Heterochronie

Heterochronie

Heterochronie bezeichnet eine evolutionäre Änderung des zeitlichen Verlaufs der Individualentwicklung, die bewirkt, dass sich

  • der Beginn oder das Ende eines Entwicklungsvorgangs – beispielsweise der Gebissausprägung – verschiebt oder
  • die Geschwindigkeit eines solchen Vorgangs ändert. Ein Beispiel für das letztere Phänomen ist die Beschleunigung des Größenwachstums bei endothermen Wirbeltieren im Vergleich zu ihren ektothermen Vorfahren.

In der Medizin bezeichnet Heterochronie neben der Heterogenese auch die Wirkung von Hormonen zur falschen Zeit (zum Beispiel Pubertas praecox vera).

Pädomorphose und Peramorphose

Heterochrone Evolution, die bewirkt, dass Merkmale der frühen Entwicklungsstadien (Juvenilstadien) eines Vorfahren im Erwachsenenstadium (Adultstadium) eines Nachfahren auftreten, werden als Pädomorphose bezeichnet. Individuen einer Art können im Verlauf ihrer Entwicklung auch Adultstadien einer Vorfahrenart durchlaufen, was als Peramorphose bezeichnet wird.

Formen der Pädomorphose wie die Neotenie, bei der sich die Ausbildung eines Adultmerkmals verzögert und die Progenese, die den Abbruch der Merkmalsausprägung zu einem früheren Zeitpunkt der Ontogenese zur Folge hat, sind sowohl rezent als auch fossil in vielen Gruppen nachgewiesen. Die Verzwergung bei agnostiden Trilobiten, thecideiden Brachiopoden und in vielen anderen Gruppen stellt eine Form der Pädomorphose dar. Auch das Beibehalten von Außenkiemen bis in das Adultstadium, das für manche Amphibienarten charakteristisch ist, wird durch diese Form der heterochronen Evolution hervorgerufen.

Eine Ahnenreihe von Arten, in der das Adultstadium immer stärker den frühen ontogenetischen Stadien der Vorfahren gleicht, das heißt, immer "kindlicher" wird, kann als Pädomorphokline bezeichnet werden. Entsprechend erhalten Entwicklungsreihen, innerhalb derer ehemalige Adultstadien einen immer früheren Platz innerhalb der Ontogenese zugewiesen bekommen, die Bezeichnung Peramorphokline.

Peramorphose liegt beispielsweise dann vor, wenn durch Verlängerung der Wachstumsphase (Hypermorphose) oder Wachstumsbeschleunigung bestimmte Organe gegenüber denen der Vorfahren vergrößert sind. Auch eine allgemeine Körpervergrößerung innerhalb von Entwicklungsreihen ist eine Konsequenz der Peramorphose.

Mechanismen und Bedeutung der heterochronen Evolution

Heterochronie kann durch eine oder wenige häufig auftretende Mutationen hervorgerufen werden, beispielsweise an Genen, die das Ausschütten von Wachstumshormonen regulieren (siehe Riesenwuchs) oder auf andere Weise das Timing während der Ontogenese beeinflussen (siehe auch Hox-Gen).

Aus diesem Grund reagieren Populationen auf bestimmte Selektionsdrücke häufig mit Heterochronie: Bei Ressourcenverknappung auf einer Insel, ist die Verkleinerung der Körpergröße meist eine sparsamere, das heißt, weniger Mutationen und Evolutionsschritte erfordernde, Lösung als beispielsweise das Ausbilden von Flügeln oder Flossen.

Da die Fähigkeit, heterochron zu evolvieren, auf diese Weise in vielen Situationen das Realisieren anderer aufwändigerer Lösungen verhindert, wirkt sie als evolutionäre Schranke (evolutionary constraint), die den Verlauf der Stammesgeschichte einer Gruppe in bestimmte Bahnen lenkt (kanalisiert).

Literatur

  • Glenn S. Jaecks, Sandra J. Carlson: How phylogenetic inference can shape our view of heterochrony: examples from thecideide brachipods. In: Paleobiology 27(2), 2001, S. 205- 225
  • Michael L. McKinny (Hrsg.): Heterochrony in evolution: a multidisciplinary approach. Plenum, New York, 1988
  • Kenneth J. McNamara: Importance of Heterochrony. In: Derek. E.G. Briggs, Peter R. Crowther (Hrsg.): Palaeobiology II. Blackwell, Orford, 2001, S.180- 187, ISBN 0-632-05147-7
  • Kenneth J. McNamara, Michael L. McKinney: Heterochrony, disparity, and macroevolution. In: Paleobiology 31(2), 2005, S. 17- 26
  • Douglas S. Jones, Stephen Jay Gould: Direct Measurement of Age in Fossil Gryphaea: The Solution to a Classic Problem in Heterochrony. Paleobiology, Vol. 25, No. 2, pp. 158-187, 1999

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