Alfred Heuß

Alfred Heuß

Alfred Heuß (auch: Heuss; * 27. Juni 1909 in Gautzsch bei Leipzig; † 7. Februar 1995 in Göttingen) war ein bedeutender deutscher Althistoriker.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Alfred Heuß jr. war der Sohn des Musikschriftstellers Alfred Heuß und ältere Bruder des Ökonomen Ernst Heuß. Er studierte Geschichte und Jura. Als Schüler von Helmut Berve habilitierte er sich 1936 für Alte Geschichte an der Universität Leipzig. Zur den nationalsozialistischen Machthabern und ihrer Ideologie hielt er Abstand, was seine Laufbahn erschwerte. Nach einem negative Urteil von Wilhelm Weber trat er zum 1. Mai 1937 in die NSDAP ein und wurde im Dezember desselben Jahres zum Dozenten ernannt.[1] 1938 vertrat er einen Lehrstuhl in Königsberg. Darauf folgten Professuren in Breslau (1941), Kiel (1945), Köln (1946–48), wiederum Kiel (1949–54), wo die erste Fassung seiner bis heute einschlägigen Römischen Geschichte entstand, und von 1954 bis zu seiner Emeritierung in Göttingen. Ab 1957 war er Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, von 1954–58 zudem Vorsitzender der Mommsen-Gesellschaft. Zu seinen akademischen Schülern gehörten unter anderem Jochen Bleicken und Hans-Joachim Gehrke.

Heuß, der sich selbst als Universalhistoriker verstand, beschäftigte sich zeitlebens auch mit den übrigen geschichtlichen Epochen sowie der Theorie der Geschichte. Doch ist sein wissenschaftliches Werk bis heute besonders für die Alte Geschichte von sehr großer Bedeutung. Zum geflügelten Wort wurde seine Formulierung vom Verlust der Geschichte, ein Buchtitel von 1959.

Politische Einstellung

Auch Heuß entschied sich, wie viele seiner Generation, während der NS-Diktatur für einen Kurs der Anpassung, um sich nicht zu politisch zu exponieren und seine Karriere nicht zu gefährden. Indem er bei anderen Gelehrten die unerzwungene Infiltration der NS-Ideologie in ihre Lehre und Forschung mit deutlichen Worten kritisierte, beanspruchte er zumindest implizit, seine innere geistige Autonomie gegenüber dem Zeitgeist gewahrt und sich nicht kompromittiert zu haben. Demgegenüber lieferte er den Beitrag Die Gestaltung des römischen und des karthagischen Staates bis zum Pyrrhos-Krieg für den heute berüchtigten, von Joseph Vogt herausgegebenen und von einer antisemitischen Geschichtsdeutung geprägten Band Rom und Karthago.[2] Von seinem wesentlich tiefer verstrickten Lehrer Helmut Berve distanzierte sich Heuß auch nach 1945 allenfalls äußerst vorsichtig.[3] Heuss selbst war ein bekennender Konservativer, der aus den Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur Konsequenzen gezogen hatte. Die Machtübernahme durch Adolf Hitler, dessen ideologische Verblendung und Verbrechen, aber auch geistige Insuffizienz er schonungslos verurteilte,[4] betrachtete er als Kontinuitätsbruch in der deutschen Geschichte von katastrophalen Dimensionen und Auswirkungen. Er bestritt aber entschieden, daß dies für die Zeitgenossen, denen die Kenntnis des Ausgangs fehlte, auch nur entfernt vorhersehbar gewesen sei. Weder der Eroberungs- und Vernichtungskrieg und noch weniger der Völkermord seien als Möglichkeit überhaupt vorstellbar gewesen und schon gar nicht von einem bedeutenden Teil der deutschen Bevölkerung über Hitler selbst und eine relativ kleine verbrecherische Clique seiner Helfershelfer hinaus gewollt worden. Dies gelte selbst für den größten Teil der Anhänger und sogar Mitglieder der NSDAP. Auf die verantwortungslose, verbrecherische und wahnwitzige Person an der Spitze des ganzen Systems komme daher alles an, und insofern sei die Machteroberung einer Konstellation von Zufälligkeiten, insbesondere den Schwierigkeiten der politischen Lage, der Unfähigkeit seiner innen- und außenpolitischen Gegner und der politischen Verantwortungsträger um den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg im Vorfeld der Machteroberung sowie der weit verbreiteten Unterschätzung seiner Gefährlichkeit und Radikalität, keineswegs aber langfristig wirksamen und damit zwangsläufig auf dieses Ziel zusteuernden Faktoren zu verdanken. Letztlich seien die Jahre der NS-Diktatur, da "das Subjekt der Geschichte (das deutsche Volk) seine aktive Subjektivität verliert und nur noch passiv existiert"[5], gar kein Teil der deutschen Geschichte, sondern die Geschichte eines "Fremden", nämlich Hitlers, der sich für seine übergeordneten ideologischen Ziele gerade nicht auf eine breite Unterstützung der deutschen Bevölkerung habe stützen können und der daher "bereits in den Krieg als ein 'Fremder' gezogen (ist), obgleich der Sieg von 1940 dies für einen Augenblick verdeckte, und ... es immer mehr werden (mußte), je länger das Kriegsgeschehen eines plausiblen Sinns entbehrte."[6] Hitlers Wähler und Anhänger hätten "kein politisches Profil" besessen, seien "von Stimmungen, Hoffnungen und Sehnsüchten gepeitschte Massen, aber vor der Machtergreifung keineswegs fest verortet, sondern eher Treibsand, der sich anderswo gelöst hatte. Hitler war, genau genommen, ein Epiphänomen einer transitorischen seelischen Stimmungslage, deren latente Voraussetzung allein keine eigene Kraftquelle bedeutete. Substantiell war Hitler mit der gesellschaftlich-politischen Realität nur fragmentarisch verknüpft."[7] Weil die Vernichtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit am Anfang dieser Katastrophe gestanden hatte, war Heuß auch ein ebenso entschiedener und kompromissloser Antikommunist. Die Berufung auf die Tradition des kommunistischen Widerstandes gegen die nationalsozialistische Diktatur und deren Fortführung im sogenannten Antifaschismus, kritisierte er als Missbrauch und als pseudomoralischen Vorwand für den Kampf gegen die bestehende freiheitliche gesellschaftliche und politische Ordnung der westlichen Welt und der Bundesrepublik Deutschland. Die Kritik der sogenannten 68er am Verhalten der Zeitgenossen des Dritten Reichs hielt er wegen ihrer angeblichen Verkennung der damaligen Lage und vor allem wegen ihrer Ausblendung des diktatorischen und terroristischen Charakters der kommunistischen Regimes, deren Ideologie hier in Wahrheit propagiert werde, für heuchlerisch und missbräuchlich. Er trat nach 1945 entschieden für den demokratischen Rechtsstaat, die Aufrechterhaltung des Wiedervereinigungsziels und bürgerliche Werte ein und erteilte allen egalitären, sozialistischen oder anarchistischen Ansätzen als wirklichkeitsfremden und gefährlichen Utopien eine klare Absage. Historische Bildung, deren fortschreitenden Verfall er immer wieder beklagte, begriff er dabei als wesentliche Grundlage der politischen Urteilsfähigkeit eines mündigen Bürgers im Sinne wahrer Aufklärung und damit auch als Voraussetzung für jeden Führungsanspruch, während er "linken" gesellschaftspolitischen Theorien aller Art mit größter Reserve, ja mit Sarkasmus begegnete und sie ihrer gleisnerischen Umhüllung aus humanitären Begriffen zu entkleiden trachtete. Der Frankfurter Schule warf er vor, durch Eroberung der Deutungshohheit mit unlauteren Mitteln, insbesondere dem einer planmäßig betriebenen Geschichtsklitterei – Hauptgegner waren hier neben Max Horkheimer, Theodor Adorno und Jürgen Habermas die Historiker Fritz Fischer und Hans-Ulrich Wehler – die gesellschaftspolitische Debatte vergiftet und zum Geschichtsverlust der Deutschen nach 1945 wesentlich beigetragen zu haben, indem sie auch die deutsche Geschichte vor 1933 durch die Rückverfolgung angeblicher Ursachen des Nationalsozialismus in weit zurückliegende Epochen in ein so ungünstiges Licht gestellt hätten, dass den Deutschen jede Identifikation mit der eigenen Geschichte unmöglich geworden sei. Noch in seinem letzten Buch Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses (vgl. bes. S. 66-125, bes. 99; 108; S. 180f.) versuchte Heuß, zunehmend verzweifelt und verbittert, dieser seiner Meinung nach von Grund auf verfehlten und intellektuell unredlichen, ja böswilligen Interpretation, bei der es sich für ihn um nichts Geringeres als die Identitätsfrage des deutschen Volkes handelte, mit seiner eigenen Sicht der Dinge entgegenzutreten.

Einzelnachweise

  1. Stefan Rebenich: Hermann Bengtson und Alfred Heuß. In: Alte Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik: Gedenkschrift Karl Christ. Wiesbaden 2009, S. 186.
  2. Joseph Vogt (Hrsg.), Rom und Karthago, Leipzig 1943, hier: S. 83-138. Der Sammelband, an dem sich zahlreiche bekannte Forscher beteiligten, gilt als eines der wenigen Beispiele für eine ganz explizit der nationalsozialistischen Ideologie verpflichtete deutsche Althistorie jener Jahre.
  3. Im Wesentlichen apologetisch spricht Alfred Heuß: Nekrolog Helmut Berve. In: Historische Zeitschrift. 230, 1980, S. 779-787 (= Gesammelte Schriften [s. unten Werke] Bd. 1, S. 758-766) von "Äußerungen", die "besser nicht in die Feder geflossen wären" (S. 785 bzw. 764), und nennt Berves Vorstellung, "sich und die von ihm vertretene Sache" durch Anpassung behaupten zu können, "aus heutiger Sicht, aufs Ganze gesehen, eine Illusion," ohne zu fragen, inwieweit Berves politische Überzeugungen überhaupt eine Anpassung erforderlich machten.
  4. Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses (s. unten Werke) S. 119-120; 125.
  5. Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses (s. unten Werke) S. 121-122, das Zitat S. 121.
  6. Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses S. 122.
  7. Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses S. 125.

Schriften (Auswahl)

  • Römische Geschichte. Westermann, Braunschweig 1960, ISBN 3-506-73927-1. (Schöningh, Paderborn, 6. Auflage hrsg., eingel. und mit einem neuen Forschungsteil versehen von Hans-Joachim Gehrke, Werner Dahlheim und Jochen Bleicken 1998)
  • Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert. Ferdinand Hirt, Kiel 1956 (reprint Steiner, Wiesbaden 1996). (Veröffentlichungen der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft Neue Folge 19)
  • Jochen Bleicken (Hrsg.): Gesammelte Schriften. Band 1. Griechische Geschichte. Band 2. Römische Geschichte. Band 3. Wissenschaftsgeschichte und -theorie, Völkerrecht, Universitäts- und Schulreform. Steiner, Stuttgart 1995, ISBN 3-515-06716-7.
  • Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses. Siedler, Berlin 1984, ISBN 3-88680-107-1.
  • Gedanken und Vermutungen zur frühen römischen Regierungsgewalt. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1983. (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philologisch-Historische Klasse 1982, 10)
  • Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge. Untersuchungen und Mitteilungen über die Kopenhagener Manuscripte und zur europäischen Tradition der lex agraria (loi agraire). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1981. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge 114)
  • Ciceros Theorie vom römischen Staat. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1976. (Nachrichtern der Akademie der Wissenschaften in Göttingen I. Philologisch-historische Klasse 1975, 8)
  • Ideologiekritik. Ihre theoretischen und praktischen Aspekte. de Gruyter, Berlin u. a. 1975, ISBN 3-11-005981-9.
  • Der erste punische Krieg und das Problem des Römischen Imperialismus. Zur politischen Beurteilung des Krieges. 3. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1970. (Libelli 130)
  • Die völkerrechtlichen Grundlagen der römischen Außenpolitik in republikanischer Zeit. ISBN 3-511-02434-X. (reprint Scientia, Aalen 1963.) (Klio, Beiheft 31)
  • Verlust der Geschichte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1959.

Herausgeberschaften

Literatur

  • Hans-Joachim Gehrke (Hrsg.): Alfred Heuß. Ansichten seines Lebenswerkes. Beiträge des Symposions "Alte Geschichte und Universalgeschichte, …", Göttingen, 16. und 17. Mai 1996. Steiner, Stuttgart 1998, ISBN 3-515-07299-3.
  • Alfred Heuß: De se ipse. In: Jochen Bleicken (Hrsg.): Colloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Alfred Heuss. Lassleben-Verlag, Kallmünz 1993, ISBN 3-7847-7113-0, S. 211 ff. (Auch in ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1. S. 777 ff.)
  • Jochen Bleicken: Zum Tode von Alfred Heuß. In: Historische Zeitschrift. 262, 1996, S. 337-356. (=Gesammelte Schriften , Bd. 1-2, hg. von Frank Goldmann. Steiner, Stuttgart 1998, hier Bd. 2, S. 1098-1117)
  • Stefan Rebenich: Alfred Heuß: Ansichten seines Lebenswerkes. Mit einem Anhang: Alfred Heuß im Dritten Reich. In: Historische Zeitschrift. 271 (2000), S. 661-673.

Weblinks


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