Handlungsorientierter Unterricht

Handlungsorientierter Unterricht

Handlungsorientierter Unterricht ist ein so genannter ganzheitlicher und schüleraktiver Unterricht, in dem die zwischen dem Lehrer und den Schülern vereinbarten Handlungsprodukte die Organisation des Unterrichtsprozesses leiten. Als Ergebnis sollen „Kopf, Herz und Hand“ (Johann Heinrich Pestalozzi, 1746-1827), also kognitives, affektives und psychomotorisches Lernen der Schüler in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden.[1] Es handelt sich nicht um ein didaktisches Modell, sondern lediglich um ein didaktisch-methodisches Konzept. Andere Begriffe sind pädagogisch-didaktisches Konzept, Lehr-Lern-Arrangement oder Lernarchitektur.

Handlungsorientierter Unterricht geht in der Regel von einer konkreten Situation zur Übung aus (1. Schritt), um daraus (2. Schritt) eine allgemeine Gesetzmäßigkeit abzuleiten oder ein allgemeines Prinzip zu erklären (induktives Vorgehen). Das Gegenkonzept ist das Instruktionslernen. Es erklärt zuerst das Prinzip, die Gesetzmäßigkeit oder den Zusammenhang, um dann Einzelfälle in Form von Übungen oder Beispielen zu behandeln.

Das Konzept ist im Wesentlichen der konstruktivistischen Didaktik zuzuordnen. Der Konstruktivismus geht davon aus, dass Menschen die äußere Realität nur mit Hilfe ihrer Sinnesorgane wahrnehmen können. Jeder Mensch konstruiert seine Vorstellung von der Realität aus dem, was er im Laufe seines Lebens wahrnimmt. Dadurch ergibt sich zunächst, dass die Vorstellungen interindividuell verschieden sein können. Für die (handlungsorientierte) Didaktik besonders relevant ist die Schlussfolgerung, dass es kein sinnvolles Ziel sein kann, eine bestimmte Vorstellung von der "Realität" in einem anderen Menschen zu verankern, wie es mittlerweile überholte Formen der Instruktion versuchen. Stattdessen muss der Lernende bei der Konstruktion seiner Vorstellung unterstützt werden, indem man ihm Möglichkeiten zur Prüfung der eigenen Vorstellungen an der Realität eröffnet.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsbestimmung (Entwicklungsgeschichte)

Handlungsorientierter Unterricht ist ein auf die Arbeitspädagogik der Reformpädagogik zurückgehender Begriff. Er hat allerdings schon Vorläuferkonzepte in Pestalozzis Idee der Elementarbildung als Einheit von Kopf, Herz und Hand und den Selbsttätigkeitskonzepten des 19. Jahrhunderts wie bei Diesterweg oder Fröbel. In der Arbeitspädagogikdebatte zu Beginn der Weimarer Republik wurden sehr heterogene Konzepte vertreten wie die freie geistige Schularbeit bei Gaudig (1869-1923), der Ansatz, schulisches Lernen in den gesellschaftlichen Produktionsprozess zu integrieren (Paul Oestreich (1878-1959) oder die mehr auf handwerkliches Schaffen ausgerichtete Pädagogik Georg Kerschensteiners (1854-1932). Zeitgleich entwickelten John Dewey (1859-1952) und William Heard Kilpatrick (1871-1965) den Ansatz des „learning by doing“, bei dem das handelnde Erkunden der die Schule umgebenden Wirklichkeit bedeutsam war. Aber auch andere Vertreter der Reformpädagogikepoche setzten sich von der Verbalschule ab und betonten die pädagogische Wirksamkeit von handelndem Lernen wie Freinet (1896-1966) oder Montessori (1870-1952).

Auch heute gilt dieser Ansatz als produktives didaktisch-methodisches Konzept. Handlungsorientierung basiert heute lerntheoretisch auf zwei grundlegenden Theorien, nämlich der auf die sowjetische Psychologie um Wygotski und Alexej Leontjew zurückgehenden Tätigkeitstheorie sowie den auf die kognitive Handlungstheorie von Piaget und Aebli zurückgehenden Ansätzen zur entwicklungspsychologischen Fundierung des Lernens. Vielfach verschwimmt der Begriff der Handlungsorientierung mit dem ganzheitlichen, entdeckenden oder offenen, kindgemäßen Unterricht. Deshalb sind Qualitätskriterien erforderlich, die Handlungsorientierung klarer definieren.

Handlungsorientierung verzichtet auf das Prinzip der inhaltlichen Vollständigkeit eines Themenkanons, sondern ist eher exemplarisch; nicht die Einverleibung von Begriffen, sondern ihr Nach-Schaffen und das Neukombinieren von Gegebenheiten sind wesentlich. Vereinfacht gesagt erweitert die Handlungsorientierung die Ganzheitlichkeit in der Betrachtung des Lerners und seines Umfeldes um das Modell der vollständigen Handlung als konstruktivistischen Prozess.

In der politischen Bildung hat die Handlungsorientierung eine spezielle Bedeutung. Über den Unterricht hinaus meint sie die Umsetzung des Gelernten in politisches Handeln als aktiver Bürger. Dies kann eine konkrete politische Aktion in der Gegenwart (im Schulleben, politische Initiative) sein oder eine Handlungsbereitschaft für künftige Situationen.

Merkmale des Handlungsorientierten Unterrichts

Handlungsorientierung und Ganzheitlichkeit

Im handlungsorientierten Unterricht wirken - in einem Wechsel von Anstrengung und Entspannung - Kopf- und Handarbeit unter Beteiligung des Gefühls und aller Sinne zusammen.

Öffnung des Unterrichts

Öffnung des Unterrichts kann auf zwei Ebenen stattfinden:

  • Inhaltliche und institutionelle Öffnung: Der Unterricht ermöglicht es den Schülern zumindest ansatzweise, auch ihre Schul- und Klassensituation als offene, nicht in allem institutionell festgelegte Lebenswelt zu sehen und neu zu erfahren (Teilaspekt des Lebensbezugs des Unterrichts). In der Projektarbeit außerhalb der Schule wird der geschützte Raum der schulischen Lernumwelt auch verlassen.
  • Curriculare und methodische Öffnung: Der Unterricht fördert Schülerinitiativen und Eigenverantwortlichkeit für die Wahl zielorientierter Aktivitäten und die Arbeits- und Zeiteinteilung (bis hin zur Aufstellung von Wochenplänen).

Lernerorientierung

Unter dem Prinzip der Lernerorientierung wird zum einen verstärkt gefragt, was Schülerinnen und Schüler zu welchen Zwecken lernen wollen bzw. sollen, zum anderen, welche Voraussetzungen sie entsprechend ihren Anlagen, ihrem Alter sowie ihren spezifischen Lebens- und Lernerfahrungen für bestimmte Lernprozesse mitbringen und welches ihre bevorzugten Lernweisen sind.

Inhaltsorientierung

Die Themenbereiche des handlungsorientierten Unterrichts berücksichtigen verstärkt die persönlichen Erfahrungen und Interessen der Jugendlichen und fordern sie zur emotionalen und kognitiven Auseinandersetzung heraus. Darüber hinaus orientieren sie sich in den höheren Klassen in immer stärkerem Maße an außer- und nachschulischen Handlungsfeldern im privaten und beruflichen Bereich.

Lernorientierung und Prozessorientierung

Angesichts der Gegebenheiten der Institution Schule wird Lehren zwar immer noch als notwendig angesehen. Man akzeptiert jedoch, dass es nicht mehr oder weniger automatisch zu entsprechendem Lernen führt, selbst wenn die Schüler gut mitarbeiten. So sieht die Didaktik heute in den Schülern keine Objekte des Lehrens, denen Lerninhalte „vermittelt“ werden. Sie werden vielmehr als eigenaktive "Lernende" anerkannt, die das dargebotene Material sowie die Informationen des Lehrers für sich verarbeiten (vgl. Lehrer-Schüler-Verhältnis). Sie verstehen Inhalte auf der Grundlage ihrer individuellen Lerndispositionen (intellektuelle und affektive Faktoren) und Lernweisen sowie ihres Vorwissens und ihrer vorangegangenen Lebens- und Lernerfahrungen („Weltwissen“); in diesen Bestand integrieren sie neue Informationen sowie entsprechende Inhalte und „konstruieren“ so ihr Wissen (vgl. Konstruktivistische Didaktik). (Dieses „Konstruieren“ hat also nichts mit der alltagssprachlichen Bedeutung des Begriffs im Sinne einer bewusst zielgerichteten Aktivität zu tun.) Diese Hinwendung von einem naiven „Instruktionismus“ zu einer „konstruktivistischen“ Position verändert auch die Funktion der Unterrichtenden: sie werden verstärkt als classroom managers und learning facilitators gesehen, die den Schülern Hilfen für ihre Wissenskonstruktion anbieten.

Die wesentlichen Grundlagen dieses lern- und prozessorientierten Ansatzes sind:

  • Reflektiertes Zusammenspiel von Öffnung und Steuerung (s. oben)
  • Förderung eines weitgehend selbstbestimmten Lernens (Lernerautonomie)
  • Förderung der Entwicklung individueller Lernstrategien.

Produktorientierung

Ziel des handlungsorientierten Unterrichts ist die Hervorbringung von materiellen und/oder sprachlichen Handlungsprodukten.

Dies geschieht in Partner-, Gruppen- und Projektarbeit (mit gemeinsamer Erörterung, Planung und Diskussion vgl. Modell der vollständigen Handlung): Modell, Wand- oder Klassenzeitung (ggf. auch als Ausstellung); Leserbrief oder Flugblatt (nicht nur klassenintern-fiktiv, sondern real und damit in eine öffentliche Diskussion eingreifend); Teilnahme an einem Preisausschreiben oder Wettbewerb; Simulation, Rollenspiel, szenisches Spiel, Musik, Tanz, Theateraufführung, Elternabend; Klassenfahrt, Exkursion usw.

Handlungsorientierung in folgenden Methoden

Projektunterricht

Projektunterricht ist eine handlungsorientierte, ganzheitliche, lernerzentrierte, integrative Lernform, die curricular offen ist und sich durch Lernerautonomie (Selbstorganisation, Selbstverantwortung) und Teamwork auszeichnet. Die Ergebnisse sind Produkte im oben genannten Sinn.

Freiarbeit

Freiarbeit ist eine Form des offenen Unterrichts, die auf die Reformpädagogik zurückgeht. Je nach Grad der Freiarbeit arbeiten die Schüler nach ihren Interessen in organisatorischer, zeitlicher, räumlicher, kooperativer, methodischer, inhaltlicher und individueller Freiheit. In weniger radikalen Formen der Freiarbeit wählen die Schüler frei aus einem vorbereiteten Pool Materialien aus und bearbeiten diese.

Stationenlernen

Lernen durch Lehren

Seit dem Anfang der 80er Jahre hat sich die handlungsorientierte Methode Lernen durch Lehren (LdL) in allen Fächern und Schultypen (auch an der Hochschule) etabliert. Das Konzept wurde zunächst im Französischunterricht des Gymnasiums durch Jean-Pol Martin erprobt und verbreitet. In dem Handbuch zur Französischdidaktik von Nieweler (2006) wird LdL im Glossar als "radikale Form der Schüler- und Handlungsorientierung" charakterisiert [2].

Literatur

  • Hans Aebli: Denken: das Ordnen des Tuns. Band 2, Denkprozesse. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1981.
  • Hans Aebli: Zwölf Grundformen des Lehrens - eine allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Medien und Inhalte didaktischer Kommunikation - der Lernzyklus. 12. Auflage. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2003.
  • Gerhard Bach & Johannes-Peter Timm (Hg.): Englischunterricht. Grundlagen und Methoden einer handlungsorientierten Unterrichtspraxis (4., vollst. überarb. u. erweit. Aufl.). Tübingen, Basel: A. Francke, 2009. ISBN 978-3-7720-8340-2.
  • Roman Dörig: Handlungsorientierter Unterricht - Ansätze, Kritik und Neuorientierung aus bildungstheoretischer, curricularer und instruktionspsychologischer Perspektive. WiKu-Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-936749-73-6.
  • Hartmut Giest: Handlungsorientiertes Lernen. In: Detlef Pech, Astrid Kaiser (Hrsg.): Neuere Konzeptionen und Zielsetzungen im Sachunterricht. Basiswissen Sachunterricht. Band 2, Schneider Verlag, Baltmannsweiler 2004, S. 90-98.
  • Herbert Gudjons: Handlungsorientiert lehren und lernen. Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn/Obb. 2001.
  • Astrid Kaiser: Praxisbuch handelnder Sachunterricht. Band 1, Schneider Verlag, Baltmannsweiler 2007 (11. Aufl.).
  • Jean-Pol Martin: Vorschlag eines anthropologisch begründeten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. Verlag Gunter Narr, Tübingen 1994, ISBN 3-8233-4373-4.
  • Hilbert Meyer: UnterrichtsMethoden. Band I: Theorieband; Band II: Praxisband. Scriptor Verlag, Frankfurt am Main 1987.
  • Gerhard Wöll: Handeln: Lernen durch Erfahrung. Grundlagen der Schulpädagogik. Band 23, Schneider Verlag, Baltmannsweiler 1998.

Quellen

  1. Meyer, Hilbert, 1987, 214.
  2. Andreas Nieweler (Hg.): Fachdidaktik Französisch - Tradition|Innovation|Praxis. Stuttgart: Klett, 2006, 318.

Siehe auch

Weblinks


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