Hans Dietrich Genscher

Hans Dietrich Genscher
Hans-Dietrich Genscher, 2001
Hans-Dietrich Genscher, 2007

Hans-Dietrich Genscher (* 21. März 1927 in Reideburg, Saalkreis) ist ein deutscher Politiker (FDP). Er war von 1969 bis 1974 Bundesminister des Innern sowie von 1974 bis 1992 fast ununterbrochen Bundesminister des Auswärtigen und Stellvertreter des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Von 1974 bis 1985 war er außerdem Bundesvorsitzender der FDP.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Beruf

Hans-Dietrich Genscher, Sohn des Juristen Kurt Genscher und der Bauerstochter Hilde Kreime, besuchte zunächst die Oberschule in Halle (Saale). Sein Vater starb 1937. 1943 leistete Genscher Dienst als Luftwaffenhelfer und wurde ein Jahr später zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. 1945 meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht, um (nach eigener Aussage) einer Zwangsrekrutierung durch die Waffen-SS zu entgehen. Als Angehöriger der „Armee Wenck“ (siehe auch Kessel von Halbe) geriet er kurz vor Kriegsende zunächst in amerikanische und anschließend in britische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung arbeitete er zunächst als Bauhilfsarbeiter und legte dann 1946 die Ergänzungs-Reifeprüfung in Halle (Saale) ab. Im Winter 1946/47 erkrankte er schwer an Tuberkulose, was ihm einen dreimonatigen Sanatoriumsaufenthalt aufnötigte. An der damals unheilbaren Krankheit sollte Genscher noch die folgenden 10 Jahre laborieren; immer wieder war er zu längeren Krankenhausaufenthalten gezwungen. Dennoch absolvierte Genscher ein Studium der Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft in Halle (Saale) und Leipzig, das er 1949 mit der ersten juristischen Staatsprüfung in Leipzig beendete. Anschließend war er Referendar im Oberlandesgerichtsbezirk Halle.

Nach seiner Flucht über West-Berlin in die Bundesrepublik Deutschland am 20. August 1952 arbeitete Genscher wieder als Referendar im Oberlandesgerichtsbezirk Bremen und legte 1954 das zweite juristische Staatsexamen in Hamburg ab. Danach war er zunächst als Anwaltsassessor und Rechtsanwalt in Bremen tätig, bevor er von 1956 bis 1959 wissenschaftlicher Assistent der FDP-Bundestagsfraktion in Bonn war.

1994/1995 war Genscher Honorarprofessor am Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin.

1998 wurde er Aufsichtsratsvorsitzender der WMP EUROCOM AG Berlin (Kommunikationsberatung in den Bereichen Wirtschaft, Medien und Politik).

1999 nahm er seine anwaltliche Tätigkeit in der Sozietät Büsing, Müffelmann & Theye, Büro Berlin, wieder auf und wurde 2000 geschäftsführender Gesellschafter der Hans-Dietrich Genscher Consult GmbH.

2001 vermittelte er als Schlichter im Tarifkonflikt zwischen der Deutschen Lufthansa AG und der Vereinigung Cockpit e.V.[1].

Hans-Dietrich Genscher war von 1958 bis 1966 mit Luise Schweizer verheiratet, aus der Ehe ging die Tochter Martina hervor. Seit Oktober 1969 ist er mit Barbara Schmidt verheiratet. Genscher lebt mit seiner Familie in Wachtberg bei Bonn.

Partei

Genscher (1974) mit seinen Parteifreunden Hildegard Hamm-Brücher, Otto Graf Lambsdorff (stehend) und Wolfgang Mischnick

1945 wurde Hans-Dietrich Genscher im Alter von 18 Jahren Mitglied der NSDAP, nach eigener Aussage geschah dies per Sammelantrag ohne sein Mitwissen[2]. Genscher war von 1946 bis 1952 Mitglied der LDP, Landesverband Sachsen-Anhalt. Seit 1952 ist er Mitglied der FDP. 1954 wurde er zum stellvertretenden Landesvorsitzenden der Jungdemokraten in Bremen gewählt. Von 1959 bis 1965 war er FDP-Fraktionsgeschäftsführer und gleichzeitig von 1962 bis 1964 Bundesgeschäftsführer der FDP. 1968 wurde er zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt. Vom 1. Oktober 1974 bis zum 23. Februar 1985 war er schließlich Bundesvorsitzender der FDP. In seine Amtszeit als Parteivorsitzender fiel auch die Wende von der sozialliberalen Koalition 1982 zur Koalition mit der CDU/CSU. Die FDP musste daraufhin schlechte Wahlergebnisse und Austritte ehemals führender Parteimitglieder, wie z. B. des bisherigen Generalsekretärs Günter Verheugen, in Kauf nehmen. 1985 verzichtete er auf das Amt des Bundesvorsitzenden. Nach seinem Rücktritt als Bundesaußenminister wurde Genscher 1992 zum Ehrenvorsitzenden der FDP ernannt.

Abgeordneter

Genscher war von 1965 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er war stets über die Landesliste Nordrhein-Westfalen in den Deutschen Bundestag eingezogen. Von 1965 bis zu seinem Eintritt in die Regierung Brandt 1969 war er Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion.

Öffentliche Ämter

Genscher (1976) mit Forschungsminister Hans Matthöfer (links) und Bundeskanzler Helmut Schmidt

Nach der Bundestagswahl 1969 war Genscher maßgeblich an der Bildung der sozialliberalen Koalition beteiligt und wurde am 22. Oktober 1969 als Bundesinnenminister in die von Bundeskanzler Willy Brandt geführte Bundesregierung berufen. In seine Amtszeit fiel die Geiselnahme israelischer Sportler 1972 während der Olympischen Spiele in München. Genscher stellte sich als Austauschgeisel zur Verfügung, dies wurde von den palästinensischen Geiselnehmern jedoch abgelehnt. Als Schlussfolgerung aus dem blutigen Ende der Geiselnahme wies Genscher am 26. September 1972 an, die Anti-Terror-Einheit GSG 9 aufzustellen.

Nach dem Rücktritt von Willy Brandt und der Wahl von Walter Scheel zum Bundespräsidenten wurde Genscher am 16. Mai 1974 als Außenminister und Vizekanzler in die nun von Helmut Schmidt geleitete Bundesregierung berufen. In dieser Funktion beteiligte er sich maßgeblich an den Verhandlungen über den Text der KSZE-Schlussakte in Helsinki. Im Dezember 1976 akzeptierte die Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York den Vorschlag von Genscher, über eine Anti-Terrorismus-Konvention, worin unter anderem festgelegt wurde, auf Forderungen von Geiselnehmern unter keinen Umständen einzugehen. Bei Gesprächen von Bundeskanzler Schmidt und Außenminister Genscher in Moskau erklärte sich die sowjetische Führung bereit, über die vom NATO-Doppelbeschluss betroffenen Mittelstreckenwaffen (Intermediate Nuclear Forces/INF) mit den USA zu verhandeln.

Nachdem die sozialliberale Koalition bei der Bundestagswahl 1980 erneut bestätigt worden war, wirkte Genscher schon bald – hierbei vor allem unterstützt durch den Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff – auf ein Ende der Koalition zwischen SPD und FDP hin. Grund waren die zwischen den Koalitionspartnern zunehmenden Differenzen insbesondere in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Auch der fehlende Rückhalt von Bundeskanzler Schmidt in dessen eigener Partei wurde als problematisch angesehen. Am 17. September 1982 trat Genscher gemeinsam mit den übrigen FDP-Bundesministern zurück.

Am 1. Oktober 1982 wurde dann in einem konstruktiven Misstrauensvotum der bisherige Oppositionsführer Helmut Kohl auch von dem Großteil der FDP-Bundestagsfraktion zum Bundeskanzler gewählt. Am 4. Oktober 1982 kehrte Genscher als Außenminister und Vizekanzler in die Bundesregierung zurück.

Hans-Dietrich Genscher (r.) überreicht Präsident George H. W. Bush ein Stück der Berliner Mauer (21. November 1989)

Von 1984–1985 war er Präsident des NATO-Rates und Präsident des Ministerrates der Westeuropäischen Union.

Als Außenminister stand er für eine Ausgleichspolitik zwischen Ost und West und entwickelte eigene Strategien für eine aktive Entspannungspolitik und die Weiterführung des Ost-West-Dialogs mit der sich wandelnden UdSSR, sowie das Zusammenwachsen der EG. Besonders ab 1987 wirbt Genscher für eine „aktive Entspannungspolitik“ als Antwort des Westens auf die sowjetischen Bemühungen. Er hatte großen Anteil an der europäischen Einigung und am Gelingen der deutschen Wiedervereinigung, über die er 1990 mit seinem DDR-Amtskollegen Markus Meckel verhandelte. Anfänglich stand er jedoch den konsequenten Wiedervereinigungsplänen Bundeskanzler Kohls abwartend gegenüber. Im Spätsommer 1989 erreichte er die Ausreiseerlaubnis für diejenigen DDR-Bürger, die sich noch vor der Maueröffnung in die bundesdeutsche Prager Botschaft geflüchtet hatten. Daneben setzte er sich für eine wirksame Unterstützung der politischen Reformprozesse vor allem in Polen und Ungarn ein. Dazu traf er im Rahmen seines Polenbesuchs im Januar 1980 mit dem Vorsitzenden der verbotenen Gewerkschaft Solidarność, Lech Wałęsa, zusammen, dem er der polnischen Opposition Unterstützung bei ihrem Eintreten für demokratische Reformen zusicherte. Die dafür eingesetzten Mittel führten dazu, dass seine und Bundeskanzler Helmut Kohls Politik mitunter auch abfällig als Scheckbuchdiplomatie bezeichnet wurde. Genscher beteiligte sich an dem ersten (Bonn), zweiten (Berlin) und dritten (Paris) Außenministertreffen der 2 + 4-Gespräche über die äußeren Aspekte der deutschen Einheit. Im November 1990 unterzeichnen Genscher und sein polnischer Amtskollege Krzysztof Skubiszewski in Warschau den deutsch-polnischen Grenzvertrag über die Festlegung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze.

Wirtschaftskonferenz der KSZE-Staaten, 1990

Seine Popularität in seiner Heimatregion um Halle (Saale) und die Hoffnung auf eine gute Entwicklung nach der Wende führten dazu, dass bei der Bundestagswahl 1990 die FDP in Sachsen-Anhalt 17,61 % der Wählerstimmen erhielt und erstmals seit 1961 wieder ein Direktmandat für den Bundestag (durch Uwe Lühr) erringen konnte.

Auf vielfache Kritik stieß sein zweitägiger Besuch im Juli 1984 in der iranischen Hauptstadt Teheran, da es der erste Besuch eines westeuropäischen Außenministers seit der islamischen Revolution von 1979 war. Kritik rief auch die von Genscher betriebene frühzeitige Anerkennung der ehemals jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien durch die Bundesrepublik Deutschland im Dezember 1991 hervor. Diese war zwar mit Österreich abgestimmt, doch setzte er sich damit über das EG-Übereinkommen hinweg. Diesem folgend sollten eventuelle Anerkennungen eigentlich erst ab dem 15. Februar 1992 vollzogen und die Ergebnisse der sogenannten Badinter-Kommission abgewartet werden. Genscher wurde vorgeworfen, damit den Zerfall Jugoslawiens maßgeblich gefördert zu haben. Auch der UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar hatte die deutsche Bundesregierung gewarnt, dass eine Anerkennung von Slowenien und Kroatien zu einer Ausweitung der Aggressionen im bisherigen Jugoslawien führen werde.

Am 18. Mai 1992 schied Genscher auf eigenen Wunsch aus der Bundesregierung aus, der er insgesamt 23 Jahre angehört hatte. Seine Entscheidung hatte er drei Wochen zuvor, am 27. April 1992, überraschend bekannt gegeben. Zu diesem Zeitpunkt war er Europas dienstältester Außenminister.

Von 2001 bis 2003 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Hans-Dietrich Genscher ist Ehrenpräsident des Netzwerks Europäische Bewegung Deutschland und Kuratoriumsmitglied der Initiative Europa eine Seele geben. Er ist Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Halle (Saale).

Auszeichnungen und Ehrungen (Auszug)

Hans-Dietrich Genscher im November 2007
Hans-Dietrich Genscher im Oktober 2008

Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Halle (Saale) und der Stadt Berlin.

Seit 1995 verleiht die Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. alle zwei Jahre den Hans-Dietrich-Genscher-Preis an Menschen, die sich in der Notfallrettung oder der Rettungsmedizin besonders verdient gemacht haben. Der Preis ist mit 2.500 Euro dotiert.
Der Preis trägt Genschers Namen, weil der Politiker in seiner Zeit als Bundesinnenminister maßgeblich dafür eingetreten ist, dass heute in Deutschland mehr als dreißig Rettungshubschrauber im Einsatz sind.

Zitate

„Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise [… möglich geworden ist.] Das Satzende ging im Jubel der etwa 4000 ausreisewilligen DDR-Bürger unter.

Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 um 18:58 Uhr auf dem Balkon der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland

Kabinette

Hans-Dietrich Genscher war Mitglied der Bundesregierungen unter Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl.

Literatur

  • H.-D. Genscher: Erinnerungen, Siedler-Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-88680-453-4 (nicht mehr im Handel erhältlich)
  • Hans-Dieter Lucas (Hrsg.): Genscher, Deutschland und Europa. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2002. ISBN 3-7890-7816-6
  • Werner Filmer und Heribert Schwan: Hans-Dietrich Genscher. Aktualisierte Taschenbuchausgabe. Moewig-Verlag, Rastatt 1993. ISBN 3-8118-2815-0

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Spiegel-Artikel über die Anrufung Genschers als Schlichter im Tarifkonflikt zwischen der Lufthansa und der Vereinigung Cockpit
  2. Die Welt vom 1. Juli 2007: Zeitgeschichte, „Von Grass bis Genscher – Wer noch in der NSDAP war“ online: [1]

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