Hans-Joachim Riecke

Hans-Joachim Riecke
Hans-Joachim Riecke

Hans-Joachim Ernst Riecke (* 20. Juni 1899 in Dresden; † 11. August 1987 in Hamburg) war ein deutscher Diplom-Landwirt, NSDAP-Abgeordneter im nationalsozialistischen Reichstag und 1933 kommissarischer Ministerpräsident von Lippe.

Ab 1934 arbeitete Riecke in verschiedenen Ämtern im Bereich Landwirtschafts- und Ernährungspolitik, unter anderem im Reichsbauernrat, im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (RMfdBO) und im Vierjahresplan. Sein höchster Dienstgrad war SS-Gruppenführer.[1] Nach dem Krieg arbeitete er in der Privatindustrie. Für seine Beteiligung am massenhaften Sterben der sowjetischen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung in den besetzten Ostgebieten wurde er nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Herkunft

Hans-Joachim Ernst Rieckes Vorfahren väterlicherseits waren Landwirte.[2] Er besuchte das Gymnasien in Berlin, Schneeberg und Leipzig. Er nahm am Ersten Weltkrieg teil und wurde mehrfach verwundet; er erhielt das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse. 1917 wurde er zum Leutnant ernannt.

Nach Kriegsende war er Mitglied in einem Freikorps und dann bis 1920 im Grenzschutz Ost. Von 1922 bis 1925 studierte Riecke Landwirtschaft an der Universität Leipzig, das Studium schloss er als Diplomlandwirt ab.[3] 1925 trat Riecke in die NSDAP ein.[1] Von 1925 bis 1933 arbeitete Riecke in der Landwirtschaftskammer von Münster/Westfalen, zuletzt als Landwirtschaftsrat und Abteilungsleiter.

Im NS-Staat

Am 1. April 1933 wurde Riecke zum Reichskommissar für Schaumburg-Lippe ernannt, ab 22. Mai 1933 war er dann Staatsminister in Lippe mit Sitz in Detmold. Er gehörte dem Reichstag ab der 9. Wahlperiode (1933) bis zur 11. Wahlperiode (1938) an. 1936 wurde Riecke Ministerialdirektor im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft,[3] wobei er dort 1943 zum Staatssekretär befördert wurde.[2]

Riecke nahm als Bataillionskommandeur am Westfeldzug teil.[4] Ab 1941 war er im Vierjahresplan und im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (RMfdbO) tätig. Im Programm des Vierjahresplans arbeitete er als Chef der Hauptgruppe Ernährung und Landwirtschaft im Wirtschaftsstab Ost, die in ihren wirtschaftspolitischen Richtlinien vom 23. Mai 1941 einen Hungerplan zur ernährungswirtschaftliche Ausbeutung der zu besetzenden Ostgebiete vertrat:

„Viele 10 Millionen Menschen werden in diesen Gebieten überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen. Versuche, die Bevölkerung dort vor dem Hungertode dadurch zu retten, dass man aus der Schwarzerdezone Überschüsse heranzieht, können nur auf Kosten der Versorgung Europas gehen.“[5]

Nach Walther Darré, Herbert Backe, und Werner Willikens galt Riecke als mächtigster Mann im Ernährungsministerium und war neben Backe Hauptverantwortlicher für den Hungertod von Millionen Menschen in den besetzten sowjetischen Gebieten. [6] Seinen Lebenserinnerungen zufolge hat er die Initiative zur Ablösung Darrés durch Backe als Reichsminister mit einer Beschwerde bei Göring über den Führungsstil Darres ausgelöst.[7]

Die nationalsozialistische Wochenzeitung Das Reich hob am 11. November 1944 hervor, dass ihm „der Krieg die Aufgabe der ernährungswirtschaftlichen Erschließung der Ostgebiete hinzufügte“.[8] Und im gleichen Jahr schlug der Wirtschaftsstab Ost vor, Riecke das „Ritterkreuz mit Schwertern“ zu verleihen, da durch die von seinem Apparat aus den besetzten Gebieten der UdSSR beschafften Nahrungsmittel „die Versorgungslage des deutschen Volkes auf der bisherigen Höhe gehalten werden konnte.“[9]

In dem vom NS-Chefideologen Alfred Rosenberg geleiteten RMfdbO war Riecke als Abteilungsleiter in der Hauptabteilung III (Wirtschaft) für die Abteilung III.E. Ernährung und Landwirtschaft verantwortlich.[1] Dabei kam es zum Konflikt mit Rosenberg, weil Riecke mit der „Rückendeckung Görings und der Wehrmacht“ die Landwirtschaft im russischen Besatzungsgebiet unter seine Kontrolle brachte und seine „mehr als zehntausend Landwirtschaftsführer“, welche die Betriebe und Kolchosen übernommen hatten, sich schon als „künftige Gutsbesitzer“ fühlten und „zum Leidwesen Rosenbergs, allen Bestrebungen zur Auflösung der Kolchosen [...] hartnäckigen Widerstand leisteten“.[10] Im Oktober 1944 wurde Riecke zum SS-Gruppenführer befördert, nachdem er schon 1942 zum SA-Gruppenführer aufgestiegen war.[11]

Nachkriegszeit und Bundesrepublik

Im Mai 1945 war er Staatssekretär der geschäftsführenden Regierung Karl Dönitz in Flensburg.[2] Er wurde von dort in das alliierte Kriegsgefangenenlager Nr. 32 (Camp Ashcan) im luxemburgischen Bad Mondorf verbracht und dort zusammen mit anderen Größen von NSDAP und Reichswehr zwei Jahre interniert. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess sagte er im April 1946 in der Verhandlung gegen Rosenberg als Zeuge der Verteidigung zugunsten des Angeklagten aus.[12] Laut Rieckes Aussage „wünschte Rosenberg persönlich, die Ostvölker für eine Zusammenarbeit zu gewinnen“, dessen gut gemeinte Maßnahmen seien aber „von Bormann und Himmler“ im Verbund mit dem Reichskommissar Erich Koch „sabotiert“ worden.[13] Riecke wurde „von deutscher Seite im Entnazifizierungsverfahren als ‚belastet‘“ eingestuft.[14] 1953 trug er zu der Publikation Bilanz des zweiten Weltkrieges mit einem Beitrag zur Ernährungslage bei.[15]

Ab 1950 arbeitete er für Alfred Toepfer in Hamburg im Getreidehandel, zuerst in leitender Funktion in der Firma ACT, dann in den 1960er Jahren in den höchsten Funktionen der Toepfer-Stiftungen.[16] Riecke war Geschäftsführer der „Stiftung Freiherr vom Stein“, heute Teil der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S., und vergab in dieser Funktion 1964 den mit 25.000 DM dotierten Freiherr-vom-Stein-Preis an die Bundeswehrgeneräle von Baudissin, von Kielmansegg und de Maiziere.[17] Rieckes als „Privatdruck erschienene Erinnerungen“ (1914–1951) sind den Historikern Götz Aly und Susanne Heim zufolge eine „monströse Sammlung von Rechtfertigungen“.[18]

Schriften

  • Hans-Joachim Riecke: Rationelle Grünlandwirtschaft: Ein Leitfaden für den praktizierenden Landwirt. Auf Grund der neueren unter westfälischen Verhältnissen gesammelten Erfahrungen. Landwirtschaftskammer fur die Provinz Westfalen, Münster 1930.
  • Hans-Joachim Riecke, Hanskarl von Manteuffel: Der ländliche Grundstücksverkehr, insbesondere die Grundstücksverkehrsbekanntmachung vom 26. Jan. 1937. Mit einem Geleitwort von R. Walther Darré. Reichsnährstand Verlags-G.m.b.H., Berlin 1937.

Literatur

  • Götz Aly, Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1993, ISBN 3-596-11268-0 (insbesondere S. 370–386, Kurzbiographie S. 386).
  • Rolf-Dieter Müller: Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1991. ISBN 3-596-10573-0 (S. 83, 99, 102, 205 u. 222).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c Andreas Zellhuber: „Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu …“. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion 1941–1945. Vögel, München 2006, S. 88. ISBN 3-8965-0213-1. Zellhuber stützt sich auf Rieckes Kurzbiographie aus Götz Aly, Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1993, ISBN 3-596-11268-0, S. 386. Außerdem hat er Rieckes Erinnerungen (1914–1951) herangezogen, die maschinenschriftlich mit handschriftlichen Anmerkungen im Bundesarchiv aufbewahrt werden. Früher als Kleine Erwerbungen 784 verzeichnet, gehört dieser 1962 verfasste Text heute zum Nachlass Hans-Joachim Riecke (BArch N 1774/1).
  2. a b c Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich: Wer war was vor und nach 1945. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2007, S. 496.
  3. a b Der Deutsche Reichstag, Wahlperiode nach dem 30. Januar 1933 Berlin 1938, S. 362-3.
  4. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg, 14. November 1945 – 1. Oktober 1946. (im Folgenden IMG) Bd. 11, Nürnberg 1949, S. 654.
  5. IMG, Bd. 36, S. 135–157, Dok. 126-EC, Wirtschaftspolitische Richtlinien für Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft, 23. Mai 1941, hier S. 145.
  6. Andreas Dornheim: Rasse, Raum und Autarkie. Sachverständigengutachten zur Rolle des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft in der NS-Zeit. Erarbeitet für das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Bamberg, 31. März 2011, S. 66.
  7. Andreas Dornheim: Rasse, Raum und Autarkie. Sachverständigengutachten zur Rolle des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft in der NS-Zeit. Erarbeitet für das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Bamberg, 31. März 2011, S. 34.
  8. Zit. nach: Götz Aly und Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung, S. 386.
  9. Götz Aly und Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung, S. 386.
  10. Rolf-Dieter Müller: Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht. Wirtschaft und SS. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1991, S. 99.
  11. IMG, Bd. 11, S. 655; Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 496.
  12. IMG, Bd. 11, S. 645-655; zur Anforderung Rieckes durch den Rosenberg-Verteidiger Dr. Thoma vgl. IMG, Bd. 8, S. 563 sowie Bd. 11, S. 436 u. S. 574. Online: Zeugenaussage Rieckes am 17. April 1946 (= IMG, Bd. 11, S. 645-655).
  13. IMG, Bd. 11, S. 649.
  14. Georg Kreis, Gerd Krumeich, Henri Menudier, Hans Mommsen & Arnold Sywottek (Hrsg.): Alfred Toepfer. Stifter und Kaufmann. Bausteine einer Biographie. Kritische Bestandsaufnahme. Christians, Hamburg 2000, S. 24.
  15. Bilanz des zweiten Weltkrieges: Erkenntnisse und Verpflichtungen für die Zukunft. Gerhard Stalling Verlag, Hamburg 1953.
  16. Georg Kreis, Gerd Krumeich, Henri Ménudier, Hans Mommsen und Arnold Sywottek: Einleitung. In: Georg Kreis et al: Alfred Toepfer. Stifter und Kaufmann. Bausteine einer Biographie – Kritische Bestandsaufnahme. Christians Verlag, Hamburg 2000. ISBN 3-7672-1373-7.
  17. Vom Stein getroffen. In: Der Spiegel. Nr. 40, 1964, S. 38 (30. September 1964, online).
  18. Götz Aly und Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung, S. 386.

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