Alfred Redl

Alfred Redl

Alfred Redl (* 14. März 1864 in Lemberg, Galizien; † 25. Mai 1913 in Wien) war ein österreichischer Nachrichten-Offizier und berühmter Spion. Er war zuletzt Oberst der österreich-ungarischen Armee und Generalstabschef des VIII. Korps in Prag. Während des größten Teils seiner vorhergehenden Dienstzeit war er in leitender Stellung im Evidenzbüro, dem Militärischer Nachrichtendienst tätig. Wegen seines Zuganges zu fast allen geheimen Unterlagen der Armee wurde er zum wichtigsten Spion des russischen Geheimdienstes. Zuletzt lieferte er diese Unterlagen auch dem italienischen und französischen Geheimdienst. Nach seiner Enttarnung beging er Selbstmord.

Alfred Redl

Inhaltsverzeichnis

Jugendjahre

Redl wurde 1864 als Sohn von Franz und Mathilde Redl in Lemberg, der damaligen Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Galizien und Lodomerien, geboren. Sein Vater hatte zunächst den Offiziersberuf ergriffen, musste jedoch die Armee mit 31 Jahren verlassen, weil er die für eine standesgemäße Hochzeit erforderliche Heiratskaution nicht aufbringen konnte. Es gelang ihm eine adäquate Anstellung bei der k.k. Carl Ludwig-Bahn in Lemberg zu bekommen. Dort stieg er bis zum Eisenbahn-Oberinspektor auf. Franz Redls sieben Kinder waren erfolgreich: Zwei seiner Söhne wurden Berufsoffiziere, einer Architekt, einer Jurist und einer Bahnbeamter wie sein Vater. Die beiden Töchter ergriffen den Lehrberuf. Die Tatsache, dass sich der Vater auch erfolgreich bemühte, die Kinder dreisprachig – polnisch, ruthenisch und deutsch – zu erziehen, sollte für die Karriere Alfreds Redls entscheidende Bedeutung erlangen. Alfred Redl trat nach dem Besuch der Unterrealschule im Alter von 15 Jahren in die k.k. Kadettenschule Karthaus ein, die in einem Vorort von Brünn gelegen war. Es wird angenommen, dass diese abgeschlossene reine Männerwelt in Zusammenhang mit der Ablehnung seiner dominanten Mutter die homoerotische Neigung gefördert hat.[1] Eine solche Neigung war damals in Militärkreisen durchaus verbreitet, führte aber wenn sie öffentlich gemacht wurde, zur Entlassung aus dem Staatsdienst, gesellschaftlicher Ächtung und einem Gerichtsverfahren. Redl verließ Karthaus 1883 als Kadett-Offiziersstellvertreter mit „sehr gutem Erfolg“ und wurde nach vierjähriger Truppenverwendung beim Infanterieregiment Nr. 9 in Lemberg „vom Offizierskorps der Beförderung zum Leutnant für würdig empfunden“. Mit einer überdurchschnittlich guten Beurteilung seiner Vorgesetzten versehen, bewarb er sich gemeinsam mit mehreren hundert anderen Bewerbern um Zulassung zur Ausbildung an der k.u.k. Kriegsschule, der Ausbildungsstätte für Offiziere des Generalstabsdienstes. Es spricht für Redls überdurchschnittliche Fähigkeiten, dass er 1892 als Absolvent einer gewöhnlichen Kadettenschule nicht nur das Auswahlverfahren positiv absolvierte, sondern 1894 auch zu jenen 25 Offizieren gehörte, die den Lehrgang positiv abschlossen. Bereits vor seiner Einberufung musste sich Redl wegen einer syphilitischen Erkrankung in Behandlung begeben, die vor der Entdeckung von Antibiotika sehr häufig einen chronischen und nicht selten tödlichen Verlauf nahm. 1892 war die Krankheit laut einer Dienstbeschreibung angeblich völlig geheilt.[2] Redls Obduktion nach seinem Suizid ergab allerdings, dass er nicht nur chronisch erkrankt war, sondern auch nicht mehr lange zu leben gehabt hätte.[3]

Generalstabsoffizier

Nach seinem Abgang von der Kriegsschule war Redl bis 1895 im Eisenbahnbüro tätig, einer Dienststelle, die sich mit Transport- und Aufmarschplanungen beschäftigte. Dabei ging es auch darum, die Bahnstrecken möglicher Kriegsgegner auszukundschaften. Von besonderer Bedeutung war diese Aufgabe in Russland, da dort Landkarten der Geheimhaltung unterlagen und der Verlauf von Bahnstrecken vielfach nur durch persönliche Bereisung festgestellt werden konnte.

Nach dieser relativ kurzen Dienstverwendung war Redl mehrere Jahre bei Truppenstäben eingesetzt, zunächst in Budapest und dann – bereits als Hauptmann – in seiner Heimatstadt Lemberg. 1899 wurde er auf Weisung des Chefs des Generalstabes Friedrich von Beck-Rzikowsky auf einen Sprachkurs nach Russland geschickt. In Kasan erwarb er dann jene Kenntnisse, die das Sprungbrett zu seiner Dienstverwendung in der „russischen Gruppe“ des Wiener Evidenzbüros im Generalstab waren, die im Jahr 1900 begann. Dieses Evidenzbüro sammelte die aus den verschiedensten Quellen stammenden Meldungen militärischer Relevanz, die täglich dem Chef des Generalstabes und einmal wöchentlich dem Kaiser Franz Joseph I. (bis 1913 handschriftlich) vorgelegt werden mussten. Dafür standen 20 Offiziere zur Verfügung, ein Bruchteil dessen, worüber der deutsche, geschweige denn der russische Generalstab verfügten. Der Personal- und Geldmangel beruhte vor allem auf der Tatsache, dass das Evidenzbüro dem Außenministerium unterstand, das als eines der drei k.u.k. Ministerien von Ungarn mitfinanziert wurde, das den gemeinsamen Institutionen grundsätzlich nur minimale Mittel zubilligen wollte.

Redl avancierte rasch. Nach wenigen Monaten kam er bereits in das Kundschaftsbüro, das für die nachrichtendienstliche Überwachung aller auswärtigen Staaten zuständig war. 1905 wurde er zum Major befördert und übernahm 1907 die Leitung des Kundschaftsbüros. Wenige Monate später wurde er zum stellvertretenden Leiter des Evidenzbüros, was ihn zu einem der engsten Vertrauten des Chefs des Generalstabs machte. Nach seiner Beförderung zum Oberst im Mai 1912 wurde Redl am 18. Oktober desselben Jahres als Generalstabschef des VIII. Armeekorps nach Prag versetzt, das vom ehemaligen Evidenzbüro-Leiter Arthur Giesl von Gieslingen kommandiert wurde.

Spion

In Russland hatte man die militärische Spionage um die Jahrhundertwende auf eine neue Basis gestellt. Die russische StaatspolizeiOchrana“ war nun federführend für die Auslandsspionage zuständig und unterhielt Büros in Moskau, Sankt Petersburg und dem damals russischen Warschau. Sie arbeitete eng mit der „Abteilung für das Kundschafterwesen“ im zaristischen Generalstab zusammen. Für Österreich war die Ochrana-Abteilung in Warschau zuständig, die eine Stärke von 50 Mann hatte, 150 gehörten zur Reserve. Chef des Kundschafterwesens war Oberst Nikolai Stepanowitsch Batjuschin, der um 1901 einen perfekt deutsch sprechenden Balten-Deutschen namens Pratt als „Urlauber“ nach Wien schickte, um einen möglichst hochrangigen Konfidenten des Wiener Evidenzbüros anzuwerben. Auf seiner Suche nach Schwachstellen im Privatleben dieser Offiziere wurde er 1903 bei Hauptmann Redl fündig, der zu dieser Zeit homosexuelle Kontakte zu einem Leutnant Meterling des Dragonerregimentes Nr. 3 unterhielt. Pratt richtete an Redl folgenden Brief:

„Ich muss mit Ihnen über einen Leutnant XXX vom Dragonerregiment 3 sprechen. Sollten Sie nicht kommen oder mir eine Falle stellen wollen, so wird der Chef des Generalstabes morgen über Ihre Beziehungen zu Leutnant XXX informiert werden.[4]

Redl kam und erklärte sich bereit, mit der Ochrana zusammenzuarbeiten. Neuere Forschungen bezweifeln allerdings diese gesamte Darstellung, sie gehen hingegen davon aus, dass diese Erpressung gar nicht stattfand und die Initiative von Redl ausging, der Geldquellen für seinen aufwändigen Lebenswandel benötigte.[5] Möglicherweise war den russischen Agenten die Identität ihres Informanten nicht einmal bekannt, weil Redl den Kontakt verdeckt angebahnt hätte und die Übermittlung von Unterlagen und Geld immer per Post vor sich ging.[6] Redl wurde zunächst vom russischen Militärattaché Baron de Roop betreut, eine Tätigkeit, die Franz Joseph seinen Militärattachés in anderen Ländern ausdrücklich verboten hatte. Nachdem de Roop das Land wegen Spionage verlassen musste, übernahm die Betreuung dessen Nachfolger Oberst Mitrofan Martschenko, der später aus dem gleichen Grund ausgewiesen wurde. Dieser urteilte über Redl im Oktober 1907 wie folgt:

„tückisch, verschlossen, konzentriert und pflichtbewusst, gutes Gedächtnis... Süße, weiche, sanfte Sprache, ... eher schlau und falsch, als intelligent und talentiert. Zyniker...[7]

Da die Russen Redl großzügig entlohnten, war dieser nun in der Lage, ein Leben zu führen, das sonst nur Aristokraten vorbehalten war. Er verkehrte grundsätzlich nur in Lokalen der gehobenen Klasse und leistete sich zwei teure Automobile, eigene Dienerschaft, Pferde, Apanagezahlungen an seine Liebhaber.[8] Um seine Einnahmen zu optimieren, begann er seine Unterlagen auch dem italienischen und dem französischen Geheimdienst anzubieten, wodurch er auf einen Jahresverdienst von etwa 50.000 Kronen kam.

Redl lieferte nicht oft, aber wenn er Unterlagen lieferte, so waren sie umfangreich und von hoher Relevanz. Er lieferte so gut wie alles, was in der k.u.k. Armee der Geheimhaltung unterlag: Mobilmachungspläne, Truppenstärken, Inspektionsberichte, Festungspläne. Die Unterlagen wurden von ihm fotografiert und die Aufnahmen von ihm selbst entwickelt. Er enttarnte auch österreichische Spione, die in Russland generell hingerichtet wurden. Darüber hinaus sorgte er dafür, dass von den Russen gefälschte Berichte, in denen die russischen Truppenstärken, die Qualität der Truppen und die Dauer der Mobilmachung in Richtung geringer Leistungsfähigkeit verfälscht worden waren, dem Generalstab zur Kenntnis gelangten.

Natürlich waren die Rückschläge auffällig, die der österreichische Kundschafterdienst erlitt. Redl und seine Auftraggeber verstanden es allerdings, diese Rückschläge durch vermeintlich „erfolgreiche Aktionen“ zu kompensieren. Sie beruhten auf gefälschten russischen Geheimdokumenten und „ertappten“ russischen Agenten, die für Redls Auftraggeber zur Belastung geworden waren. Unverständlich ist allerdings die Tatsache, dass man den Quellen seines öffentlich zur Schau getragenen Reichtums niemals ernsthaft nachging. Man begnügte sich mit dem Hinweis auf eine Erbschaft, die in Wirklichkeit unbedeutend war.

Einmal konnte Redl nur mit Glück einer Enttarnung entgehen. 1909 war Major Lelio Graf Spannocchi Militärattaché in St. Petersburg.[9] Spannocchi hatte sich durch besondere Leistungen für diese Aufgabe qualifiziert und auch das Vertrauen des Kaisers erworben. In St. Petersburg freundete er sich mit dem britischen Militärattaché Guy Percy Wyndham (1865–1941) an, der ihm eines Tages anvertraute, dass ein sehr hoher österreichischer Generalstabsoffizier den Russen alles liefern würde, was diese wünschten. Spannocchi teilte dies dem Chef des Evidenzbüros, Oberst Hordlicka mit, der diesen Verdacht nicht weiter ernst nahm und ihn – nachdem Spannocchi nun dem Kriegsminister persönlich Bericht erstatten wollte – bat, sich nicht an diesen, sondern an Oberst Redl zu wenden. Dieser verstand es, in Zusammenarbeit mit den Russen Spannocchi bloßzustellen, seine Abberufung aus Moskau zu erreichen und seiner Karriere einen – allerdings nicht dauerhaften – Schaden zuzufügen.

Enttarnung

Am 18. Oktober 1912 wurde Redl nach Prag versetzt, wo er als Generalstabschef des VIII. k.u.k. Korps eingesetzt wurde. Da er sich in seiner neuen Funktion kaum unauffällig mit Verbindungsleuten der Gegenseite treffen konnte, erfolgten die Geldsendungen zumeist per Post. Eine solche postlagernde Geldsendung, gerichtet an einen gewissen Nikon Nizetas, wurde vom Hauptpostamt Wien nach Ende der Behebungsfrist als unzustellbar an das Aufgabepostamt in Eydtkuhnen in Ostpreußen rückgesendet. Als man dort auf der Suche nach Hinweisen auf den Absender den Brief öffnete, kamen 6000 Kronen in Noten und Adressen zum Vorschein.[10] Der Brief wurde an den deutschen Nachrichtendienst weitergeleitet. Major Walter Nicolai fand im Brief zwei den Preußen und Österreichern bekannte Spionageadressen und informierte den österreichischen Major i.G. Maximilian Ronge vom Evidenzbüro. Der Brief war aber durch amtliche Behandlung so zugerichtet, dass ein Empfänger sofort „Lunte riechen“ musste. Major Ronge ließ durch seine Mitarbeiter einen neuen Brief verfassen, der von Major Nicolai in Berlin aufgegeben wurde.[11] Der Chef der Staatspolizei Edmund von Gayer ließ den Schalter für postlagernde Briefe im Postamt am Fleischmarkt über einen Monat lang überwachen. Einzige Hoffnung war, dass der Empfänger nochmals nach dem Brief fragen werde. Als Redl am 25. Mai 1913 den Brief abholte, wurde er verfolgt und anhand der handschriftlich ausgefüllten Abhol- und Aufgabescheine, die er weggeworfen hatte, eindeutig als Adressat identifiziert.[10]

Vertuschungsversuch des Generalstabes

Für den vor allem in Ungarn, aber auch im Außenministerium umstrittenen Chef des k.u.k. Generalstabes, Franz Conrad von Hötzendorf, war dies ein doppelter Schlag. Neben dem Geheimnisverrat drohte nun ein peinlicher Prozess, der die Versäumnisse des Generalstabes bei der Auswahl und Überprüfung von Offizieren in Schlüsselpositionen aufgedeckt und vor allem den Ungarn viel Munition geliefert hätte, die möglicherweise zum Sturz des Generalstabschefs selbst hätte führen können. Er befahl deshalb höchste Geheimhaltung. Eine Offiziersdelegation sollte Redl heimlich in seinem Hotel (dem Hotel Klomser in der Wiener Herrengasse) aufsuchen und ihm einen Selbstmord nahelegen. Die Delegation, bestehend aus dem Auditor Vorlicek, Urbanski, Conrad-Stellvertreter Höfler und Ronge, fand Redl, der seine Enttarnung ahnte, bei Suizidvorbereitungen in seinem Hotelzimmer. Er gestand seinem ehemaligen Mitarbeiter Ronge, dass er in den Jahren 1910 und 1911 fremde Staaten im Großen bedient und ohne Komplizen gearbeitet habe.[12] Man übergab ihm eine Pistole und ein Päckchen Gift und zog sich dann zurück, um dem Verbrecher sodann die Möglichkeit zu geben, seinem Leben ein rasches Ende zu bereiten.[12] Man wartete bis in die Morgenstunden, in denen man seinen Tod feststellte. Conrad war zufrieden und berichtete Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, dem Generalinspektor der k.u.k. Armee, per Telegramm, Redl habe sich „aus bisher unbekannter Ursache“ erschossen.[13] Der Kaiser wurde in ähnlicher Form informiert. Eine ähnliche Depesche ging am 26. Mai auch an die Presse.[14]

Aufdeckung des Skandals

Die Kommission wurde nun unverzüglich nach Prag geschickt, um dort Redls Unterkunft zu untersuchen und Spuren zu sichern. Sie traf dort um die Mittagszeit des Suizidtages ein. Da es Sonntag war, konnte man keinen Schlosser im Staatsdienst auftreiben, der in der Lage war, Türen und andere verschlossene Behältnisse zu öffnen. Man ließ deshalb einen zivilen Schlosser holen, der diese Arbeit verrichtete. Dieser Handwerker gehörte der Fußballmannschaft des DBC Sturm Prag an und versäumte durch den Auftrag ein wichtiges Spiel, weshalb er vom Ehrenobmann des Vereins, dem später als „rasender Reporter“ bekannt gewordenen Egon Erwin Kisch, damals Lokalreporter bei der deutschsprachigen Prager Zeitung Bohemia, gerügt wurde. Als Kisch den Grund des Fernbleibens und alle Details erfahren hatte, erkannte er, dass es sich bei dem Wohnungsinhaber nur um Oberst Redl handeln konnte, dessen Tod die Zeitungen gerade gemeldet hatten.[15] Den Angaben des Schlossers ließ sich entnehmen, dass Spionage und Homosexualität im Spiel waren. Aufgrund der Zensur konnte Kisch diese Sensationsmeldung lediglich als Dementi bringen, sie erschien Fettdruck auf der Titelseite der Montagausgabe der Bohemia:

„Von hoher Stelle werden wir um Widerlegung der speziell in Militärkreisen aufgetauchten Gerüchte ersucht, dass der Generalstabschef des Prager Korps, Oberst Alfred Redl, der vorgestern in Wien Selbstmord verübte, einen Verrat militärischer Geheimnisse begangen und für Russland Spionage getrieben habe.[16]

Dieser Bericht sorgte für großes Aufsehen, auch Kaiser und Thronfolger erfuhren erst auf diese Weise, dass es Hinweise auf schwere dienstliche Verfehlungen Redls gab. Ein Heer von Reportern begann sich des Falles anzunehmen. Diese Darstellung Kischs, er allein sei für die Aufdeckung verantwortlich gewesen, wurde und wird allerdings von vielen Seiten bezweifelt.[17]

Obwohl Egon Erwin Kischs Hinweis auf den Fall Redl in der Prager Tageszeitung Bohemia nachzulesen ist, behauptet das Lexikon der Spionage im 20. Jahrhundert sogar:[18]

„Die angebliche Beteiligung des Reporters Egon Erwin Kisch (Prager Bohemia und Auslandskorrespondent des 'Berliner Tagblattes') an der Aufdeckung beruht auf seiner eigenen späteren Darstellung, für die es keine Beweise gibt.“

Das Kriegsministerium reagierte erst drei Tage später mit der Meldung, Redl habe sich das Leben genommen, „als man im Begriffe war“, ihn wegen homosexueller Verfehlungen und Geheimnisverrat an fremde Mächte zu überführen.

Auch später noch verschwieg das Ministerium die Tatsache, dass man Redl zum Suizid gedrängt und dadurch die Aufklärung des Falles verhindert hatte. Der Leiter des Evidenzbüros, Urbanski, gab später an, er habe einen schonungslosen Bericht abgeliefert, dieser sei jedoch von der Militärkanzlei des Thronfolgers verharmlost worden.

Die österreichische Abwehr stellte bei der Aufarbeitung des Falles fest, dass Redls Konto bei der Neuen Wiener Sparkasse seit Anfang 1907 in auffallend schneller Folge Einlagen verzeichnete, die sich von 1905 bis 1913 auf insgesamt 116.700 Kronen beliefen.[8] Der Zeitraum und die Höhe der Einlagen wies daher auf länger andauernde und wichtigere Verratshandlungen hin, als Redl sie in der Nacht vor seinem Tod eingeräumt hatte. Eine genauere Aufklärung war jedoch wegen Redls Tod nicht mehr möglich.

Militärische Folgen

Als man in Redls Privaträumen die Kriegsordre de Bataille, die Mobilisierungsanweisungen für alle Eventualfälle, das Reservathandbuch, Maßnahmen der Spionageabwehr in Galizien, Deckadressen fremder Generalstäbe, Spionagekorrespondenzen, Dokumente über das Kundschafterwesen und anderes mehr gefunden hatte, ging man vom größten anzunehmenden Schaden – dem Verrat der österreichischen Aufmarschplanung gegen Russland – aus. Die gefundenen Unterlagen stellten die erforderlichen Kräfte zur Eröffnung von kriegerischen Operationen und ihre Verteilung im Raum dar. Diese Annahme wurde durch russische Historiker inzwischen bestätigt.

Nachdem die Affäre ans Licht gekommen war, bemühte sich der österreichische Geheimdienst nach Kräften, die Angelegenheit in der Öffentlichkeit herunterzuspielen. Es wurde von einer ersten Spur von Spionage im März 1912 gesprochen, Redls gesteigerter Geldbedarf „im Zusammenhang mit seiner verhängnisvollen Leidenschaft“ gesetzt und durch einen veröffentlichten Obduktionsbericht eine krankhafte Veränderung seines Gehirns konstatiert. Gleichzeitig wurde versucht, so schnell wie möglich die Aufmarschplanung zu überarbeiten, der russischen Seite aber zu suggerieren, der verratene Plan sei noch in Geltung.

Manche Historiker nehmen an, dass Redls Verrat zu den verheerenden Niederlagen Österreich-Ungarns während der ersten Monate des Ersten Weltkriegs beigetragen hat, da die von ihm verratenen Pläne sehr umfangreich waren und in der Zeit zwischen seinem Tod und dem Ausbruch des Krieges nicht komplett umgestellt werden konnten. Da Redl außerdem österreichische und deutsche Spione in Russland auffliegen ließ und so die massive Aufrüstung der russischen Armee nach Kräften abschirmte, erhielt Österreich-Ungarn eine viel zu optimistische Vorstellung von den Kräfteverhältnissen. Der österreichische Abgeordnete zum Reichsrat Graf Adalbert Sternberg äußerte sich nach dem Ersten Weltkrieg hierzu (und im Hinblick auf den Verrat Redls an dem russischen Oberst im Generalstab Kyrill Petrowitsch Laikow, der Österreich nicht weniger als den gesamten russischen Aufmarschplan angeboten haben soll) wie folgt:

„Dieser Schurke [Redl] hat jeden österreichischen Spion denunziert, denn der Fall des russischen Obersten [Laikow] wiederholte sich mehrmals. Redl lieferte unsere Geheimnisse den Russen aus und verhinderte, dass wir die russischen Geheimnisse durch Spione erfuhren. So blieb den Österreichern und Deutschen im Jahre 1914 angeblich die Existenz von 75 Divisionen, die mehr als die gesamte österreichisch-ungarische Armee ausmachten, unbekannt…[19]

Von Sternberg geht so weit, die Folgen des Falles Redl wie folgt zu analysieren:

„Hätten wir klargesehen, dann hätten unsere Generäle den Hofwürdenträger nicht zur Kriegserklärung getrieben.[19]

Hingegen bezeichneten Spionagehistoriker wie CIA-Chef Allen Dulles und der sowjetische General Mikhail Milstein Redl übereinstimmend als „Erzverräter“, der zu österreichisch-ungarischen Niederlagen in den ersten Kriegsmonaten beigetragen habe.[20]

Andererseits vertraute der zaristische Generalstab offenbar ebenfalls auf die unveränderte Gültigkeit des von ihm gekauften Aufmarschplans und war überrascht, als die österreich-ungarische Hauptmacht 100 bis 200 km weiter westlich als angenommen vordrang, was zu den österreichischen Erfolgen in den Schlachten von Krasnik und Komarow führte.[21]

Andere Historiker kommen zu dem Ergebnis, Redl habe überhaupt keine bedeutende Rolle gespielt, sei aber als „Sündenbock“ für Niederlagen der österreichisch-ungarischen Armee nützlich gewesen. In diesem Sinn argumentiert der englisch-australische Spionageautor Philip Knightley:[22]

„(...) die allgemein akzeptierte Version über seine Enttarnung, seine Festsetzung, seinen Tod und das Ausmaß seines Verrats, das heißt, seine Bedeutung als Spion, liest sich ganz so, als sei sie geschrieben worden, um die Schlagkraft der österreichischen Spionageabwehr herauszustreichen und die demütigenden Niederlagen der Donaumonarchie zu Beginn des Krieges zu beschönigen.“

Die Darstellung, Redl sei an den vernichtenden Niederlagen der österreichisch-ungarischen Armee in der ersten Phase des Krieges mit Russland schuld gewesen, wird in beiden Büchern als sehr vage und im Grunde nicht bewiesen beschrieben.

Verfilmungen

Literatur

  • Georg Markus: Der Fall Redl. Amalthea, Wien/München 1984, ISBN 3-85002-191-2.
  • Janusz Piekalkiewicz: Weltgeschichte der Spionage. S. 255-265: Das k.u.k Evidenzbureau. Südwest Verlag, München 1988, ISBN 3-517-00849-4.
  • Egon Erwin Kisch schrieb im Jahr 1924 den Bericht Der Fall des Generalstabschefs Redl, der heute unter dem Titel Wie ich erfuhr, dass Redl ein Spion war publiziert ist (ISBN 3-608-95569-0).
  • Egon Erwin Kisch: Der Fall des Generalstabschefs Redl. In: Prager Pitaval-Späte Reportagen (Gesammelte Werke in Einzelausgaben II/2, Hrsg. v. Bodo Uhse u. Gisela Kisch) Berlin/Weimar 1969, S. 132-184.
  • Stefan Zweig hat in seinem Werk Die Welt von Gestern dem Fall Redl drei Seiten gewidmet (Kapitel „Glanz und Schatten über Europa“). ISBN 3-596-21152-2.
  • Eric Walz: Schwule Schurken, Männerschwarm. Skript-Verlag, Hamburg 2002, ISBN 3-935596-04-9.
  • Maximilian Ronge: Kriegs- und Industrie-Spionage: Zwölf Jahre Kundschaftsdienst. Amalthea-Verlag, Zürich 1930.

Einzelnachweise

  1. Georg Markus: Der Fall Redl. Amalthea, Wien 1984, ISBN 3-85002-191-2, S. 24–26.
  2. István Deák: Der K.(u.)K. Offizier 1848-1918. Böhlau, Wien 1995, ISBN 3-20598-242-8, S.175.
  3. Georg Markus: Der Fall Redl. Amalthea, Wien 1984, ISBN 3-85002-191-2, S. 33–35.
  4. Georg Markus: Der Fall Redl. Frankfurt am Main 1986, S. 70.
  5. Albert Pethö: Agenten für den Doppeladler. Österreich-Ungarns Geheimer Dienst im Weltkrieg. Stocker, Graz 1998, ISBN 3-7020-0830-6, S. 231ff; und Günther Kronenbitter: „Krieg im Frieden“. Die Führung der k.u.k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906−1914. Verlag Oldenbourg, München 2003, ISBN 3-486-56700-4, S. 18; und Verena Moritz, Hannes Leidinger, Gerhard Jagschitz: Im Zentrum der Macht. Die vielen Gesichter des Geheimdienstchefs Maximilian Ronge. Residenz-Verlag, Wien 2007, ISBN 978-3-7017-3038-4, S. 111.
  6. Albert Pethö: Der Fall Redl. In: Wolfgang Krieger (Hrsg.): Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spionage und verdeckte Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50248-2, S. 138–150, hier: S. 145f. und 359 (Fußnoten).
  7. Albert Pethö: Agenten für den Doppeladler. Österreich-Ungarns Geheimer Dienst im Weltkrieg. Stocker, Graz 1998, ISBN 3-7020-0830-6, S. 232.
  8. a b Albert Pethö: Der Fall Redl. In: Wolfgang Krieger (Hrsg.): Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spionage und verdeckte Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50248-2, S. 138–150, hier: S. 144.
  9. Lelio Spannocchi war ein Onkel von Emil Spannocchi, der von 1973 bis 1981 Armeekommandant des Österreichischen Bundesheeres war.
  10. a b Albert Pethö: Agenten für den Doppeladler. Österreich-Ungarns Geheimer Dienst im Weltkrieg. Stocker, Graz 1998, ISBN 3-7020-0830-6, S. 228.
  11. Janusz Piekalkiewicz: Weltgeschichte der Spionage. Wien, Komet Verlag, 2002 ISBN 3933366313 S. 258f.
  12. a b Albert Pethö: Agenten für den Doppeladler. Österreich-Ungarns Geheimer Dienst im Weltkrieg. Stocker, Graz 1998, ISBN 3-7020-0830-6, S. 229.
  13. Georg Markus: Der Fall Redl. Amalthea, Wien 1984, ISBN 3-85002-191-2, S. 233.
  14. Albert Pethö: Der Fall Redl. In: Wolfgang Krieger (Hrsg.): Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spionage und verdeckte Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50248-2, S. 138–150, hier: S. 142.
  15. Georg Markus: Der Fall Redl. Frankfurt am Main 1986, S. 235ff.
  16. Walther Schmieding (Hrsg.), Egon Erwin Kisch: Nichts ist erregender als die Wahrheit. Reportagen aus 4 Jahrzehnten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1979, ISBN 3-462-01320-3, Band 2: S. 79.
  17. Günther Kronenbitter: „Krieg im Frieden“. Die Führung der k.u.k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906−1914. Verlag Oldenbourg, München 2003, ISBN 3-486-56700-4, S. 17; und Albert Pethö: Agenten für den Doppeladler. Österreich-Ungarns Geheimer Dienst im Weltkrieg. Stocker, Graz 1998, ISBN 3-7020-0830-6, S. 385ff.
  18. Helmut Roewer, Stefan Schäfer, Matthias Uhl: Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 2003, ISBN 3-7766-2317-9.
  19. a b Egon Erwin Kisch: Der Fall des Generalstabschefs Redl. Klett-Cotta, 1988, S. 59.
  20. Richard Grenier: Colonel Redl: The Man Behind The Screen Myth, „The New York Times“, 13. Oktober 1985.
  21. Albert Pethö: Der Fall Redl. In: Wolfgang Krieger (Hrsg.): Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spionage und verdeckte Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50248-2, S. 138–150, hier: S. 150.
  22. Phillip Knightley: Die Geschichte der Spionage im 20. Jahrhundert. Scherz, Bern 1989, ISBN 3-502-16384-7.

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