Gott-ist-tot-Theologie

Gott-ist-tot-Theologie

Die Gott-ist-tot-Theologie ist nach einem Nietzsche-Zitat benannt, das sich unter anderem im Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft findet. Sie wird manchmal auch als Theothanatologie bezeichnet, was aus den altgriechischen Begriffen theos ‚Gott‘ und thanatos ‚Tod‘ herzuleiten ist.

Der Titel des Time-Magazins vom 8. April 1966 und der Leitartikel bezogen sich auf eine Bewegung in der US-amerikanischen Theologie, die in den 1960er Jahren unter dem Schlagwort „death of God“ bekannt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Vertreter

Die Hauptvertreter dieser Theologie waren die christlichen Theologen Gabriel Vahanian, Paul van Buren, William Hamilton und Thomas J. J. Altizer sowie Rabbi Richard Rubenstein.

1961 wurde Vahanians Buch The Death of God publiziert. Vahanian erklärte, die moderne säkulare Kultur habe jeden Sinn für das Sakrale verloren, kenne keine sakramentale Bedeutung, kein transzendentes Ziel, keine Vorsehung. Er folgerte, für den modernen Geist sei Gott tot. In Vahanians Vision ist eine transformierte nachchristliche und postmoderne Kultur nötig, um eine erneuerte Erfahrung des Göttlichen zu schaffen.

Van Buren und Hamilton stimmten darin überein, der Begriff der Transzendenz habe jede Bedeutung im modernen Denken verloren. Nach dessen Normen ist Gott tot. Als Antwort auf diesen Zusammenbruch der Transzendenz boten Van Buren und Hamilton säkularen Menschen die Entscheidung für Jesus als dem vorbildlichen Menschen an, der in Liebe handelte. Die Begegnung mit dem Christus des Glaubens werde in einer kirchlichen Gemeinschaft eröffnet.

Altizer schlug eine radikale Theologie des Todes Gottes vor, die sich auf William Blake, Hegelsches Denken und Nietzsches Ideen stützte. Er begriff Theologie als eine Form der Poesie, in der die Immanenz (Gegenwart) Gottes in Glaubensgemeinschaften erfahren werden könne. Jedoch erkannte er nicht mehr die Möglichkeit an, an einen transzendenten Gott zu glauben. Altizer schloss, dass Gott in Christus Mensch geworden sei und seinen immanenten Geist weiter gegeben habe, der auch nach dem Tod Jesu in der Welt blieb, womit er im Gegensatz zu neutestamentlichen Aussagen wie 1 Petr 1,2 EU stand. Anders als Nietzsche glaubte Altizer, Gott sei wirklich gestorben. Er wird als der führende Vertreter der Gott-ist-tot-Theologie angesehen.

Der jüdische Denker Richard Rubenstein, dem unter anderem die Prägung des Begriffs Genozid zugeschrieben wird, versuchte die Schockwirkung des Holocaust auf radikale Weise zu durchdenken. Auf der Grundlage der Kabbalah hielt er im formalen Sinn daran fest, dass Gott bei der Erschaffung der Welt „gestorben“ sei. Jedoch argumentierte er, für die moderne jüdische Kultur sei der Tod Gottes in Auschwitz eingetreten. Obwohl dieser nicht im wörtlichen Sinn an diesem Punkt geschah, war es der Zeitpunkt, an dem die Menschheit zu dem Gedanken erwachte, dass ein theistischer Gott nicht existiere. In Rubensteins Werk war es nicht länger möglich, an einen Gott des Abraham-Bunds zu glauben, der der allmächtige Urheber des historischen Dramas ist, denn dann müsse Hitler sein unwissentliches Werkzeug sein. Auch die Lehre der Erwählung des jüdischen Volks gibt er auf, es hat keine entscheidende Rolle in der Heilsgeschichte, der Gott der Geschichte ist gestorben. Die Natur lässt individuelle Formen entstehen und negiert sie. Dieser Sinn für das Tragische oder auch die Ironie menschlicher Existenz wirkt technologischer und ideologischer Hybris entgegen.[1] Rubenstein steht Nietzsches Idee der ewigen Wiederkehr nahe, von der dieser sagte: „Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.“[2]

Hier sieht sich Rubenstein im Gegensatz zu Altizer, der an der christlichen Eschatologie festhält: In Jesus ist der Messias gekommen, und „wir wissen, dass er in seinem Wort gegenwärtig ist, und dieses Wort versöhnt die Welt mit sich selbst.“[3] Die „Inkarnation bleibt ein zentrales historisches und theologisches Ereignis, das es unmöglich macht, an einen transzendenten Gott zu glauben; Gott ist in die Geschichte gestorben. Stattdessen ist die Inkarnation – als reales und anhaltendes Ereignis – das Versprechen und die Möglichkeit der letztlichen Transformation und Erlösung der Welt im Hier und Jetzt.“[4] Sie ist ein kontinuierlicher Prozess des Heiligen, das profan wird, und der Auferstehung des Profanen in einer schließlich heiligen Form.

Vertreter außerhalb der USA waren der anglikanische Bischof John A. T. Robinson und die deutsche Theologin Dorothee Sölle. Sie waren unter anderem beeinflusst durch Dietrich Bonhoeffers Frage nach einem religionslosen Christentum.

Wichtig ist auch eine Berufung auf christliche Mystik, etwa die negative Theologie Meister Eckharts oder seinen Satz, er würde die „Schau der Trinität verschmähen, um einem Mütterchen Suppe zu kochen“.[5]

Nachwirkungen und Kritik

Das Anliegen der Gott-ist-tot-Theologie stößt bis heute in weiten Teilen der christlichen Kirchen auf Unverständnis und Ablehnung. Dagegen sehen Stephen R. Haynes und John K. Roth darin eine neue Art der Verbindung zwischen theologischer Reflexion und gegenwärtiger Erfahrung. Besonders das Nachdenken über den Holocaust bewerten sie als Impuls zu einem Gespräch derjenigen, die an der Beziehung von Theologie auf das Überleben der Menschheit interessiert sind.[6]

Hubert G. Locke kritisiert die weiße, westlich orientierte Perspektive und weist darauf hin, dass etwa Harvey Cox in Stadt ohne Gott?[7] die Erfahrungen der religiös geprägten afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ignoriert. Der Tod Gottes sei in der Theologie im gleichen Jahrzehnt proklamiert worden, in dem schwarze Christen ihre politische Motivation aus dem Glauben an den Gott des Exodus bezogen. Schwarze und radikale Theologen lasen Bonhoeffer auf ganz unterschiedliche Weise. Während diese die Mündigkeit der Welt betonten, die ohne Gott auskomme, hörten jene seinen Ruf zum Leiden mit Christus in der Geschichte. Obwohl der Holocaust die Fortschrittsidee der Aufklärung zur Parodie habe verkommen lassen, hätten radikale Theologen die Illusion westlicher Humanität nicht aufgegeben, sondern es weniger beunruhigend gefunden, den endgültigen Untergang eines Gottes zu verkünden, den die westliche Tradition intellektuell nutzlos fand.[8]

Gerade angesichts von „Auschwitz, Hiroshima und der Südafrikanischen Union“[9] halten jüdische Theologen wie Arthur Lelyveld, Norman Lamm, Emil Fackenheim oder Eugene Borowitz einen transzendenten Bezugspunkt für notwendig:

„Und hier stehen wir, gefangen und eingesperrt in ein Paradox: Wenn solche schrecklichen Dinge geschehen, wie können wir an Gott glauben? Aber wenn wir nicht an Ihn glauben als den Maßstab, der unsere menschlichen, bestialischen, animalischen Neigungen übersteigt und von uns verlangt, mehr zu sein als wir sein möchten, warum protestieren wir so sehr? Wir lehnen uns auf, weil wir wissen, dass wir mehr sind als das, als was wir uns sehen, dass wir ständig danach streben müssen, mehr zu sein als wir sind, dass die menschliche Geschichte nicht weitergehen darf wie bisher. Gott verlangt das von uns, selbst wenn wir mit Ihm streiten.“[10]

Siehe auch

Literatur

  • Thomas Jonathan Jackson Altizer: The Gospel of Christian Atheism. Westminster, Philadelphia 1966
  • Thomas J. J. Altizer, William Hamilton: Radical Theology and the Death of God. Bobbs-Merrill, Indianapolis 1966
  • John D. Caputo, Gianni Vattimo: After the Death of God. Columbia University Press, New York 2007
  • Dorothee Sölle: Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem „Tode Gottes“. Stuttgart 1965, erw. Neuauflage 1982
  • Bernard Murchland (Hrsg.): The Meaning of the Death of God. Random House, New York 1967
  • Gabriel Vahanian: The Death of God. George Braziller, New York 1961
  • Richard Rubenstein: God After the Death of God. In: After Auschwitz: History, Theology, and Contemporary Judaism. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1992²; 293–306

Einzelnachweise

  1. Timothy A. Bennett, Rochelle L. Millen: Christians and Pharisees: Jewish responses to Radical Theology; in: Stephen R. Haynes, John K. Roth: The Death of God Movement and the Holocaust; Westport: Greenwood Press, 1999, S. 120
  2. Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre; Werke IV, S. 445–853
  3. Thomas J. J. Altizer: Word and History; in Thomas J. J. Altizer, William Hamilton: Radical Theology and the Death of God; Bobbs-Merrill, Indianapolis 1966, S. 132
  4. Bennett, Millen: a.a.O., S. 123
  5. Klaus Berger: Wider die „oben ohne“-Theologie. In: Die Tagespost. Zitiert nach kath.net, 31. Dezember 2007
  6. Haynes, Roth: a.a.O., S. xvii
  7. The Secular City: Secularization and Urbanization in Theological Perspective (1965), Collier Books, 25th anniversary edition 1990. ISBN 0-02-031155-9 / Deutsch: Stadt ohne Gott? 6. Aufl. 21.-26. Tsd., Kreuz-Verlag, Stuttgart/Berlin 1971. ISBN 3-7831-0024-0
  8. Hubert G. Locke: The Death of God: An African-American Perspective; in: Haynes, Roth: a.a.O., S. 91–97
  9. Eugene Borowitz: God-is-Dead-Theology; in: Bernard Murchland: The Meaning of the Death of God. Random House, New York 1967, S. 97f.
  10. Eugene Borowitz: Facing Up to It, S.16; zit. n. Bennett, Millan; a.a.O., S. 113

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