronomiums sind zwei Verbote enthalten, die sich auf Eunuchen und männliche Prostituierten beziehen. Das erste davon:

In die Versammlung des Herrn darf keiner aufgenommen werden, dessen Hoden zerquetscht sind oder dessen Glied verstümmelt ist. (Dtn 23,2 EU),

ziele auf die Ausschließung aus dem Tempelkult der Männer, die freiwillig das Opfer der Selbstverstümmelung einer Gottheit dargebracht haben. Ein solcher kultischer Brauch (Kastration durch Zermahlen der Hoden) ist wahrscheinlich eine Anspielung an die Kastration der Gallen, worüber Lukian in De Dea Syria berichtet.[26] Das Verbot, das sich auf das verstümmelte Glied bezieht, ziele dagegen eher darauf, Eunuchen, die am königlichen Hof dienten, auszuschließen.[26]

Die zweite Stelle:

Unter den Frauen Israels soll es keine sakrale Prostitution geben, und unter den Männern Israels soll es keine sakrale Prostitution geben.
Du sollst weder Dirnenlohn noch Hundegeld in den Tempel des Herrn, deines Gottes, bringen. (...)
(Dtn 23,18-19 EU),

verbietet kultische Prostitution, wobei die weibliche und die männliche gleichgestellt erscheinen. Die Bezeichnungen „Dirnenlohn“ und „Hundegeld“ spielen aber auf Einkünfte von erwerbsmäßig getriebener profaner Unzucht, obwohl der Ausdruck Hund sowohl technisch-religiös (vielleicht in der Bedeutung von entmannten Prostituierten) als auch abwertend gedeutet werden kann.[27]

Ein weiteres Verbot, das sich wahrscheinlich gegen die bereits erwähnten Einflüsse phönizischen Kults richtete, ist in Deuteronomium aufgeführt:

Eine Frau soll nicht die Ausrüstung eines Mannes tragen und ein Mann soll kein Frauenkleid anziehen; denn jeder, der das tut, ist dem Herrn, deinem Gott, ein Gräuel. (Dtn 22,5 EU).

Mit „Männer in Frauenkleid“ könnte hier wieder der Brauch gemeint sein, der durch Lukians De Dea Syria überliefert worden ist: Männer, die sich entmannen und danach als Frauen gekleidet der Fruchtbarkeitsgöttin von Hierapolis dienen.[28] Andere Auslegungen haben darauf hingewiesen, dass in diesem Verbot festliche Ritualen der Angleichung, die für die griechisch-römische Antike vielfach bezeugt sind, gemeint sein könnten.[29]

Sodom und Gibea

Hauptartikel: Sodom und Gomorrha

Im Buch Genesis spielt Homosexualität nach konservativ-traditioneller Ansicht auch eine Rolle bei der Geschichte Sodoms. Demgegenüber wird nach gegenteiliger progressiver Ansicht vertreten, dass es in dieser Geschichte nicht um das Thema Homosexualität per se geht, sondern um den Verstoß gegen das Gebot der Gastfreundschaft sowie um sexualisierte Gewalt.[30] Als Gott in Gen 19,1-29 EU Gericht halten will über die sündige Stadt Sodom und auf den Wunsch Abrahams zwei Engel in die Stadt schickt, um „Gerechte“ ausfindig zu machen, die verschont bleiben sollen, werden die zwei Engel von Lot gastfreundschaftlich aufgenommen. Darauf umstellt die männliche Bevölkerung Sodoms das Haus und fordert die Herausgabe der Fremden, um diese vergewaltigen zu können. Lot verweigert ihnen aber die Auslieferung seiner Gäste und bietet den Männern Sodoms stattdessen seine zwei jungfräulichen Töchter an. „Nur jenen Männern tut nichts an; denn deshalb sind sie ja unter den Schutz meines Daches getreten.“ Die Einwohner der Stadt schlagen aber das Angebot aus und wollen auf Lot losgehen, der von den Engeln gerettet werden muss. Bei der nachfolgenden Zerstörung Sodoms wird Lot von Gott verschont.

Eine ähnliche Geschichte wird mit dem Gräuel von Gibea im Buch der Richter (Ri 19,15-22 EU) erzählt. Dabei will ein Levit, der mit seiner Nebenfrau und seinen Bediensteten von Betlehem nach Efraim unterwegs ist, im Ort Gibea nächtigen und wird bei einem alten Mann aufgenommen. Nachts klopfen Männer an die Türe und fordern den Gastgeber auf, den Leviten zu übergeben, um ihn zu vergewaltigen, was der Gastgeber ablehnt und stattdessen seine jungfräuliche Tochter und die Nebenfrau des Mannes anbietet. Als die Männer das Angebot ausschlagen, ergreift der Levit seine Nebenfrau und führt sie auf die Straße hinaus, wo sie bis zum Morgengrauen vergewaltigt wird und am Morgen zusammengebrochen von ihrem Mann auf der Türschwelle aufgefunden wird. In Efraim angekommen schneidet der Levit seine Nebenfrau in zwölf Teile und verteilte diese über das gesamte Gebiet Israels, um auf die Gräueltat aufmerksam zu machen.

Ruth und Noemi, David und Jonathan

Umarmung zwischen David und Jonathan in einer Illustration des 14. Jahrhunderts.

Im Buch Ruth gibt Ruth ihrer Schwiegermutter Noemi nach dem Tod ihres Mannes ein Versprechen, das traditionell bei christlichen Hochzeiten oft als Trauspruch verwendet wird, in neuester Zeit auch als Spruch für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare.

Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein. Der Herr soll mir dies und das antun – nur der Tod wird mich von dir scheiden. (Rut 1,16-17 EU)

Dieses Versprechen, das Parallelen zu einem Bundesschluss hat, wird in den letzten Jahren von manchen Auslegern als eine lesbische Liebeserklärung bzw. ein Hochzeitsversprechen interpretiert. Jedoch ist weder vom Kontext des Buchs noch vom Wortlaut her eine sexuelle Komponente der Beziehung oder eine exklusive Frau-Frau Beziehung erkennbar.[31]

Auch die Beziehung von Jonathan und David (1_Sam 18,1 EU) wird von Seiten liberaler Theologen und auch durch Sachbuchautoren wie Thomas Grossmann entgegen der traditionell-konservativen Auslegung als ein Beispiel gleichgeschlechtlicher Liebe interpretiert, die somit von der Bibel unter Umständen auch positiv dargestellt werde.[32] Hierbei wird u.a. angeführt, dass das an der Bibelstelle (1_Sam 19,1-2 EU) mit Blick auf Jonathans Gefühle für David (vgl. den hebräischen Wortlaut der Bibelstelle:‚Jehonathan, ben schaul, chafez wedavid meod’) verwendete hebräische Verb „chafez“ durchaus auch die Bedeutungsinhalte von „‚lieben’ und ‚erotisch begehren’“ aufweisen könne.[33] Die Befürworter dieser Theorie berufen sich u.a. auch auf Davids Totenklage für Jonathan, in der er seine Liebe mit der Liebe zu Frauen vergleicht. Die Frage, ob diese brüderliche Liebe eine sexuelle Komponente enthalten hat, ist hinsichtlich der philologischen und kulturgeschichtlichen Analyse der betreffenden Bibelstelle jedoch innerhalb der aktuellen Theologie umstritten:

Weh ist mir um dich, mein Bruder Jonatan.
Du warst mir sehr lieb.
Wunderbarer war deine Liebe für mich
als die Liebe der Frauen.
(2_Sam 1,26 EU).

Diese Verse sind in Davids Klagenlied für den Tod Sauls und Jonathan enthalten, das nach 2_Sam 1,18 EU in dem Buch des Aufrechten enthalten war: Das Lied soll bei den Übungen zum Bogenschießen gesungen worden sein.

Kritiker dieser liberalen Interpretation führen an, dass bei der Freundschaft von David und Jonathan nirgends direkt eine sexuelle Beziehung erwähnt werde. Die im AT für Geschlechtsverkehr verwendeten Wörter sakab (liegen) und yada (kennen) würden nicht verwendet.[34] Auch sei die Beziehung zwischen David und Jonathan nicht rein persönlich sondern habe im ganzen Narrativ auch eine wesentlich politische Komponente, indem David nicht als Feind des Hauses Saul gezeigt werde. Die alttestamentlichen Editoren machen nach Gagnon keinen Versuch, die emotionale Freundschaft herunterzuspielen, sie betonten sie sogar, was darauf hinweise, dass für sie nichts auf eine skandalöse homosexuelle Beziehung hindeute.[35][36] Allerdings erscheint es als keineswegs völlig sicher, dass die Urheber der Endredaktion der Samuelisbücher eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft Davids zwingend als skandalös empfunden haben müssen, da die Sexualnormen der Führungsschicht der alten Hebräer in manchen Phasen der alttestamentlichen Geschichte nach Auffassung liberaler Theologen durchaus von den Geschlechtervorstellungen ihrer Nachbarvölker, im Falle der Zeit Davids derjenigen der Philister, hätten beeinflusst gewesen sein können bzw. sich teilweise auch innerhalb der altjüdischen Geschichte gewandelt hätten; zudem seien in manchen Phasen der altjüdischen Geschichte im konkreten Handeln der hebräischen Oberschicht Abweichungen von den Sexualnormen des Pentateuchs erkennbar.[37] Eine homosexuelle Beziehung zwischen David und Jonathan resp. Ruth und Naomi wird von manchen konservativen Auslegern als Beispiel für ein „Hinein-interpretieren“ (Eisegesis) der eigenen Positionen in den Text der Bibel kritisiert.[38]

Siehe auch

Literatur

  • Hansjörg Bräumer: Lieben wagen. Hänssler, Stuttgart, 1986.
  • John Boswell: Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality, 1981. ISBN 0-226-06711-4.
  • Alexander Desečar: Die Bibel und Homosexualität: Kritik der revisionistischen Exegese, Schriften des Initiativkreises kath. Laien und Priester in der Diözese Augsburg e.V., Heft 43, 2001 (online, PDF).
  • Robert A. J. Gagnon: The Bible and Homosexual Practice: Texts and Hermeneutics, 2002. ISBN 0-687-02279-7.
  • John Goldingay: Kap. Marriage, in Old Testament Theology. Israel's Life, S 350-383, IVP Academic, 2009. ISBN 0-8308-2561-4
  • Stanley J. Grenz: Welcoming but not affirming, 1998, ISBN 0-664-25776-3.
  • Thomas Grossmann: Eine Liebe wie jede andere. Reinbek, Rowohlt Taschenbuch Verlag 1988.
  • Daniel A. Helminiak, What the Bible Really Says About Homosexuality, 2000 ISBN 1-886360-09-X.
  • Valeria Hinck: Streitfall Liebe. Biblische Plädoyers wider die Ausgrenzung homosexueller Menschen, 2. Auflage, pro literatur Verlag, 2007.
  • Karl Hoheisel: Art. Homosexualität, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 16, Stuttgart 1994, Sp. 329–345.
  • Theodore Jennings: Jacob’s Wound: Homoerotic Narrative in the Literature of Ancient Israel, Continuum, New York 2005, ISBN 0-8264-1712-4.
  • John McNeill: Sie küßten sich und weinten .... Homosexuelle Frauen und Männer gehen ihren spirituellen Weg, Kösel, 1993, ISBN 3-466-36386-1.
  • John McNeill: The Church and the Homosexual, Beacon Press, 1976.
  • Andreas Mohr, Beiträge zur christlichen Anthropologie, Kassel 2007.
  • Eduard Nielsen: Deuteronomium. Handbuch zum Alten Testament: Reihe 1; 6. Mohr, Tübingen 1995
  • W. G. Plaut: Die Tora in jüdischer Auslegung. Band 5: Deuteronomium. Dewarim. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 2003.
  • Wunibald Müller: Homosexualität – eine Herausforderung für Theologie und Seelsorge, Mainz 1986.
  • Eckart Otto, Art. Homosexualität, II. Biblisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 3, Berlin, New York 1986, Sp. 1884.
  • Lothar Ruppert: Genesis. Ein Kritischer und theologische Kommentar. 2. Teilband: Gen 11,27-25,18. Echter Verlag, Würzburg, 2002.
  • Robin Scroggs: The New Testament and Homosexuality. Contextual Background for Contemporary Debate, New York 1983.
  • Christa Spilling-Nöker: Wir lassen Dich nicht, Du segnest uns denn. Zur Diskussion um Segnung und Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Paare im Pfarrhaus, Berlin, Münster 2006.
  • Holger Tiedemann, Paulus und das Begehren. Liebe, Lust und letzte Ziele, Stuttgart 2002.
  • Mona West: Take Back the Word: A Queer Reading of the Bible, Pilgrim Press, 2000, Co-editiert mit Robert Goss.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. 3. Mose 18 in der Lutherübersetzung von 1545
  2. Eintrag „zakar“ in: Gesenius, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 17. Aufl. (1915), Berlin (Nachdr.) 1962, S. 199.
  3. So auch im Strong's Hebrew Dictionary: zaw-kawr' (Worterbuch zur King James Übersetzung der Bibel).
  4. Artikel zakar in: L. Köhler, W. Baumgartner: Hebräisches und aramäisches Lexikon zum Alten Testament, 3. Aufl. (1967-1995), Leiden (Nachdr.) 2004, S. 259f und (dort zitiert) H. Bauer, P. Leander, Historische Grammatik der hebräischen Sprache, Halle a.S. 1922 (1969), 462r.
  5. Stanley Grenz: The Prohibitions of the Holiness Code, S 40-47 in Welcoming but not affirming, 1998
  6. Robert A. J. Gagnon: Leviticus 18:13, 20:13 Laws S 111-146 in The Bible and Homosexual Practice, 2001
  7. Eckart Otto, Art. Homosexualität, II. Biblisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 3, Sp. 1884.
  8. Karl Hoheisel, Art. Homosexualität, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Sp. 337-341.
  9. Spilling-Nöker, Wir lassen Dich nicht, Du segnest und denn, S. 41- 51.
  10. Robin Scroggs, Homosexuality and the New Testament, S. 62–65, 101-109.
  11. Holger Tiedemann, Paulus und das Begehren. Liebe, Lust und letzte Ziele, Stuttgart 2002.
  12. Meyer-Zwiffelhoffer, Im Zeichen des Phallus, S. 67 - 84.
  13. Karl Hoheisel, Art. Homosexualität, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd., 16, Sp. 337: Davon abgesehen jedoch ist der Einfluß des AT [auf das NT bezüglich der Aussagen zu gleichgeschlechtlichem Verhalten] gering. Die Lev[itikus]-Stellen fehlen völlig, und selbst die homosexuelle Interpretation der Sodomageschichte klingt nur ganz am Rande an. Um so deutlicher ist, zumindest in den ausdrücklichen Stellen, der Bezug auf die heidnische Welt.
  14. Röm. 3, 27/28
  15. Röm. 7, 4–6
  16. Röm. 10, 4
  17. Röm. 13, 10
  18. Gal. 3, 11–13
  19. Martin Luther, Ein unterrichtung, wie sich die Christen ynn Mose sollen schicken, gepredigt durch Martinum Luther, in: Paul Pietsch et al. (Hgg.): D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1899, S. 363–393.
  20. Andreas Mohr, Zur ethischen und heilsgeschichtlichen Differenziertheit der einzelnen Bücher innerhalb des Kanons der Heiligen Schrift, in: Beiträge zur christlichen Anthropologie, S. 81–100.
  21. Andreas Mohr, Zur ethischen und heilsgeschichtlichen Differenziertheit der einzelnen Bücher innerhalb des Kanons der Heiligen Schrift, S. 81–100.
  22. Richard B. Hays, The Moral Vision of the New Testament, S. 377.
  23. Johannes Calvin, Der Brief an die Römer, Kapitel 1 und 2.
  24. Vgl.: Gen 38,21ff. EU, Hos 2,7 EU, Hos 4,13-14 EU, Am 2,7 EU, Jer 2,20-23 EU, Jer 3,6-9 EU u.a.
  25. Vgl. Kommentar der Neuen Jerusalemer Bibel zu Dtn 23,19; E. Nielsen, Deuteronomium, S. 220, 222.
  26. a b E. Nielsen, Deuteronomium, S. 220.
  27. E. Nielsen, Deuteronomium, S. 222.
  28. E. Nielsen, Deuteronomium, S. 214.
  29. Vgl.: die literarische Anmerkungen zu Kapitel 22 in W. G. Plaut, Dewarim/Deuteronomium.
  30. Wunibald Müller, Homosexualität – eine Herausforderung für Theologie und Seelsorge, Mainz 1986, S. 64/65.
  31. Stanley J. Grenz: Welcoming but not affirming, 1998.
  32. Vgl.: T. Grossmann, Eine Liebe wie jede andere, S. 68.
  33. Karl Hoheisel, Art. Homosexualität, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 16, Stuttgart 1994, Sp. 332: Selbst wenn die hier mit ‚bis zum Übermaß’ übersetzte Hifil-Form von gadal nach den Wörterbüchern nicht mit ‚gleichgeschlechtlich verkehren’ wiedergegeben werden darf, […] klingt es doch wie die kürzeste Form gleichgeschlechtlicher Liebe, wenn David rückwirkend klagt: ‚Jonathan, Du warst mir über alles lieb! Ja, die Liebe ging mir über Frauenliebe’. […] Mögen auch die Worte, die die Verbindung der beiden jungen Männer umschreiben, nicht die zur Bezeichnung einer quasiehelichen Gemeinschaft typischen sein, betonen nicht nur einzelne Verse für sich gesehen die personale Dimension ihrer Liebe, sondern spricht aus dem gesamten Kontext eine Intimität, die bis an die äußersten Grenzen inniger Freundschaft oder politischer Verschwörung geht.
  34. Markus Zehnder, Exegetische Betrachtungen zu den David-Jonathan-Geschichten, Bib 79, 1998.
  35. Gagnon, David and Jonathan in The Bible and Homosexual Practice, S 146-154
  36. Bezugsangabe
  37. Karl Hoheisel, Art. Homosexualität, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 16, Stuttgart 1994, Sp. 331: Vergegenwärtigt man sich, dass die Führungsschicht [der damaligen antiken Hebräer] unter dem Eindruck der Philisterkultur stand, in der, wie gewöhnlich vermutet, H[omosexualität] nichts Anstößiges hatte, suggerieren auch die Texte eine Liaison zweier Bisexueller. […] Das wohl bereits in der vorstaatlichen Sippenverfassung wurzelnde Verbot Lev. 18, 22 und 20, 13 wurde in den späteren Schriften, besonders in der Weisheitsliteratur, nicht wiederholt.
  38. M. Seemann: Homosexualität und Bibel.

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