Heimkampagne

Heimkampagne

Die sogenannte „Heimkampagne“ war eine Kampagne der Außerparlamentarischen Opposition (APO) zur Veränderung der als repressiv empfundenen Bedingungen in westdeutschen Kinder- und Jugendheimen ab Ende der 1960er Jahre.

Erst 2006 legte eine beachtete Buchdokumentation, Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, den tatsächlich großangelegten Missbrauch von Heimkindern in Westdeutschland zwischen 1945 und 1970 dar. Es ordnete dabei die „Heimkampagne“ als wesentlich für eine allmähliche Beendigung der Zustände ein.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Neben der Region Frankfurt lag ein weiterer Schwerpunkt der Kampagne in Berlin. Mit ihr, initiiert von Frankfurter Lehrlingen und SDS-Studenten im Jahre 1969, sollten jugendliche Insassen von Kinderheimen, insbesondere von geschlossenen Einrichtungen, wie etwa im Fürsorgeerziehungsheim Staffelberg bei Biedenkopf, unterstützt werden. Insbesondere wurden strengen Regelungen und beengte Unterbringungen kritisiert. Der damalige Frankfurter Pädagogik-Professor Klaus Mollenhauer und Studenten seiner Fakultät schlossen sich der Kampagne an. Ebenso waren die späteren RAF-Terroristen Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin[1], Astrid Proll und ihr Bruder Thorwald in der Bewegung aktiv. Meinhof schrieb das Drehbuch des für eine Ausstrahlung im Jahre 1970 geplanten Fernsehfilms Bambule über ein Mädchenheim in West-Berlin. Bei den Dreharbeiten lernte sie Irene Goergens kennen. Nachdem eine bundesweite Fahndung nach Ulrike Meinhof angelaufen war, wurde der Fernsehfilm abgesetzt. Das Drehbuch erschien daraufhin 1971 im Verlag von Klaus Wagenbach. Der Fernsehfilm wurde jedoch erstmals 1994 gesendet.

Während der sogenannten „Staffelberg-Kampagne“ verließen 20 Insassen ein Heim, unter anderem Peter-Jürgen Boock. Nachdem das Büro des Frankfurter Jugendamtsleiters besetzt wurde, konnte Wohnraum für ehemalige Heimkinder beschafft werden. In vier Wohnungen wurden Wohnkollektive gegründet. Nach deren Vorbild sind die noch heute üblichen „betreuten Jugendwohngemeinschaften“ entstanden. In den damals neu aufgekommenen Lebensformen wie Kommunen und Wohngemeinschaften wurde Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, unterzutauchen.

Eine wichtige Forderung der Kampagne bestand später in besseren Ausbildungsmöglichkeiten. Weitere Errungenschaften dieser ersten Heimbewegung waren eine Differenzierung und Dezentralisierung von Einrichtungen, eine Reduzierung der Gruppengröße, eine gesellschaftliche Ächtung repressiver Erziehungsmaßnahmen sowie Verbesserungen in der Qualifizierung des Personals.

Allerdings ist rückblickend auch festzuhalten, dass die Vorstellungen der Studentenbewegung, die Heimkamagnen zu einem Instrument des Klassenkampfes zu machen, sich rasch als illusionär erwiesen. Zu groß waren die Interessengegensätze und lebensweltlichen Differenzen zwischen Studierenden und den von ihnen Aufgenommenen. Die Jugendlichen wehrten sich nach einiger Zeit gegen ständigen Diskussionszwang im Plenum und die Bevormundung durch die Studenten und wollten ihre Angelegenheiten lieber selbst in die Hand nehmen. Umgekehrt waren viele Studenten zutiefst enttäuscht über das fehlende revolutionäre Bewusstsein der Heimjugendlichen. Dass die Heimkampagnen dennoch nicht wirkungslos blieben, lag wesentlich an der enormen öffentlichen Resonanz, die die Aktionen von Beginn an fanden. Im aufgeheizten Medienklima der ausgehenden sechziger Jahre griff eine Flut von Presseberichten, Rundfunk- und Fernsehsendungen das Thema auf und setzte sich gleichfalls kritisch mit den Zuständen in den Erziehungsheimen auseinander.

Erst 2008 hat auch der Deutsche Bundestag in einem Petitionausschuss-Beschluss „erlittenes Unrecht und Leid, das Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kinder- und Erziehungsheimen in der alten Bundesrepublik in der Zeit zwischen 1945 und 1970 widerfahren ist“ anerkannt und bedauert. Auf der Grundlage der Empfehlung des Petitionsausschusses in seiner Sitzung am 26. November 2008[2] konstituierte sich am 17. Februar 2009 der Runde Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren. Am 10. Dezember 2010 verabschiedeten dessen Mitglieder einen Abschlussbericht, in dem unter anderem eine Entschädigung der Geschädigten mit mindestens 120 Millionen € empfohlen wurde.

Siehe auch

Weblinks

Literatur

  • Michael Post, Erziehung im Heim. Perspektiven der Heimerziehung im System der Jugendhilfe, 2002, ISBN 3-7799-1046-2, S. 30 ff.
  • Klaus Lehning Hg.), Aus der Geschichte lernen - die Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, die Heimkampagne und die Heimreform. Kassel 2006; ISBN 978-3-925146-65-7
  • Markus Köster: Holt die Kinder aus den Heimen! Veränderungen im öffentlichen Umgang mit Jugendlichen in den 1960er Jahren am Beispiel der Heimerziehung, in: Matthias Frese u.a.(Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003.

Einzelnachweise

  1. http://www.zeit.de/2006/07/Heimkinder?page=8
  2. Empfehlung des Petitionsausschusses in seiner Sitzung am 26. November 2008 zur Petition die Situation von Kindern und Jugendlichen in den Jahren 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland in verschiedenen öffentlichen Erziehungsheimen betreffend. 26. November 2008 (pdf)

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