Hermann Schmitz (Philosoph)

Hermann Schmitz (Philosoph)

Hermann Schmitz (* 16. Mai 1928 in Leipzig) ist ein deutscher Philosoph, bekannt durch seine Begründung der Neuen Phänomenologie

Inhaltsverzeichnis

Leben

Hermann Schmitz wurde in Leipzig eingeschult und erlangte am Beethoven-Gymnasium Bonn das Abitur. Er studierte von 1949 bis 1953 an der Universität Bonn, wo ihn vor allem Erich Rothacker beeinflusste, und promovierte dort 1955 mit einer Dissertation über Goethes Altersdenken in Begriff und Symbol. 1958 wurde er Assistent am Institut für Philosophie der Universität Kiel, habilitierte sich dort mit der Schrift Hegel als Denker der Individualität und wurde 1971 ordentlicher Professor am selben Institut, das er bis zur Emeritierung 1993 leitete.

Werk

Schmitz begründete mit seinem zehnbändigen System der Philosophie (1964ff) eine neue philosophische Richtung, die Neue Phänomenologie. Diese zielt darauf ab, das Feld der alltäglichen und unmittelbaren Erfahrungen zu erfassen — nach dem Motto von Edmund Husserl, dem Begründer der phänomenologischen Bewegung: „Zu den Sachen selbst!“ Allerdings weicht Schmitz in beträchtlicher Weise von der klassischen Phänomenologie ab.

1977, noch vor Abschluss seines „Systems“, gab Schmitz einen Abriss von „Absicht, Methode, Grundgedanke“ seiner Arbeit.[1] Als Absicht nennt er: „das Ergreifende auf Begriffe zu bringen.“ Er wolle „einer besonnenen Offenheit gegenüber den unwillkürlich ergreifenden Mächten den Weg bahnen.“ Seine Methode sei „Phänomenologie in neuem, empirisch ernüchterten Stil.“ Sein Grundgedanke ist, dass die „Innenwelthypothese“ Quell aller „Verfehlungen“[2] des abendländischen Geistes seit der Antike sei. Schmitz „will beschreiben, wie die Welt sich zeigt, wenn ihr zurückgegeben wird, was man fälschlich in die vermeintlich private Innenwelt einzelner Subjekte (Seele, Bewusstsein, Gemüt, pp.) hineingesteckt hat.“ Der Sinn von Subjektivität sei neu (ohne Berufung auf Innenwelten) zu bestimmen. Mit Hilfe des „Spürens am eigenen Leib (Leiblichkeit) und des Fühlens (Gefühle)“ und der durch die Neue Phänomenologie ermöglichten kategorialen Erschließung der so wahrgenommenen Gegenstände könne erstmals der jahrtausendealte „Psychologismus“ überwunden werden. Durch die „Eichung von Worten an Phänomenen“ werde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Menschen in die Lage versetzt werden, „über Erfahrungen zu sprechen, die ihnen wichtig werden, wenn sie nach durchdringender Enttäuschung des Lebens in Projektionen und Utopien Gelegenheit und Bedürfnis haben, ihren Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern.“[3]

Theoretischer Kernbegriff der Philosophie von Schmitz ist der Begriff des Leibes. Hier greift Schmitz auf Vordenker wie Ludwig Klages, Max Scheler, Maurice Merleau-Ponty und andere zurück. Schmitz erläutert sein Verständnis von Leib wie folgt: „Wenn ich vom Leib spreche, denke ich nicht an den menschlichen oder tierischen Körper, den man besichtigen oder betasten kann, sondern an das, was man in dessen Gegend von sich spürt, ohne über ein 'Sinnesorgan' wie Auge oder Hand zu verfügen […].“[4] Damit ist der für die traditionelle Philosophie klassische Dualismus von Körper und Seele radikal in Frage gestellt. Schmitz' Neue Phänomenologie kann daher auch treffend als Leibphilosophie bezeichnet werden. Vom Leib als zentralem Gegenstand der Analyse aus gelangt Hermann Schmitz auf nahezu allen Gebieten der Philosophie zu neuen Einsichten, die er zu seinem „System der Philosophie“ zusammengefasst hat. Eine kritische Retraktion bestimmter Aspekte des „Systems“ hat Schmitz 1990 in seinem Werk Der unerschöpfliche Gegenstand vorgelegt.

Neben seinem umfangreichen systematischen Werk hat Schmitz zahlreiche philosophiehistorische Werke erarbeitet und veröffentlicht, die seine eigenen Gedanken in den Kontext der Geschichte stellen. Dabei hat sich Schmitz mit Vertretern nahezu aller Epochen der abendländischen Kultur beschäftigt, so unter anderem mit Anaximander, Parmenides, Platon, Aristoteles, Suarez, Kant, Goethe, Fichte, Hegel, Stirner, Nietzsche, Husserl, Heidegger und Wittgenstein.

Wirkung

Die Neue Phänomenologie hat mit ihrem Angebot an offenbar gut verwendbaren Begriffen Eingang in einige nicht-philosophische Disziplinen gefunden, vor allem in die Medizin und Psychologie.[5] Aber auch auf anderen Gebieten wie etwa der Linguistik[6] konnte sie sich als anwendungsorientierte Philosophie erfolgreich behaupten. Die Gesellschaft für Neue Phänomenologie führt seit 1993 jährlich eine Tagung mit renommierten Teilnehmern durch und gibt eine Buchreihe Neue Phänomenologie heraus, die im Karl Alber-Verlag erscheint. Am 1. Februar 2006 wurde am Institut für Philosophie der Universität Rostock eine Hermann-Schmitz-Stiftungsprofessur für phänomenologische Forschung eingerichtet. Der Lehrstuhl ist mit einem Schüler Schmitz', Michael Großheim, besetzt. Für Hermann Schmitz' Neue Phänomenologie ist somit seit Jahren eine fortschreitende Schulbildung zu beobachten.

Schriften (Auswahl)

  • Goethes Altersdenken in Begriff und Symbol, (Bd 1, [T.] 1. 2. Bd 2) Diss. Bonn, Phil. Fak. 1955, 1295 S. (masch.)
  • Hegel als Denker der Individualität, Hain, Meisenheim/Glan 1957, 168 S. (Habil. Kiel, Phil. Fak. 1958)
  • Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang, Bonn 1959, 584 S.
  • Subjektivität. Beiträge zur Phänomenologie und Logik, Bonn 1968, 171 S.
  • Nihilismus als Schicksal?, Bonn 1972, 50 S.
  • System der Philosophie
    • Bd. I: Die Gegenwart, Bonn 1964, XII, 475 S.
    • Bd. II: 1. Teil: Der Leib, Bonn 1965, XVI, 631 S.
    • Bd. II: 2. Teil: Der Leib im Spiegel der Kunst, Bonn 1966, XI, 312 S.
    • Bd. III: Der Raum, 1. Teil: Der leibliche Raum, Bonn 1967, XIX, 512 S.
    • Bd. III: Der Raum, 2. Teil: Der Gefühlsraum, Bonn 1969, XIV, 560 S.
    • Bd. III: Der Raum, 3. Teil: Der Rechtsraum. Praktische Philosophie, Bonn 1973, XIX, 742 S.
    • Bd. III: Der Raum, 4. Teil: Das Göttliche und der Raum, Bonn 1977, XVIII, 721 S.
    • Bd. III: Der Raum, 5. Teil: Die Wahrnehmung, Bonn 1978, XII, 272 S.
    • Bd. IV: Die Person, Bonn 1980, XVI, 608 S.
    • Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart, Bonn 1980, XIV, 230 S.
  • Neue Phänomenologie, Bonn 1980, 133 S.
  • Die Ideenlehre des Aristoteles
    • Bd. 1: Aristoteles 1. Teil: Kommentar zum 7. Buch der Metaphysik, Bonn 1985, XXII, 324 S.
    • Bd. 1: Aristoteles 2. Teil: Ontologie, Noologie, Theologie, Bonn 1985, XIX, 606 S.
    • Bd. 2: Platon und Aristoteles, Bonn 1985, XXVI, 610 S.
  • Anaximander und die Anfänge der griechischen Philosophie, Bonn 1988, 79 S.
  • Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988, XX, 425 S.
  • Was wollte Kant?, Bonn 1989, 385 S.
  • Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, 528 S.
  • Hegels Logik, Bonn 1992, 449 S.
  • Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel, Bonn 1992, 317 S.
  • Die Liebe, Bonn 1993, 234 S.
  • Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, XIV, 364 S.
  • Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, XII, 439 S.
  • Husserl und Heidegger, Bonn 1996, XIII, 584 S.
  • Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, 233 S.
  • Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, 418 S.
  • Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999.
  • Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, 435 S.
  • Situationen und Konstellationen: Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Alber, Freiburg/Br. 2005, 302 S., ISBN 978-3-495-48146-2
  • Freiheit, Alber, Freiburg/Br. 2007, 169 S., ISBN 978-3-495-48297-1
  • Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung.
  • Logische Untersuchungen, Alber, Freiburg/Br. 2008, 164 S., ISBN 978-3-495-48315-2
  • Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Alber, Freiburg/Br. 2009, 136 S., ISBN 978-3-495-48361-9
  • Jenseits des Naturalismus, Alber, Freiburg/Br. 2010, 391 S., ISBN 978-3-495-48381-7
  • Bewusstsein, Alber, Freiburg/Br. 2010, 144 S., ISBN 978-3-495-48425-8

Literatur

  • Vollständige Bibliographie Hermann Schmitz
  • Michael Großheim (Hrsg.): Rehabilitierung des Subjektiven : Festschrift für Hermann Schmitz. Bouvier, Bonn 1993, ISBN 3-416-02454-9 (formal falsche ISBN)
  • Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz. Bouvier Verlag, Bonn 1998, ISBN 3-416-02788-4.
  • Hans Werhahn: Die neue Phänomenologie und ihre Themen. Koch, Rostock 2003 ISBN 3-937179-15-1.
  • Wolfgang Sohst (Hrsg.): Hermann Schmitz im Dialog : neun neugierige und kritische Fragen an die Neue Phänomenologie. Xenomoi-Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-936532-44-3.
  • Michael Großheim (Hrsg.): Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie : Festschrift für Hermann Schmitz. Alber, Freiburg/Br. 2008, ISBN 978-3-495-48309-1.

Quellen

  1. Hermann Schmitz: Mein System der Philosophie. Absicht - Methode - Grundgedanke. In: Information Philosophie. Jan./Feb. 1977, S. 2 (Forts. S. 23)
  2. vgl. dazu Hermann Schmitz: Die vier Verfehlungen des abendländischen Geistes. In: ders.: Adolf Hitler in der Geschichte. Bouvier, Bonn 1999, S. 32-82.
  3. Hermann Schmitz: Mein System…, op.cit.
  4. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Bonn 1990, S. 115.
  5. Vgl. etwa Dirk Schmoll, Andreas Kuhlmann (Hrsg.): Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen. Freiburg/München 2005.
  6. Vgl. Stefan Volke: Sprachphysiognomik - Grundlagen einer leibphänomenologischen Beschreibung der Lautwahrnehmung. Freiburg 2007.

Weblinks


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