Heinz Gräfe

Heinz Gräfe

Heinz Gräfe (* 15. Juli 1908 in Leipzig; † 25. Januar 1944 nahe München bei einem Autounfall) war als Oberregierungsrat SS-Obersturmbannführer im Reichssicherheitshauptamt sowie Führer des Einsatzkommandos 1 der Einsatzgruppe V der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei im deutsch besetzten Polen.

Inhaltsverzeichnis

Herkunft, Schule und Studium

Heinz Gräfe wurde am 15. Juli 1908 in Leipzig geboren. Sein Vater Paul Gräfe war Buchhändler in der von dessen Vater Emil Gräfe 1884 gegründeten Buchhandlung. Paul Gräfe fiel im November 1914 an der Westfront in Flandern. Die alleinstehende Mutter hatte drei Kinder in schwieriger Zeit als Postsekretärin durchzubringen.

Ab 1915 besuchte Heinz Gräfe das Realgymnasium in Leipzig, das er als Jahrgangsbester 1928 mit dem Abitur verließ. Mit einem Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes finanzierte er sein Jurastudium an der Universität Leipzig. Dort engagierte er sich als Vorstandsmitglied der Studentenschaft.

Am 31. August 1929 lernte er auf einer Geburtstagsfeier seine künftige Frau kennen. Diese stammte aus einer bürgerlichen Kaufmannsfamilie, machte 1930 ihr Abitur und begann im Herbst des gleichen Jahres eine Ausbildung als Bibliothekarin. Am 31. August 1932 fand die Verlobung statt.

In der Gräfeschen Wohnung traf sich ein Freundeskreis von fünf jungen Studenten, die in der wirtschaftlichen Selbsthilfe der Studentenschaft tätig waren und sich den Namen „Schwarze Hand“ gaben. Auch gesellschaftliche und politische Themen bestimmten die Interessen dieses Zirkels. 1928 unternahm Gräfe eine Fahrt nach Kärnten, Slowenien und in die Steiermark, um hier volksdeutsche Siedlungen zu besuchen. Im April 1929 organisierte er eine 14-tätige Tagung in Miltenberg, auf der u. a. als Referent der Soziologe Hans Freyer (1887–1969) sprach. Themen waren Begriffe wie „Volk“, „Staat“, „Demokratie“ und „Parlamentarismus“. 1930 fand wiederum eine Tagung, diesmal in Wertheim statt, an der der Soziologe Gunther Ipsen (1899–1984) über das Thema „Kapitalismus und moderne Gesellschaftsordnung“ mit den Studenten diskutierte. Unter den studentischen Teilnehmern befanden sich mehrere Kommilitonen, denen Gräfe später in maßgeblichen Funktionsstellungen im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) wieder begegnen sollte; so Wilhelm Spengler, der spätere Leiter der Gruppe C (Kultur) im Amt III des SD-Inland und Erhard Mäding, der ab 1942 als Referent für Landschaftsplanung beim Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums am „Generalplan Ost“ mitarbeitete und 1944 schließlich nach dem Tode von Heinz Gräfe Leiter des Referats III A 3 (Verfassung und Verwaltung) im RSHA wurde.

Vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) wurde die Wertheimer Tagung als Geldverschwendung kritisiert. Der Zwist zwischen dem NSDStB und der „Schwarzen Hand“ wirkte sich für Gräfe bis 1938 und 1943 in seiner Beurteilung durch den SD-Oberabschnitt Nord-Ost aus, in der er „als Intellektueller mit einer ausgesprochenen pazifistischen Richtung“ und als Gegner des Nationalsozialismus vor der „Machtübernahme“ bezeichnet wurde.

Beim Sicherheitsdienst (SD)

Nach der „Machtergreifung“ Hitlers näherte sich Gräfe den neuen Kräften durch Beitritt in den NS-Juristenbund an. Er trat am 15. Juni 1933 jedoch nicht einer weiteren NS-Organisation bei, sondern der Studentengruppe des „Stahlhelms“ in Leipzig. Auch dies wurde vor seiner Übernahme in den Probedienst der preußischen inneren Verwaltung kritisch vermerkt. Als der „Stahlhelm“ im Herbst 1933 im Rahmen der Gleichschaltung in die SA bzw. SS überführt wurde, war Gräfe bei den neuen Machthabern angelangt. Nun musste er sich entscheiden, ob er mitmachen oder abseitsstehen bleiben sollte. Trotz seiner Gegnerschaft zum NSDStB an der Leipziger Universität, konnte er sich jedoch inhaltlich mit dem Programm der NSDAP weitgehend identifizieren, auch wenn er gewisse von ihm als plebejisch bezeichnete Erscheinungen der NS-Bewegung ablehnte.

Durch Vermittlung von Erhard Mäding, der mit Gräfe 1933 sein Referendariat am Amtsgericht Pirna ableistete und später sein Schwager wurde, gelange Gräfe Ende 1933 zum Sicherheitsdienst Reichsführer-SS (SD), dem Nachrichtendienst der Partei. Die kleine und als elitär geltende NS-Organisation erschien als geeignetes Vehikel für eine politische Karriere unter den sich abzeichnenden Zukunftsaussichten. In seinem Lebenslauf schrieb Gräfe 1934, dass er dem SD „mit Leib und Seele“ angehöre. Hier trugen Gräfe und Mäding auf dem Gebiet der sog. Lebensgebietsarbeit, also der systematischen Beobachtung aller gesellschaftlichen Bereiche, zum Aufbau eines Informationsnetzes in Sachsen bei.

Bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo)

Nach Ablegung des Assessorexamens im August 1934 mit der außergewöhnlichen Note „Gut“, trat Gräfe Ende 1935 in die Gestapo ein und wurde der Staatspolizeistelle (Stapostelle) Kiel zugewiesen. Nach Ablauf eines neunmonatigen Probedienstes bestellte ihn Reinhard Heydrich aufgrund seiner „hervorragenden Fähigkeiten und Leistungen“ zum Vertreter des Leiters der Kieler Stapostelle Hans-Ulrich Geschke. Nach Übernahme in den preußischen Landesdienst als Regierungsassessor wurde Gräfe im Oktober 1937 nach Tilsit versetzt. Bereits im November 1937 übernahm er als Nachfolger von Walter Huppenkothen die dortige Stapostelle und damit zugleich den SD-Unterabschnitt Gumbinnen. Hier nahm er Kontakte zur litauischen Sicherheitspolizei auf bzw. nach der sowjetischen Besetzung Litauens im Herbst 1939 zur antikommunistischen Untergrundbewegung. Bei den Anstrengungen zur Rückführung des durch den Versailler Vertrag von Deutschland abgetrennten und 1923 von Litauen besetzten Memellandes leistete Gräfe Hilfe, so dass am 22. März 1939 Litauen das Memelland wieder an das Deutsche Reich zurückgab.

Im November 1938 wurde Gräfe zum Regierungsrat ernannt und im April 1939 zum SS-Sturmbannführer befördert. Im Personalbericht vom März 1939 von Gräfes Vorgesetzten, dem Inspekteur der Sicherheitspolizei (IdS) Nordosten und Führers des SD-Oberabschnittes Nordosten, SS-Brigadeführer Jakob Sporrenberg, wurden immer noch Vorbehalte hinsichtlich seiner nationalsozialistischen Überzeugung geäußert. Danach wolle Gräfe „unbedingt als NS gelten, sei aber vielleicht innerlich noch nicht restlos überzeugt“. Seine fachlichen Leistungen wurden zwar voll anerkannt, jedoch mehr nationalsozialistische und SS-mäßige Haltung eingefordert.

Bei den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei in Polen

Mit Beginn des Polenfeldzuges wurde Gräfe als Führer des Einsatzkommandos 1/V in Rahmen des mit dem Decknamen „Unternehmen Tannenberg“ bezeichneten Einsatzes der Sicherheitspolizei und des SD in Polen verwendet. Das Einsatzkommando 1 (EK 1) marschierte als Teil der Einsatzgruppe V nach deren Aufstellung im Bereich Allenstein/Ostpreußen unter der Führung von SS-Standartenführer Ernst Damzog im Verband der zur Heeresgruppe Nord (v. Bock) gehörenden 3. Armee des Generals Georg von Küchler von Ostpreußen aus in Polen ein, um dort seinen Auftrag zur Liquidierung der polnischen Führungskreise zu erfüllen. In der Uniform der SS-Verfügungstruppe mit der SD-Raute am linken Ärmel führte Gräfe als SS-Sturmbannführer sein etwa 120 Mann starkes EK 1 in das nördliche Polen. Am 7. September 1939 meldete Gräfe, dass er für die 600 Mitglieder zählende jüdische Gemeinde von Graudenz die Anlegung eines Personenverzeichnisses durch jüdische Bevollmächtigte angeordnet habe, um so die Abwanderung der noch verbliebenen Juden vorzubereiten und einen Auswanderungsfonds zu schaffen. Die männlichen Juden waren bereits aus Graudenz geflohen. Zwei beim Plündern ergriffene Polen wurden auf Weisung aus Berlin erschossen. Nach vier Wochen (am 28. September 1940) wurde Gräfe zum RSHA nach Berlin versetzt.

Zwischen September 1939 und Frühjahr 1940 liquidierten die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei 60.000 bis 80.000 Menschen in Polen.

Im Reichssicherheitshauptamt

Walter Schellenberg benannte Gräfe Anfang Februar 1940 zum Hauptbevollmächtigten des Amtes VI (SD-Ausland) für die baltischen Staaten. Ein Jahr später wurde Gräfe zum 1. April 1941 Leiter der Amtsgruppe VI C (Russisch-japanisches Einflussgebiet) im RSHA. Gräfe versuchte Ende Juni 1941 vergeblich den litauischen General Rastikis, der nach der sowjetischen Besetzung des Baltikums nach Berlin emigrierte, für eine Kollaborationsregierung in Litauen zu gewinnen.

Am 21. Oktober 1941 wurde Gräfe zum Amt IV des RSHA abgeordnet, um schon mit Befehl Heinrich Müllers vom 4. März 1942 wieder zum Amt VI C, das in der Berkaer Straße 32 untergebracht war, zurückzukehren. Hier wurde er durch Zuweisung des Sonderreferates VI C/Z mit der Vorbereitung und Durchführung des „Unternehmens Zeppelin“ beauftragt. Hierfür entwarf er zur Jahreswende 1941/42 den „Plan einer Aktion für politische Zersetzungsversuche in der Sowjetunion“. Ausgehend von der Erkenntnis, dass sich unter den sowjetischen Kriegsgefangenen eine große Anzahl „wertvoller Kräfte“ befänden, die ihre Bereitschaft für einen antisowjetischen Einsatz hinter der Front erklärt hätten, präsentierte Gräfe einen Plan zur Anwerbung, Ausbildung und zum Einsatz von Agenten, die als Sabotagetrupps gezielt sowjetische Infrastruktureinrichtungen zerstören sollten. Die Führung dieser Aktion unter dem Decknamen „Unternehmen Zeppelin“ sollte ausschließlich beim RSHA liegen. Hitler stimmte diesem Plan zu. In enger Abstimmung mit dem Oberkommando der Wehrmacht wurden von eigens dazu bestimmten SS-Führern der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD aus Kriegsgefangenen nichtrussischer Völkerschaften geeignete Freiwillige ausgewählt. Nach Ausbildung in Grund- und Spezialkursen wurden ab Juni 1942 bis Ende September 1942 insgesamt 104 Agenten eingesetzt, die vornehmlich als Fallschirmspringer über dem Kaukasus abgesetzt wurden. Die angewiesenen Zerstörungen von Hochspannungsleitungen, Verkehrswegen, Ölförderungsanlagen usw. waren jedoch ohne größeren technischen Aufwand nicht durchzuführen, so dass die Aktion nur mäßigen Erfolg aufwies. Gräfe übergab im Juli 1942 die Leitung des Sonderreferates VI C/Z an Dr. Rudolf Oebsger-Röder ab, das schließlich ab März 1943 von Walter Kurreck geleitet wurde. Am 18. Dezember 1942 nahm Gräfe an einer Besprechung im Ostministerium über die künftige Politik in den besetzten Ostgebieten teil und traf in dieser Runde u. a. auch mit den späteren Verschwörern des 20. Juli, Tresckow, Wagner, Schlabrendorff und Stauffenberg zusammen. Hier teilte er ebenfalls die von den Militärs vorgetragene Kritik an der praktizierten Politik in den besetzten Ostgebieten, die alle Versuche, die antibolschewistischen Kräfte für die deutsche Sache zu gewinnen, scheitern ließe. Bewaffnete Kampf- bzw. Sicherungsverbände aus Bewohnern der besetzten Gebiete wurden jedoch von Hitler zum damaligen Zeitpunkt kategorisch abgelehnt.

Mit Ende des Jahres 1943 verlor das „Unternehmen Zeppelin“ zunehmend an Bedeutung, wurde jedoch trotzdem bis 1945 organisatorisch aufrechterhalten.

Gräfe hielt weiterhin seine Verbindungen zum Oberkommando des Heeres und zum Ostministerium aufrecht und referierte noch am 19./20. Januar 1944 in Königsberg zum Thema „Nachrichtendienstliche Arbeit im Ostraum“. Ein Woche später verunglückte er zusammen mit dem Leiter der Amtsgruppe III A (Rechtsordnung) des RSHA, Karl Gengenbach, bei einem Autounfall in der Nähe von München tödlich.

Literatur

  • Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH, 2002, ISBN 3-930908-75-1
  • Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1981, ISBN 3421019878

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