Alkmaion (Philosoph)

Alkmaion (Philosoph)

Alkmaion (griechisch Ἀλκμαίων Alkmaíon, latinisiert Alcmaeo), auch Alkmaion von Kroton genannt, war ein griechischer Naturphilosoph (Vorsokratiker), der auch als Arzt praktiziert haben soll. Er lebte im späten 6. und frühen 5. Jahrhundert v. Chr.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Alkmaion stammte aus der Stadt Kroton, dem heutigen Crotone in Kalabrien. Er lebte im damals griechisch besiedelten Unteritalien. Zu seiner Zeit übten in Unteritalien die Pythagoreer (Vertreter der Lehre des Philosophen Pythagoras) kulturell und politisch erheblichen Einfluss aus. Laut Angaben von Quellen aus der römischen Kaiserzeit gehörte Alkmaion zur Gemeinschaft der Pythagoreer. Der Doxograph Diogenes Laertios und der spätantike Philosoph Iamblichos bezeichnen ihn als Schüler des Pythagoras.[1] In der Metaphysik des Aristoteles steht, in Alkmaions Jugendzeit sei Pythagoras noch am Leben, aber schon betagt gewesen; die Authentizität dieser Aristoteles-Stelle ist allerdings zweifelhaft.[2] Wenn die Information zutrifft, fällt Alkmaions Geburt in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr., denn Pythagoras tauchte um 530 v. Chr. in Unteritalien auf und starb nach 510.

Dem Bericht des Aristoteles zufolge ist die Naturphilosophie Alkmaions derjenigen der Pythagoreer ähnlich, stimmt aber nicht in jeder Hinsicht mit ihr überein, da er sich nicht so präzis wie die Pythagoreer auf bestimmte Aussagen festlegt. Wer dabei wen beeinflusst hat, ist für Aristoteles unklar. Somit hält Aristoteles Alkmaion nicht für einen Pythagoreer.[3] Das Verhältnis Alkmaions zu den Pythagoreern hat auch die moderne Forschung nicht eindeutig klären können, doch ist zu erkennen, dass er ihnen jedenfalls philosophisch nahestand.[4]

Aus den Quellen geht hervor, dass Alkmaion sich besonders für medizinische und biologische Fragen interessierte. Er befasste sich mit Anthropologie, Physiologie (einschließlich Pflanzenphysiologie[5]) und Embryologie. Außerdem nahm er auch zu astronomischen Fragen Stellung.

Alkmaions Heimatstadt Kroton war zu seiner Zeit ein bedeutendes Zentrum der griechischen Medizin; dort lebte damals der berühmte Arzt Demokedes. Alkmaion selbst soll auch praktizierender Arzt gewesen sein, doch ist dies in der Forschung umstritten, denn es fehlen zuverlässige Informationen; erst der spätantike Gelehrte Calcidius nennt ihn ausdrücklich Arzt.[6] Calcidius schreibt in seinem Kommentar zu Platons Dialog Timaios, Alkmaion habe als Erster durch Sezieren die Verbindung des Auges mit dem Gehirn aufgezeigt. Dass er als Arzt eine Operation am Auge gewagt habe, ist dem Text des Calcidius jedoch nicht – wie in älterer Forschungsliteratur angenommen wurde – zu entnehmen. Ob Alkmaion tatsächlich sezierte und gegebenenfalls die Sektion am Menschen oder nur am Tier vornahm, ist in der Forschung umstritten.[7] Aristoteles überliefert die Behauptung Alkmaions, dass Ziegen durch die Ohren atmen; daraus haben Wissenschaftshistoriker gefolgert, dass er beim Sezieren die Eustachi-Röhre entdeckte und dadurch zu dem Fehlschluss verleitet wurde.[8]

Werke

Alkmaion schrieb ein Buch über seine Naturphilosophie, dessen Titel „Über die Natur“ (Peri phýseōs) oder nach anderer Überlieferung „Naturlehre“ (physikós lógos) lautete. Diese Schrift richtete er, wie Diogenes Laertios den Anfang zitierend berichtet, an Brotinos, Leon und Bathyllos. Dies wird gewöhnlich als Widmung des Werks an diese drei Personen gedeutet; die Absicht des Verfassers kann aber auch eine an sie gerichtete Ermahnung oder Belehrung gewesen sein. Bei den drei Männern handelt es sich um Pythagoreer, die mit teils etwas abweichender Schreibung ihrer Namen auch in den Pythagoreerlisten des Iamblichos erscheinen. Alkmaions Schrift ist verloren, doch lässt sich ihr Inhalt teilweise aus Erwähnungen und Zitaten in späterer Literatur erschließen.

Der Schriftsteller Favorinus, auf den sich Diogenes Laertios beruft, behauptet, Alkmaion sei als der erste Philosoph betrachtet worden, der eine derartige Schrift verfasste. Diese Annahme ist aber irrig, denn die zeitliche Priorität kommt Anaximander zu.

Diogenes Laertios berichtet, Alkmaion habe vorwiegend über medizinische Themen geschrieben.

Lehre

In der Erkenntnistheorie lehrt Alkmaion, eine unmittelbare Einsicht in die unsichtbaren und die vergänglichen Dinge sei den Göttern vorbehalten, während die Menschen darauf angewiesen seien, sich diskursiv durch Folgerungen aus Beobachtungen um Erkenntnis zu bemühen.

In der Medizin vertritt Alkmaion die Auffassung, dass Gesundheit auf ein Gleichgewicht oder eine Ausgewogenheit (isonomía) der gegensätzlichen polaren Kräfte im menschlichen Körper zurückzuführen sei; Krankheit sei das Ergebnis der Alleinherrschaft (monarchía) eines von zwei Gegensatzpolen. Damit führt er ursprünglich politische Begriffe in die medizinische Terminologie ein; unter Isonomie verstand man im politischen Diskurs Gleichberechtigung und Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Als Beispiele von Gegensatzpaaren nennt er das Feuchte und das Trockene, das Kalte und das Warme, das Bittere und das Süße; als Krankheitsursache komme insbesondere übermäßige Hitze oder Kälte in Betracht. Ein Krankheitsausbruch erfolge entweder im Blut oder im Mark oder im Gehirn; als Anlass führt Alkmaion unter anderem ein Übermaß oder einen Mangel an Nahrung an.[9] Der Darstellung des Aristoteles zufolge nimmt er an, dass eine Vielzahl von Gegensatzpaaren wie weiß und schwarz, gut und schlecht, groß und klein das menschliche Leben prägt; im Gegensatz zu den Pythagoreern legt er sich aber nicht auf eine bestimmte Anzahl von genau benannten Gegensatzpaaren als Urprinzipien fest.

Als Ursache für die menschliche Sterblichkeit gibt Alkmaion an, dass die Menschen nicht in der Lage seien, „den Anfang mit dem Ende zu verbinden“ (im Gegensatz zur endlosen Kreisbewegung der Himmelskörper). Die Seele hingegen ist nach seiner Überzeugung zu ewiger Bewegung fähig und daher unsterblich. Allerdings ist unklar, ob er damit die menschliche Seele oder eine Weltseele meint.[10]

Im Gehirn – nicht, wie andere Denker, im Herzen – sieht Alkmaion das zentrale Organ der Wahrnehmung und Erkenntnis, die nach seiner Lehre dadurch ermöglicht wird, dass das Gehirn durch Kanäle mit den Sinnesorganen in Verbindung steht. In Zusammenhang mit seiner Theorie, dass das Gehirn der Sitz aller Sinneseindrücke ist, wird in der Forschung vermutet, dass er die Sehnerven entdeckt hat.[11] Er erläutert sein Wahrnehmungskonzept hinsichtlich der einzelnen Sinne, übergeht dabei aber den Tastsinn. Seine Überzeugung von der zentralen Rolle des Gehirns veranlasst ihn zu der Hypothese, dass der männliche Samen aus diesem Organ entstehe.[12] Diese Ansicht wurde in der griechischen Naturwissenschaft später von der rivalisierenden Theorie verdrängt, welche die Herkunft des Samens aus allen Körperteilen annimmt.

Alkmaion gehört zu den Vertretern der Meinung, dass neben dem männlichen Samen auch ein weiblicher bei der Fortpflanzung eine Rolle spiele. Er behauptet, das Kind erhalte das Geschlecht desjenigen Elternteils, dessen Samen reichlicher vorhanden sei. Eine andere seiner Hypothesen lautet, der Embryo ernähre sich mittels seines gesamten Körpers.

Das Einschlafen führt er darauf zurück, dass das Blut sich zurückziehe, und das Aufwachen auf eine Ausbreitung des Blutes; der Tod tritt nach seiner Lehre ein, wenn das Blut sich gänzlich zurückzieht.

Alkmaion legt Wert auf eine klare Trennung zwischen Denken und Wahrnehmen; im Denken sieht er die spezifische Besonderheit des Menschen, den er damit vom Tierreich scharf abgrenzt.

In der Astronomie war Alkmaion der Ansicht, dass die Planeten sich von Westen nach Osten entgegengesetzt zur täglichen Drehung der Fixsterne bewegen. Wie zahlreiche andere antike Philosophen meinte auch er, die Gestirne seien von göttlichen Wesen beseelt. Er soll die Sonne für flach gehalten haben.

Rezeption

Platon nennt Alkmaion nirgends namentlich, ist aber offensichtlich von ihm beeinflusst. In seinen Dialogen Phaidros und Nomoi knüpft er mit seiner Beweisführung für die Unsterblichkeit der Seele an eine Überlegung Alkmaions an und arbeitet sie aus, indem er die Unsterblichkeit aus der Selbstbewegung der Seele ableitet. Im Dialog Phaidon nimmt er auf Alkmaions Auffassung von der Rolle des Gehirns Bezug.[13]

Diogenes Laertios zählt unter den Werken des Aristoteles eine Schrift mit dem Titel „Gegen die Lehren Alkmaions“ auf.[14]

Goethe spielt in dem Gedicht „Dauer im Wechsel“ auf das Alkmaion-Fragment über den Grund der menschlichen Sterblichkeit an: „Laß den Anfang mit dem Ende / Sich in Eins zusammenziehn!“

Quellen und Fragmente

  • Maria Timpanaro Cardini: Pitagorici. Testimonianze e frammenti. Bd. 1, La Nuova Italia, Firenze 1958, S. 118–153 (griechische und lateinische Quellentexte mit italienischer Übersetzung und Kommentar)

Literatur

  • Bruno Centrone: Alcméon de Crotone. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Bd. 1, CNRS, Paris 1989, ISBN 2-222-04042-6, S. 116–117
  • Charlotte Triebel-Schubert: Der Begriff der Isonomie bei Alkmaion. In: Klio 66 (1984), S. 40–50
  • A. Debernardi, E. Sala, G. D'Aliberti, G. Talamonti, A.F. Franchini, M. Collice: Alcmaeon of Croton. In: Neurosurgery 66 (2010), S. 247–252

Weblinks

Anmerkungen

  1. Diogenes Laertios 8,83; Iamblichos, De vita Pythagorica 104.
  2. Es besteht der Verdacht, es könne sich um eine Interpolation im Text des Aristoteles handeln; dennoch ist die chronologische Angabe glaubwürdig. Siehe William K. C. Guthrie: A History of Greek Philosophy, Bd. 1, Cambridge 1962, S. 232 Anm. 1, 341–343; Bartel Leendert van der Waerden: Die Pythagoreer, Zürich – München 1979, S. 76f.
  3. Aristoteles, Metaphysik 986a22–986b10.
  4. Für die Annahme, dass er Pythagoreer war, plädiert Leonid Zhmud: Wissenschaft, Philosophie und Religion im frühen Pythagoreismus, Berlin 1997, S. 71, 229; anderer Meinung ist beispielsweise Guthrie (1962) S. 341. Die Eigenständigkeit Alkmaions betont Roberta Marrollo: Alcmeone: l’uomo tra osservazione medica e approccio psicologico. In: Antonio Capizzi/Giovanni Casertano (Hrsg.): Forme del sapere nei presocratici, Rom 1987, S. 115–135, hier: 117f.
  5. Andrei Lebedev: Alcmaeon on Plants. In: La Parola del Passato 48, 1993, S. 456–460.
  6. Gegen eine Tätigkeit als Arzt äußert sich Jaap Mansfeld: Alcmaeon: „Physikos“ or Physician? In: Jaap Mansfeld/Lambert M. de Rijk (Hrsg.): Kephalaion, Assen 1975, S. 26–38; anderer Meinung ist Zhmud (1997) S. 240f. und Anm. 58.
  7. Siehe dazu Zhmud (1997) S. 248–251, 254–256 (mit Diskussion der älteren Forschungsliteratur) und Geoffrey E. R. Lloyd: Methods and Problems in Greek Science, Cambridge 1991, S. 164–178.
  8. Zhmud (1997) S. 251f.
  9. Siehe dazu Dimitri Z. Andriopoulos: Alcmeon’s and Hippocrates’s Concept of Aetia. In: Pantelis Nicolacopoulos (Hrsg.): Greek Studies in the Philosophy and History of Science, Dordrecht 1990, S. 81–90, hier: 83f.
  10. In der Forschung wird seine Aussage gewöhnlich auf die menschliche Seele bezogen; die gegenteilige Auffassung vertritt Christoph Horn: Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion und Platon. In: Georg Rechenauer (Hrsg.): Frühgriechisches Denken, Göttingen 2005, S. 152–173, hier: 156–158.
  11. Diese Annahme ist allerdings umstritten; zu der Diskussion darüber siehe Lorenzo Perilli: Alcmeone di Crotone tra filosofia e scienza. In: Quaderni Urbinati di Cultura Classica, Nuova Serie 69, 2001, S. 55–79, hier: 60.
  12. Zhmud (1997) S. 256; Erna Lesky: Alkmaion bei Aetios und Censorin. In: Hermes 80, 1952, S. 249–255.
  13. Zu Platons Alkmaion-Rezeption siehe Horn (2005) S. 158ff.
  14. Diogenes Laertios 5,25.

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