Hans Joachim Sewering

Hans Joachim Sewering

Hans Joachim Sewering (* 30. Januar 1916 in Bochum; † 18. Juni 2010 in Dachau) war ein deutscher Arzt, Internist und ärztlicher Berufspolitiker.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Hans Joachim Sewering wurde als Sohn eines Bergarbeiters geboren. Im Jahr 1933 trat er in die SS (Mitgliedsnummer 143 000) ein. Im folgenden Jahr wurde er Mitglied der NSDAP (Nummer 185 805)[1]. Nach dem Medizinstudium in München und Wien mit Staatsexamen und Promotion arbeitete er zunächst von 1942 an als Assistenzarzt in einer Tuberkuloseheilanstalt in Schönbrunn bei Dachau. Er hatte sich auch um Pfleglinge eines Behindertenheims zu kümmern. Von dort überwies er die damals 13-jährige Patientin Babette Fröwis in die Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, wo sie zwei Wochen später verstarb – vermutlich als eins der zahlreichen Opfer, die in Eglfing-Haar entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie ermordet wurden (vgl. Isar-Amper-Klinikum München-Ost).[1] Laut neueren Aktenfunden liegen neun individuell abgefasste Überweisungen Sewerings nach Eglfing-Haar vor, wovon fünf Patienten dort zu Tode kamen.[2] Sewering bestritt zeitlebens, gewusst zu haben, was mit den Patienten in Eglfing-Haar geschah.

1947 ließ Sewering sich nach seiner Krankenhauszeit als Internist für Lungen- und Bronchialheilkunde in eigener Praxis in Dachau nieder. Bald darauf wurde er Mitglied der CSU und engagierte sich berufspolitisch. 1951 wurde er in den Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns gewählt und von 1972 bis 1992 deren Vorstandsvorsitzender. Von 1952 bis 1992 war Sewering Mitglied in der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Er war ein wesentlicher Gestalter des Kassenarztrechts in der Bundesrepublik. Die freien Berufe vertrat Sewering von 1971 bis 1992 als Mitglied des Bayerischen Senats. Von 1955 bis 1991 war Sewering Präsident der Bayerischen Landesärztekammer und Mitglied des Vorstands der Bundesärztekammer. Nachdem er von 1959–73 deren Vizepräsident war, stand er bis 1978 der Spitzenorganisation der ärztlichen Selbstverwaltung als Präsident vor und war in dieser Zeit Präsident des Deutschen Ärztetages. Hier brachte er maßgebliche Reformvorstellungen zur Approbationsordnung für Ärzte ein. Auch die Muster-Weiterbildungsordnungen der 1970er Jahre, von 1987 und 1991 gehen wesentlich auf Sewering zurück. Er regte Gutachterkommissionen / Schlichtungsstellen bei den Landesärztekammern an. Sewering festigte die langfristige Sicherung der ärztlichen Versorgungswerke und öffnete diese auch den angestellten Ärzten. Sewering war seit dessen Gründung 1959 Vertreter der Bundesärztekammer im Ständigen Ausschuß der Ärzte der Europäischen Gemeinschaft und war 1965 bis 1968 deren Generalsekretär.[3] Er förderte auch den Dialog mit den ärztlichen Organisationen der Nachbarstaaten der EU und trug wesentlich zum Aufbau einer ärztlichen Selbstverwaltung in den osteuropäischen Staaten nach der politischen "Wende" 1990 durch geeignete Beratungskonzepte bei.[4] 1993 strebte Sewering die Präsidentschaft des Weltärztebundes an, nachdem er sich dort von 1966 bis 1992 im Vorstand engagiert und als Schatzmeister dessen finanziellen Fortbestand gesichert hatte. Proteste aus dem Ausland führten zum Verzicht auf die Kandidatur, was aber nach Karsten Vilmar nicht als Schuldanerkenntnis gewertet werden sollte.[5].

1993 erstattete Babette Fröwis' Bruder Strafanzeige wegen Beteiligung an der Ermordung seiner Schwester, doch die Staatsanwaltschaft München stellte 1995 die Ermittlungen ein, weil sie Sewerings Einlassungen für „vollkommen glaubwürdig“ hielt.[1]Die Bundesärztekammer versuchte zuerst die neuen Erkenntnisse zu Sewering zu ignorieren. Noch in der Laudatio zu seinem 80. Geburtstag war im Deutschen Ärzteblatt kein kritisches Wort zu den Vorwürfen gegen Sewering bezüglich einer möglichen Verstrickung in die Euthanasie-Verbrechen der Nationalsozialisten zu lesen.[6] Bei einer Würdigung zehn Jahre später wurde immerhin nicht nur seine umstrittene Rolle beim Tod Babette Fröwis', sondern darüber hinaus auch ein Abrechnungsskandal in den 1970er Jahren erwähnt.[7]. Allerdings erschien anlässlich seines Todes ein Nachruf im Deutschen Ärzteblatt, in dem die Autoren Bundesärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe und sein Vorgänger Karsten Vilmar die Worte Nationalsozialismus und Drittes Reich nicht einmal erwähnten - geschweige denn Sewerings Verstrickung in den NS-Staat. [8]. Das rief den Protest einer Gruppe von über 80 Medizinhistorikern, Wissenschaftshistorikern, Ärzten und Psychotherapeuten - an ihrer Spitze der Münchner Historiker Gerrit Hohendorf, der Vorsitzende des Verbandes für Medizingeschichte Heiner Fangerau und die Präsidentin der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte Bettina Wahrig - hervor, die sich in einem offenen Brief an die Bundesärztekammer darüber beschwerten, dass nicht offen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit von Ärztekammerfunktionären umgegangen werde.[9][10]. Dieses Schreiben wurde in der Ausgabe 31/32 des Deutschen Ärzteblattes vom 9. August 2010 veröffentlicht.[11]

Ehrungen und Auszeichnungen

Literatur

Michael H. Kater, Ärzte als Hitlers Helfer. Europa Verlag, Hamburg 2000, ISBN 3-203-79005-X

Einzelnachweise

  1. a b c Zeit online, zuletzt aufgerufen 29. Juli 2010
  2. Dtsch Arztebl 2008; 105(50): A2700 online, zuletzt eingesehen 29. Juli 2010
  3. Jörg-Dietrich Hoppe et al: Nachruf der Bundesärztekammer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 24. Juni 2010
  4. Karsten Vilmar: Nachruf der Hans-Neuffer-Stiftung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 24. Juni 2010
  5. Oliver Das Gupta: Der Ärztepräsident und das tote Mädchen, sueddeutsche.de, zuletzt eingesehen 29. Juli 2010.
  6. Dtsch Arztebl 1996; 93(4): A-205 / B-177 / C-165 online, zuletzt eingesehen 28. Mai 2008
  7. Dtsch Arztebl 2006; 103(4): A-209 / B-181 / C-177 online, zuletzt eingesehen 29. Juli 2010
  8. s. Deutsches Ärzteblatt 107/2010 Hans Joachim Sewering tot: Gestalter im Dienst der Ärzteschaft zuletzt eingesehen 29. Juli 2010
  9. Kritik an Nachruf auf Nazi-Arzt Bericht über eine Kritikaktion einer Gruppe von Medizinhistorikern im Kulturteil des WDR vom 26. Juli 2010 zuletzt eingesehen 29. Juli 2010
  10. Siehe auch FAZ vom 28. Juli 2010 Seite N3
  11. [1] Priv.-Doz. Dr. med Gerrit Hohendorf, Prof. Dr. Heiner Fangerau, Prof. Dr. Bettina Wahrig, et al.: Nachruf: Kein Hinweis auf die Rolle im Nationalsozialismus, in: Deutsches Ärzteblatt, Ausgabe 31/32 vom 9. August 2010, Seite B1350
  12. Aufruhr um eine Auszeichnung. Ehrung für ehemaligen NS-Mediziner ruft Proteste hervor, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 122 vom 28. Mai 2008, S.18.
  13. Berufsverband Deutscher Internisten: Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin zur Verleihung der Günther-Budelmann-Medaille an Herrn Prof. Hans-Joachim Sewering (pdf) vom 15. Juli 2008

Weblinks


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