Hans Würtz

Hans Würtz

Hans Würtz (* 18. Mai 1875 in Heide, Holstein als Johannes Hansen[1]; † 13. Juli 1958 in Berlin) war einer der einflussreichsten und umstrittensten Protagonisten der „Krüppelpädagogik“ (Körperbehindertenpädagogik) in der Zeit der Weimarer Republik.

Oskar-Helene-Heim, Berlin-Zehlendorf, Hauptgebäude

Inhaltsverzeichnis

Leben

Vorbemerkungen zu Begrifflichkeiten

Innerhalb des 20. Jahrhunderts hat sich die gesellschaftliche Einstellung zu Menschen mit Behinderung sehr stark verändert, was man besonders beim Vergleich von modernen Begrifflichkeiten und den entsprechenden veralteten Worten erkennen kann. Am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff „Krüppel“ nicht nur in der Umgangssprache verwendet, sondern er war ein fachwissenschaftlicher Terminus. Das Wort „Krüppel“ ist heute nicht nur in der Wissenschaft sondern auch in der Umgangssprache verpönt, da dessen Gebrauch als zutiefst stigmatisierend gilt. Deshalb einigte man sich darauf, synonym dafür die Begrifflichkeiten „Menschen mit Körperbehinderung“ zu verwenden.

Würtz war ein eifriger Verfechter des Begriffs "Krüppel", der seinerzeit schon aufs heftigste kritisiert wurde. Er lehnte alle vorgeschlagenen Ersatzworte, wie beispielsweise "beschädigt", "hilfsbedürftig" oder "bresthaft" ab, da diese nicht das bezeichnen, was in dem "Kraftwort" "Krüppel" steckt. Dabei lieferte er eine eigenartige Begründung:

"Die Buchstaben 'Kr' sind krachend, aufreizend, hart und weisen Sentimentalität zurück. Das Doppel-P unterstreicht mit einem Zug von verschmitzter Keckheit das Trotzige des 'Kr'. Der Ausdruck Krüppel kennzeichnet treffend die Seele des Krüppels" (Würtz 1934, Sp. 1484 f).

Persönliche und berufliche Entwicklung

Sein Vater Johann Peter Würtz und seine Mutter Johanna Olufs, geb. Hansen, verstarben schon in seiner frühesten Kindheit, weshalb er bei einem Onkel auf der Insel Föhr aufwuchs. Zu seinen Pflegeeltern hatte er ein schlechtes Verhältnis. Er schlug auch das Angebot aus, in das Handelsgeschäft seines Onkels einzutreten. Stattdessen wollte Würtz Lehrer werden und sich hilfebedürftigen Kindern annehmen.

Nach seiner Lehrerausbildung auf der Präparandenanstalt in Apenrade nahm er eine Stelle als Aushilfslehrer auf Föhr an. Aufgrund von Auseinandersetzungen mit Dozenten wurde er vom Lehrerseminar in Tondern, das er ab 1894 besuchte, vorzeitig entlassen. Durch gute Beziehungen bekam Würtz am Lehrerseminar in Eckernförde eine zweite Chance.

Nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung als Volksschullehrer 1902, widmete er sich mit großem Engagement seiner Tätigkeit als Volksschullehrer im Heidedorf Uk. Fuchs sagt, dass Würtz geradezu besessen vom Lehren schien. Er gründete einen Leseclub und einen Theaterverein und warnte als Mitglied des Guttemplerordens auf sonntäglichen Zügen von Dorf zu Dorf vor dem Alkoholgenuss. Nach einem Disziplinarverfahren, das wegen Unruhestiftung gegen ihn eingeleitet wurde und zu seinen Gunsten ausging, bekam er eine Gehaltserhöhung.

Oskar-Helene-Heim, Nebengebäude 20

Im Jahr 1904 wurde er als Volksschullehrer nach Altona berufen, wo er seine Frau, Gertrud Nielson, kennenlernte, die er 1907 heiratete. In Hamburg entwickelte sich auch die langjährige Freundschaft zum Biosophen Willy Schlüter, mit dem er 1914 das Buch „Uwes Sendung“ publizierte. Durch eine weitere Freundschaft zu der engagierten Frauenrechtlerin Anna Plothow erhielt er 1910 eine Stelle als Volksschullehrer in der Knabenschule in Berlin-Tegel und wurde schließlich 1911 an die Berliner Krüppel-Heil- und Erziehungsanstalt für Berlin-Brandenburg berufen. Aus dieser Anstalt ging das Oskar-Helene-Heim in Berlin-Zehlendorf hervor, an dem Würtz die Stelle des Erziehungsinspektors einnahm.

Hans Würtz baute gemeinsam mit dem Arzt Konrad Biesalski das Oskar-Helene-Heim auf, das unter der Leitung der beiden eine der größten orthopädischen Privatanstalten für Kinder und Jugendliche war. Es galt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als Zentrum der Krüppelfürsorge in Deutschland und erwarb sich internationalen Ruf. In der Einrichtung war auch die "Geschäftsstelle der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge E. V." und des "Preußischen Landesverbandes für Krüppelfürsorge" untergebracht.

Obwohl Würtz sowohl theoretische als auch praktische Erfahrungen in der Krüppelfürsorge fehlten, arbeitete er nun mit großem Engagement mit jungen körperbehinderten Menschen. Daneben war er noch rege als Referent tätig. So sprach er beispielsweise Anfang September 1920 auf dem VI. Kongreß für Krüppelfürsorge in Berlin über die "Seelenkundlichen Bedingungen für die erzeiherische Arbeit in den verschiedenen Arten der Krüppelschulen, insbesondere im Kindergarten":

Der Redner schilderte, wie die psychischen Besonderheiten des Krüppeltums, die nicht auf Veranlagung beruhen, sondern erst infolge von Hemmungen im Bewußtseinsleben entstehen, besonders gute psychologische Beobachtungsgabe und seinen pädagogischen Takt beim Lehrenden erfordern. Den Kindergarten will Direktor Würtz von jeder Verstandesstarrheit bewahrt wissen. Sine Aufgabe ist es, unter Zuhilfenahme sinnespsychologischer Übungen, das sinnesscheue Krüppelkind in die bunte Welt des Sinneslebens einzuführen, seinen behinderten Lebensrhythmus auzugleichen und ihm, zu helfen, die Welt der Gemeinschaft selbsttätig zu erobern“ (Kinderheim 1921, S. 58).

1928 wurde seine Ehe geschieden. Er heiratete noch im selben Jahr Rosalie von Molo, die frühere Frau des Schriftstellers Walter von Molo.

Arbeit in der „Krüppelfürsorge“ und weiterer Lebensweg

Würtz entwickelte von 1911 bis 1933 vor dem Hintergrund sozialdarwinistischer, eugenischer und rassenhygienischer Vorstellungen eine spezielle Pädagogik für körperbehinderte Menschen, die Krüppelpädagogik, welche auch von der Reformpädagogik geprägt war. In dieser produktivsten Phase seines Lebens entwickelte er alle Ideen zu seiner Krüppelpädagogik und Krüppelpsychologie. Seine Beobachtungen und die Konzepte, die sich daraus ergaben, legte er in der Zeitschrift für Krüppelfürsorge, deren Mitherausgeber er von 1915 bis 1933 war, dar.

Seit 1915, war er neben der Tätigkeit als Erziehungsinspektor, auch als Verwaltungsdirektor des Oskar-Helene-Heims tätig und in Vereinen und Verbänden sowohl der Krüppel- als auch der Waisenfürsorge engagiert. Im Jahr 1930 verstarb der Orthopäde Konrad Biesalski. Würtz und Biesalski hatten viele Jahre partnerschaftlich und gleichberechtigt zusammengearbeitet und stimmten in ihrer Grundauffassung der Krüppelfürsorge sehr stark überein. Nach dem Tod Biesalskis war Würtz der wichtigste Repräsentant des Oskar-Helene-Heims.

Direkt nach Machtergreifung des NS-Regimes 1933, wurde Würtz als Volksfeind, Edelkommunist, Freimaurer, Philosemit und Pazifist verdächtigt, seines Amtes enthoben und verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, dass er „Missbrauch mit den Bildern Goebbels' betreibe“, weil er Joseph Goebbels 1932 in seinem Werk „Zerbrecht die Krücken“ wegen dessen Klumpfusses gleich zwei mal in den Listen berühmter Krüppel erwähnte. Außerdem wurde ihm seit dem 15. Mai 1933 durch eine außerordentliche Mitgliederversammlung des Krüppel-, Heil- und Fürsorgevereins für Berlin-Brandenburg e.V. vorgeworfen, Spendengelder des Hilfebundes Oskar-Helene-Heim veruntreut und diese zur Finanzierung des Buches „Zerbrecht die Krücken“, verwendet zu haben. Vor allem Dr. Hellmut Eckhardt, Geschäftsführer der „Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge“, und der Lehrer Knabe warfen ihm die Veruntreuung von Geldern vor. Würtz' alte Kollegen Eckhardt und Knabe übernahmen dann führende Rollen in der Krüppelfürsorge, noch während Würtz in Untersuchungshaft saß.

Würtz wurde 1933 fristlos und ohne Pension entlassen und floh aufgrund von Warnungen Anfang April in die Tschechoslowakei. Er lebte dort in Prag bei seinem Freund und Kollegen Augustin Bartoš, der Arzt und Direktor des Prager Krüppelheims war.

Ehrengrabstätte von Hans Würtz, Waldfriedfhof Dahlem

Am 12. Mai 1933 kehrte er nach Berlin zurück, um sich gegen die Vorwürfe der Untreue und Verschwendung von Spendengeldern des Oskar-Helene-Heims zu wehren. Kurz nach seiner Ankunft wurde er in „Schutzhaft“ genommen und am 22. Januar 1934 zu einem Jahr Gefängnisstrafe mit Bewährung verurteilt. Am Tag der Haftentlassung verließ er Deutschland sofort wieder, nachdem er durch eine Erzieherin des Oskar-Helene-Heims eine Warnung erhalten hatte. Er ging erneut in die Tschechoslowakei und ließ sich zunächst in der sudetischen Stadt Neumark nieder. Von 1935 bis 1938 wechselte er mehrmals den Wohnort, bis er schließlich nach Wien ging.

1946 kam er erneut nach Berlin und stellte einen Antrag auf Straftilgung. Im Jahr 1947 wurde Würtz durch Aufhebung des Urteils von 1934 und der Tilgung seines Strafregisters rehabilitiert und übernahm 1949 den Posten des Kurators im Oskar-Helene-Heim.

Nach seinem Tod 1958 wurde er in einem Berliner Ehrengrab auf dem Waldfriedhof Dahlem bestattet.

Werk

„Krüppelpädagogik“

Die Krüppelpädagogik, die von einem einzelnen, wissenschaftlich nicht vorgebildeten Pädagogen entwickelt wurde, gilt noch heute als historisches Fundament der Sondererziehung körperbehinderter Kinder und stellt die Basis der heutigen Sonderpädagogik dar.

Das Konzept der einseitigen Anpassung bei der Integration von Menschen mit Körperbehinderung bildete beispielsweise, laut Petra Fuchs, bis Ende der 1980er Jahre den Grundstein ihrer Fürsorge und Erziehung.

Nach Fuchs, betrachtete Würtz Menschen mit Körperbehinderung als „Minderwertige“, während er die professionellen „gesunden Krüppelpädagogen“ als „Höherwertige“ wahrnahm. Die Lösung des „Krüppelproblems“ mit dem Ziel der sozialen Eingliederung körperbehinderter Menschen lag nach Ansicht von Würtz in deren „Vermenschlichung“ und Anpassung an die „Kraftwerte der Gesunden“, ein Prozess, der sich seiner Ansicht nach nur unter Anleitung eines ethisch hoch stehenden „Krüppelerziehers“ vollziehen konnte, der "die Krüppel mit seiner eigenen Wesensfrische" (Würtz 1914, S. 300) anteckt.

Er führte in diesem Zusammenhang aus:

„Aus diesem Grunde muss auch der Krüppelerzieher ein mannhaftes Wesen an sich tragen. Der Krüppel muss sein sittliches Kämpfertum an ihm ausrichten, stärken, stählen können. Weiche, allzu geschmeidige, zu sehr nach innen gewandte Naturen taugen nicht recht ins Krüppelheim […]. Der Krüppel darf eine gewisse Härte und Schärfe seines Wollens und Denkens im Allgemeinen nicht aufgeben, wenn er nicht zugleich auch den inneren Halt verlieren soll. Man muss hier sich taktvoll in die inneren Bedingungen der Gemütsentkrüppelung hinein empfinden … Jedermanns Sache ist das nicht. Aber schließlich darf man sich auch nicht zu sehr darüber wundern, dass zu differenzierten pädagogischen Einwirkungen auch eine bestimmte Art von Gemüt und Seele im Erzieher selbst gehört. In der Krüppelfürsorge wird es nur besonders bemerkbar, dass zu jenem Beruf eine innere Berufung gefordert wird. Auf keinen Fall würde eine segensreiche pädagogische Tätigkeit im Krüppelheim entfaltet werden können, wenn alle Erzieher selbst Krüppel wären.“ (Würtz 1921, S. ??)

„Krüppelpsychologie“ und „Krüppelseelenkunde“

Würtz unternahm außerdem den Versuch eine eigenständige Krüppelpsychologie zu begründen. Der von ihm geprägte Begriff der Krüppelseele und die daraus resultierende Krüppelseelenkunde entwickelte sich in den zwanziger Jahren zu einem fachwissenschaftlichen Terminus. Der Begriff der Krüppelseele schuf die Basis für eine monokausale Verknüpfung zwischen körperlicher Behinderung und psychischer Abweichung, in der Art, dass Würtz annahm, dass in einem „Krüppelkörper“ auch eine „Krüppelseele“ stecken müsse. Würtz setzte die natürliche Überlegenheit „Gesunder“ gegenüber „Krüppeln“ als selbstverständlich voraus. Schon das "Krüppelkind" lebt "gleichsam in einem künstlichen Ghetto", da es z. B. an der Bewegungsfreudigkeit der "normalen" Kinder nicht im gemeinsamen Spiel teilnehmen kann. Die Folge: das "Krüppelkind" wird "gar zu leicht noch menschenscheu, argwöhnisch, mißtrauisch, empfindlich, übeldeutend und neidisch. Es bildet sich ein psychischer Mechanismus heraus" (Würtz 1932, S. 65).

Hieronymus Bosch (ca. 1450-1516), Skizze eines verkrüppelten Bettlers

Die von Würtz unterstellten charakterlichen Mängel körperbehinderter Menschen beschrieb er als individuell verankerte Merkmale, die in und an den „Typen“ zu bekämpfen wären. Er sagte dazu:

„Der Krüppel steht in innerer Spannung gegen die Gesunden. Er hat andere Bewegungsgewohnheiten, andere Nöte, andere Sicherheiten und Ruhelagen. Er geht nicht gern aus sich heraus. Die unbefangene und unwillkürliche Art der Gemeinschaftsmenschen ist ihm oft peinlich. Sein Gemüht zerfließt nicht gern mit der allgemeinen Stimmung. Er ist Lebenskämpfer und rüstet innerlich nicht gern ab. Bekenntnisse ohne Misstrauen beschämen ihn: er ist stets argwöhnisch. Ein gutherziges Gönnen und Anerkennen bedrückt ihn gleichfalls: er ist neidisch. Harmlose Lebensfreude, die alles Gute vom Schicksal glaubt stimmt ihn verdrießlich. Er hat schon zu viel Schmerzen gekostet und ist beständig gegen das Schicksal, das ihn zu kurz kommen ließ, auf der Hut. Kurzum: er ist gemeinschaftskrank!“ (Würtz 1921, S. 3).

Friedrich Malikowski, Mitglied und wichtiger Vertreter des „Selbsthilfebundes Körperbehinderter“ (auch als Perl-Bund bekannt), sowie sein Mitarbeiter Herbert Winkler warfen Würtz die Überbetonung einzelner Charakterzüge körperbehinderter Menschen ebenso vor wie sein rein phänomenologisches Vorgehen. Durch die Anwendung dieser Methode wurden die Lebensäußerungen von Menschen mit Körperbehinderung zu besonderer Bedeutung erhoben, während gleichwertige Äußerungen „Gesunder“ von Würtz nicht zu einem Vergleich herangezogen wurden. Winkler formulierte:

Beim Krüppel ist die Motorik infolge seines abweichenden Körperbaues gestört, also mehr physisch als psychisch bedingt und kann deshalb nur mit großer Vorsicht zur Grundlage charakterologischer Urteile benutzt werden. Die alten und heute noch bestehenden Voruteile gegen Krüppel aber übersehen diese völlig veränderte Voraussetzung und erklären sich somit aus einem Fehlschluß... Die Einstellung des Lehrers, Arztes oder Krüppelerziehers zum gebrechlichen Kinde und sein Verhalten ihm gegenüber darf sich daher nicht nur auf den äußeren Eindruck gründen“ (zit. n. Bergè 2005, S. 135 f ).

Malikowski kritisiert weiter, dass Würtz keine Beziehung zwischen der seelischen Entwicklung von körperbehinderten Menschen und den gesellschaftlich gegebenen Bedingungen herstellte, unter denen sie aufwuchsen:

„Die Betrachtungsweise, die den Krüppel losgelöst von den Beziehungen zur Gemeinschaft nur als Untersuchungsobjekt nimmt, […] führt oft zu nicht sehr überzeugungskräftigen, wenig begründeten Urteilen.“ (Malikowski 1922, S. ??).

Hinweise auf eine „potentiell harmonische Entwicklung behinderter Kinder“ existierten in den zahlreichen Veröffentlichungen und mündlichen Äußerungen von Hans Würtz überhaupt nicht. Malikowski hingegen sah eine Wechselbeziehung zwischen der Existenz körperbehinderter Menschen einerseits und der Gesellschaft andererseits und legte Würtz eine „mehr soziologische Betrachtungsweise“ (Malikowski 1922, S. ??) nahe.

Sondererziehungszwang und Eingliederung

Hans Würtz und andere „Krüppelpädagogen“ hatten, so Petra Fuchs, schon aus berufspolitischer Sicht ein starkes Interesse am Ausbau der „Krüppelanstalten“, denn das Konzept der „Krüppelpädagogik“ war ohne die Einrichtungen und den Ausbau von „Krüppelheimen“ nach dem dreigliedrigen Prinzip – medizinische Behandlung, Erziehung und Unterricht sowie Berufsausbildung – nicht durchführbar. In seinem Buch „Das Seelenleben des Krüppels“ sagt Würtz:

„Jedes schulfähige Krüppelkind gehört in eine besondere Krüppelschule, in der unter Berücksichtigung der verschiedenen Gebrechen nach bestimmten Methoden auf Grund einer besonderen Krüppelseelenkunde unterrichtet wird“ (Würtz 1921, S. 6).

Würtz war der Meinung, dass der „Krüppel“ für die Gemeinschaft erzogen werden muss und dass seine Arbeitsfähigkeit und -willigkeit die Hauptkriterien für seinen Wert darstellen:

„Nur die Arbeit adelt ihn [den Krüppel] zum Weltbereicherer, zum Spender eines Mehrbestandes an Form, Ordnung, Zusammenhang, den die Welt von sich aus, auch ohne seine Tat nicht gewonnen hätte. Sie macht ihn aus einem ohnmächtigen, mit sich und der Welt verfeindeten Sinnsucher, zum Sinngeber des Lebens.“ (Würtz 1921, S. ??).

Aus diesem Grund unterscheidet Würtz auch zwischen förderungswürdigen und -unwürdigen Krüppeln, denn die Gelder des Staates werden nur bei den Krüppeln nicht verschwendet, bei denen es möglich ist sie vom „Almosenempfänger zum Steuerzahler“ (Biesalski) zu machen. Die Eingliederungsidee die Würtz verfolgte, muss man deshalb also als assimilative Eingliederungsidee bezeichnen, bei der nur die körperbehinderten Menschen ihren Teil zur Eingliederung in die Gesellschaft beitragen sollten, die „Gesunden“ waren von dieser Eingliederungsarbeit nicht betroffen.

Würtz' Stellung zur Eugenik

Die Bewertung von Würtz' Haltung und Mitverantwortung im Nationalsozialismus und beim Thema Eugenik ist unter Historikern, Pädagogen und Sonderpädagogen umstritten.

Würtz vertrat zum Beispiel die Meinung:

„Der Gebrechliche muss sein Äußerstes an Kraft geben ... er muss wählen: entweder sieghaftes Niederringen der Gebrechlichkeit oder siechhaftes Dahindämmern im Krüppeltum. Tat oder Tod“ (Würtz 1921, S. ??).

Das Wort Tod in diesem Ausspruch wird von einigen bekannten Sonderpädagogen (u. a. Hans Stadler) als das Gegenteil von Tat ausgelegt. Stadler schreibt in diesem Zusammenhang:

„Tod bezeichnet nicht, wie von Sierck und Kunert missverstanden, den biologischen, physischen Tod, sondern das Gegenteil zur Tat, nämlich ein kraftloses, willenloses Dasein, einen passiv-resignierenden Zustand “ (Stadler 2004, S. 216).

Wichtiges Gegenargument ist jedoch die ungeheure Anzahl von Veröffentlichungen von Würtz. Warum sollte Würtz gerade diese wichtige Aussage so unerklärt lassen? Es ist also festzustellen, dass Würtz vermutlich damit rechnete, dass seine Aussage verschiedenartig ausgelegt werden kann. Außerdem war Würtz' Hauptanliegen nicht der Schutz von Randgruppen, wozu die Siechen, die er im Zitat erwähnte, in der damaligen Zeit gehörten, denn der persönliche Wert des Krüppels bemaß sich für Würtz und die anderen Krüppelpädagogen am Grad seiner Nützlichkeit bzw. Brauchbarkeit für die Gesellschaft, deshalb wollte er den Krüppel auch von den Randgruppen getrennt wissen.

Um auf die Einstellung Würtz zur Eugenik einzugehen, ist dieses Zitat zu nennen:

„Die Eugenik erstreckt sich durch die Erziehung zur Tüchtigkeit, die Stärke und Siegeskraft mitteilt, auch auf die Krüppel. Sie ist nicht so zag, dass sie vor äußerlichen Hässlichkeiten zurückschreckt. Auch wir [die in der „Krüppelfürsorge“ Tätigen] sind Eugeniker. Wir wollen, dass Edles und Machtverleihendes überall wachse. Unsere Eugenik ist nur umfassender. Statt mit dem sittlichen Gesetz zur Heilighaltung des Lebens ohnmächtig zu hadern, führen wir der Kultur in ertüchtigten Krüppeln weitere wackere Streiter zu, die den Gesunden nicht zur Last fallen.“ (Würtz 1914, S. 188 f).

Da dieses Zitat aus dem Jahr 1914 stammt, kann man schlussfolgern, dass Würtz nicht durch Angst vor den Nationalsozialisten eine bestimmte Richtung in Hinblick auf sein Menschenbild einschlug, sondern er ihnen vielmehr Wegbereiter war.

Schlussbemerkungen

Es gibt Faktoren, die nahe legen, dass man Würtz' extreme Äußerungen nicht einfach als historischen Normalfall in dieser Zeit bezeichnen – und ihn somit vollständig entlasten kann.

Zum einen gibt es eine Vielzahl von Wortmeldungen von Seiten des Perl-Bundes, vor allem von Friedrich Malikowski, Otto Perl, Irma Dresdner, Maria Gruhl und Hans Förster, die Widerspruch gegen Würtz' Theorien über die Krüppelseelenkunde, Krüppelpädagogik und Krüppelpsychologie einlegten. Vor allem das Menschenbild, welches Würtz, aber auch die anderen wichtigen Vertreter der Krüppelfürsorge vertraten, lehnten die Vertreter des Perl-Bundes ab.

Oskar-Helene-Heim, Seitenflügel

Des Weiteren war sich Würtz seiner Stellung und Macht bewusst, denn er arbeitete auf sie ja auch zielstrebig zu und er verfasste in der Zeit von 1911 bis 1933 eine Vielzahl von Veröffentlichungen. Die Frage die sich daraus ergibt ist, ob es nicht möglich sein kann, dass Würtz seine Äußerungen oft nicht hundertprozentig auf den Punkt brachte, um sich nach allen „Seiten“ abzusichern?

Bei der Beurteilung von Würtz muss natürlich auch seine Flucht vor dem NS-Regime mitbedacht werden. Würtz' Theorien waren, wie bereits erwähnt, von der Reformpädagogik mitgeprägt. Diese pädagogische Bewegung endete mit dem Beginn des Nationalsozialismus, da ein Großteil der Reformpädagogen von den NS-Pädagogen aus dem Dienst entlassen wurde.

In Anbetracht der Tatsache, dass Würtz keine dem Nationalsozialismus entgegengesetzte Weltanschauung vertrat und ein aus heutiger Sicht ebenso menschenverachtendes Menschenbild, wie die Nationalsozialisten, muss eine Frage aufgeworfen werden:

War Würtz politisch Verfolgter, der um sein Leben bangen musste, oder ein verurteilter Verbrecher, der seiner Haftstrafe entkommen wollte?

Da dieser Zusammenhang anhand der historischen Quellen nicht eindeutig zu klären ist, bleibt weiterhin offen, wie man die Flucht von Würtz aus Deutschland interpretieren soll. Diesbezüglich schreibt Petra Fuchs folgerichtig, dass die Emigration durchaus auf sein demokratisches Engagement beruht, etwa auf seine Mitgliedschaft in der Liga für Menschenrechte oder seiner Betätigung als Freimaurer, dennoch steht dieser Sachverhalt "nicht in inhaltlichem Zusammenhang mit seiner Theorie und mit deren Auswirkungen auf die Geschichte und das Leben körperbehinderter Menschen" (Fuchs 2001, S. 63).

Letzten Endes bleibt festzustellen, dass einige von Hans Würtz' Theorien und Ansichten in der Sonderpädagogik des neuen Jahrtausends weiterhin fortbestehen, beispielsweise kann man, nach Fuchs, eine Abwendung vom Sonderbeschulungskonzept, nur unzureichend erkennen. Auch für die sich wieder neu formierte Reformpädagogik ist Würtz aufgrund seiner Pionierarbeit in einigen schulpraktischen Bereichen von großer Bedeutung. Hans Stadler führt dazu aus:

„Auch Wilken würdigte die Persönlichkeit von Würtz und seine schulpädagogische Leistung. Obwohl die Reformpädagogik in den letzten Jahrzehnten starke Beachtung erfuhr, blieben die schulpraktischen Erfahrungen von Würtz aber mehr oder weniger „verschüttet“. Fast zwanzig Jahre dauerte es dann noch, bis man sich auf diesen frühen „Krüppel-Pädagogen“ wieder vermehrt besann“ (Stadler 2004, S. 214 f).

Die Arbeit mit den Theorien von Hans Würtz und mit der Sekundärliteratur, die in der heutigen Zeit über dieses Thema entsteht, muss von einer kritischen Grundhaltung geprägt sein, gerade weil sich die verschiedenen Autoren teilweise gegenseitig widersprechen. Die Bedeutung, die Würtz für den noch sehr jungen Teilbereich der Pädagogik, die Sonderpädagogik hat, kann jedoch von niemandem geleugnet werden. Aus diesem Grund ist und bleibt Hans Würtz ein Klassiker der Sonderpädagogik, den es vor dem historischen Hintergrund, aber auch ohne diesen Hintergrund zu erfassen gilt, um sich ein Bild über die Sonderpädagogik heute machen zu können.

Schriften (Auswahl)

  • Uwes Sendung. Ein deutsches Erziehungsbuch mit besonderer Berücksichtigung der Krüppel, Leipzig 1914
  • Der Wille siegt. Ein pädagogisch-kultureller Beitrag zur Kriegskrüppelfürsorge, 2 Bände, Berlin 1915
  • Das deutsche Krüppelbilderbuch für Jung und Alt, Berlin 1916
  • Sieghafte Lebenskämpfer, München 1919
  • Das Seelenleben des Krüppels, Leipzig 1921
  • Zerbrecht die Krücken. Krüppel-Probleme der Menschheit. Schicksalsstiefkinder aller Zeiten und Völker in Wort und Bild, Leipzig 1932
  • Krüppel-Fürsorge und Krüppel-Seelenkunde. In: Adolf Dannemann (Hrsg.): Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik. Bd I, Halle a. S. 1934, Sp. 1484-1500

Literatur (Auswahl)

  • o. V.: Das Kleinkind in der Krüppelfürsorge, in: Kinderheim 1921/H. 2, S. 57-58
  • Marie-Luise Bergè: Leben und Wirken des „Krüppelpsychologen“ Herbert Winkler (1896-1946). Ein Beitrag zur Historiographie der Körperbehindertenpädagogik, Leipzig 2005 (unveröffentlichte Diplomarbeit)
  • Manfred Berger: Hans Würtz - Sein Leben und Wirken, in: heilpaedagogik.de 2011/H. 4, S. 19-25
  • Petra Fuchs: „Körperbehinderte“ zwischen Selbstaufgabe und Emanzipation. Selbsthilfe – Integration – Aussonderung. Luchterhand, Neuwied und Berlin 2001, ISBN 3-472-04450-0
  • Sieglinde Kunert: Verhaltensstörungen und psychagogische Maßnahmen bei körperbehinderten Kindern. (= Rehabilitationsforschung; Band 1). 3. Auflage. Schindele, Neuburgweier 1976, ISBN 3-88070-043-5
  • Friedrich Malikowski: Krüppelpsychologie und Krüppelpädagogik. In: Nachrichtendienst des Bundes zur Selbsthilfe der körperlich Behinderten 3 1922
  • Oliver Musenberg: Der Körperbehindertenpädagoge Hans Würtz (1875–1958). Eine kritische Würdigung des psychologischen und pädagogischen Konzeptes vor dem Hintergrund seiner Biographie. (= Schriftenreihe Sonderpädagogik in Forschung und Praxis; Band 2). Kovac, Hamburg 2002, ISBN 3-8300-0661-6 (zugl. Dortmund, Univ., Diss., 2001)
  • Udo Sierck: Arbeit ist die beste Medizin. Zur Geschichte der Rehabilitationspolitik. Konkret-Literatur-Verlag, Hamburg 1992, ISBN 3-89458-112-3
  • Hans Stadler, Udo Wilken: Pädagogik bei Körperbehinderung. Studientexte zur Geschichte der Behindertenpädagogik. (= Studientexte zur Geschichte der Behindertenpädagogik; Bd. 4 / UTB; Bd. 2378). Beltz, Weinheim u. a. 2004, ISBN 3-407-57206-9 / ISBN 3-8252-2378-7 (http://www.pedocs.de/volltexte/2009/537): pdf
  • Hans Weiß: Hans Würtz, in: Maximilian Buchka u. a. (Hrsg.): Lebensbilder bedeutender Heilpädagoginnen und Heilpädagogen des 20. Jahrhunderts. Ernst Reinhard Verlag, München 2000, ISBN 3-497-01611-X, S. 385–409

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweis

  1. als unehelich geborener Sohn erhielt er den Geburtsnamen der Mutter, in späteren Jahren nahm er den Namen des Vaters an
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