Gezielte Tötung

Gezielte Tötung

Den Ausdruck Gezielte Tötung (engl. targeted killing) verwenden manche Staaten sowie einzelne Medien für die Tötung von Angehörigen verfeindeter Organisationen oder Staaten. Die Taktik wird insbesondere gegen nichtstaatliche Gegner angewendet, die sich in Staaten aufhalten, in denen der Einsatz konventioneller Streitkräfte nicht möglich ist und in denen lokale Behörden nicht gegen diese Gegner vorgehen können oder wollen. Der Ausdruck wird ebenso für die Tötung von Überläufern verwendet. Neben geheimdienstlichen Einzelaktionen kann dies auch eine Kommandooperation einer polizeilichen aber auch militärischen Spezialeinheit sein. Die Tötungen können sowohl im eigenen Land als auch auf fremden Gebiet erfolgen. Die Vorgehensweise ist juristisch und ethisch sehr umstritten, wird aber unter westlichen Staaten bzw. deren Verbündeten in der Regel gegenseitig geduldet. In der jüngeren Vergangenheit führte diese Praxis zu teilweise erheblichen politischen Spannungen, etwa zwischen den USA und Pakistan oder Israel und mehreren europäischen Ländern.

Inhaltsverzeichnis

Internationale Verbreitung der Anwendung

Seit den 1950er-Jahren nutzt Israel die Taktik der gezielten Tötungen im Kampf gegen Personen, die als Feinde eingestuft sind. Bereits damals wurden Offiziere der ägyptischen Streitkräfte, die Einsätze arabischer Guerillakräfte koordinierten, durch Briefbomben getötet.[1] In den 1970er-Jahren wurde die Gruppierung „Schwarzer September“ nach deren Geiselnahme bei den Olympischen Spielen 1972 durch gezielte Tötungen zerschlagen, wobei auch irrtümlich ein Unbeteiligter durch israelische Agenten getötet wurde (Lillehammer-Affäre).

In den 1980er-Jahren versuchte die französische Regierung, den Linksterroristen „Carlos“ und den arabischen Terroristen Abu Nidal zu töten. Britische Sicherheitskräfte töteten Angehörige der IRA. Die Vereinigten Staaten haben seit 2002 mehrere Anführer von al-Qaida im Jemen und Pakistan getötet,[2] darunter im Frühjahr 2011 auch Osama bin Laden, welcher als Drahtzieher für die Terroranschläge am 11. September 2001 gilt. [3]Russland tötete unter anderem Tschetschenen im Ausland.

Diskussion in Deutschland

In Deutschland wurden gezielte Tötungen ab 2001 wiederholt thematisiert. Mit den Worten „wer den Tod liebt, kann ihn haben” brachte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily das Thema in die Diskussion ein.[4] Der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble sprach sich im Juli 2007 für den Einsatz der Taktik aus.[5] Soldaten des Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr äußerten 2005 gegenüber deutschen Medien, sie hätten den Befehl gehabt, lokale Führer krimineller Organisationen in Afghanistan zu töten. Luftaufklärungsergebnisse von Bundeswehr-Tornados über Süd-Afghanistan dienen der NATO vor Ort zur Ausführung von Targeted Killings, die US-amerikanischen Präsident Bush nach dem 11. September 2001 im Rahmen einer grundsätzlichen Genehmigung für gezielte Tötungen weltweit erteilt hatte.

Terminologie

Die Benennung des Sachverhaltes ist umstritten und von der jeweiligen politischen Einschätzung abhängig. Bei gegen den Westen gerichteten Aktionen nannte man sie stets „Mord“ oder „ungesetzliche Tötung“. Deutsche Terroristen nannten ihre Tötungen von Symbolfiguren der Gesellschaft „Hinrichtungen“. Deutsche Politiker werten die gegenwärtigen „gezielten Tötungen“ Israels entweder als „Hinrichtung“[6] (Johannes Gerster, CDU) oder als „gezielte Ermordung“[7] (Daniel Cohn-Bendit, B'90/Grüne).

Die meisten Kritiker werfen dem Terminus Verschleierung und Beschönigung vor, bewerten ihn also als Euphemismus. Die deutsche Bundesregierung hat, ebenso wie eine Vielzahl weiterer westlicher Regierungen, den Begriff „Tötungen“ beziehungsweise „gezielte Tötungen“ übernommen.

Durch die Verwendung eines sprachlichen Konstrukts (Tautologie) wird ein Teilaspekt derartiger Handlungen („Zielgerichtetheit“) besonders betont und somit der entgegengesetzte Aspekt der Inkaufnahme unschuldiger Mitopfer (siehe „Kollateralschaden“) in den Hintergrund gerückt.

Historische Beispiele

Für das Prinzip der gezielten Tötung gibt es zahlreiche Beispiele in der Geschichte, etwa die nationalsozialistische AB-Aktion, bei der 1940 im Generalgouvernement etwa 7500 Mitglieder der polnischen Führungsschicht verhaftet und ermordet wurden. Im selben Jahr verübte die sowjetische GPU wegen seiner Agitation gegen den Stalinismus einen tödlichen Anschlag auf Leo Trotzki in dessen mexikanischem Exil. Zur Zeit des Vietnam-Kriegs gab es 1968-1969 die Operation Phoenix, die in der heutigen Taskforce 373 eine Entsprechung findet. Weitere Beispiele sind das vom bulgarischen Geheimdienst verübte so genannte Regenschirmattentat von 1978 in London, die versuchte Tötung des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi durch die USA im Jahre 1986 sowie, um sich einen langwierigen und verlustreichen Krieg zu ersparen, die versuchte Tötung des damaligen irakischen Herrschers Saddam Hussein am 20. März 2003, ebenfalls durch die USA.

Positionen der israelischen Politik

Israel, das seit dem Ausbruch der al-Aqsa-Intifada diese Strategie auf Führer von Hamas und anderen Gruppen anwendet, verweist auf Aspekte der Notwehr. Es wird der Palästinensischen Autonomiebehörde vorgeworfen, nicht gegen Terroristen vorzugehen beziehungsweise diese sogar zu unterstützen. Eigentliches Ziel sei weiterhin die juristische Verfolgung und, im Falle einer Nichtdurchsetzbarkeit, die Abwendung von Gefahr.

Israelische Reaktion auf den Tod Unbeteiligter

Bei Versuchen oder durchgeführten gezielten Tötungen werden auch immer wieder unbeteiligte Zivilisten getötet, was dem Gebot der Waffenreinheit der Israelischen Streitkräfte widerspricht. Bekanntestes Beispiel ist die gezielte Tötung von Salah Schehade mit einer Ein-Tonnen-Bombe, bei der weitere 14 Menschen, zumeist Kinder, getötet wurden, obwohl mehrere Luftwaffengeneräle vom Aufenthalt mehrerer Kinder und Zivilisten nahe Schehade wussten.[8] Der damalige Ministerpräsident Israels, Ariel Scharon, bezeichnete die Mission dennoch als großen Erfolg, da Schehade getroffen wurde.[9]

In Folge der zunächst relativ hohen Zahl getöteter Unbeteiligter änderten die israelischen Streitkräfte ihr Vorgehen. Jagdbomber und herkömmliche Bomben wurden nur noch selten für die Durchführung eingesetzt, die zunehmend durch Hubschrauber und speziell entwickelte Raketen geringer Sprengkraft exekutiert wird. In Folge dessen wurden weniger Unbeteiligte getötet.[10] Gleichzeitig kam es jedoch zu Situationen, in denen geplante Tötungen nicht verwirklicht werden konnten. Im September 2003 scheiterte die Tötung eines Großteils der Führung der Hamas, da die zu gering dimensionierte Sprengbombe nur einen Teil des Gebäudes zerstörte, in dem diese sich aufhielten.

Diskussion um politische Folgen gezielter Tötungen

Es ist innerhalb der israelischen Politik umstritten, welche Konsequenzen diese Strategie birgt.

Befürworter der Taktik verweisen darauf, dass die Hamas nach der Tötung wichtiger Führer in den Jahren 2003 und 2004 Selbstmordattentate vollständig einstellte. Die Zahl der von Palästinensern durchgeführten Selbstmordattentate ging parallel zum Einsatz gezielter Tötungen zwischen 2002 und 2006 um mehr als 90% zurück. Es ist allerdings unklar, welche Rolle andere Faktoren wie die Errichtung der Sperranlage für diese Entwicklung spielen. Es wird vermutet, dass gezielte Tötungen eine gewisse Abschreckungswirkung erzielen.

Kritiker verweisen auf die zunehmende Radikalisierung der palästinensischen Gesellschaft und eine Schwächung der kompromissbereiten Kräfte. Von der israelischen Armee angefertigte offizielle Studien sehen mittelfristig eine Zurückdrängung des Einflusses der Hamas. Am 25. Januar 2005 erklärte die Regierung Scharon, vorübergehend von Gezielten Tötungen abzusehen, um den nach der Wahl Mahmud Abbas’ aufkeimenden Friedensprozess zu unterstützen.

Positionen der Staatengemeinschaft

International lehnt die Mehrheit der Staaten diese Maßnahmen ab; sie seien mit dem Gedanken des Rechtsstaats kaum zu vereinbaren, da dem Opfer jede Möglichkeit der Verteidigung gegen die begründenden Anschuldigungen fehle. Auch der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan bezog eindeutig Stellung. Anlässlich der „Liquidation“ von Abd al-Aziz al-Rantisi am 17. April 2004 verurteilte er die Tötung des Hamas-Führers durch Israel. Die Tat verletze internationales Recht. Er forderte Israel auf, die gezielten Tötungsaktionen sofort einzustellen. Vor allem von arabischen Staaten werden die gezielten Tötungen Israels als Form des Staatsterrorismus bezeichnet und mit den Attentaten palästinensischer Terroristen auf israelische Zivilisten und Soldaten verglichen.

Die gezielte Tötung des jordanischen Terroristen Abu Musab az-Zarqawi durch die US-Army im Irak im Juni 2006 wurde jedoch in den internationalen Medien unisono mit Wohlwollen aufgenommen.

Völkerrechtliche Erwägungen

Gegner der Politik der gezielten Tötung verweisen auf die Regelungen des Vierten Genfer Abkommen von 1949, nach der es untersagt sei, unbewaffnete Zivilisten militärisch gezielt anzugreifen. Allerdings ist umstritten, ob Anführer von bewaffneten Gruppen unter den Definitionsbereich des unbewaffneten Zivilisten fallen.

Ebenfalls wird der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 angeführt, der auch von Israel ratifiziert wurde und der Hinrichtungen ohne rechtskräftige Urteile verbietet. Auch hier existieren Argumentationen, die in Analogie zu dem ebenfalls urteilslosen finalen Rettungsschuss einem Staat das Recht zuschreiben, unter bestimmten Umständen Mitglieder von allgemein als terroristisch anerkannten Gruppen beim Verüben eines Terroraktes zu töten. Außerdem sind Tötungen im Zuge militärischer Auseinandersetzungen wohl keine Hinrichtungen im Sinne dieses Vertrages. Ob dieser Vertrag hier zur Geltung kommt, hängt also davon ab, ob man die Tötung als Hinrichtung oder als militärische Aktion gegen einen feindlichen Anführer bewertet.

Jüngste Entwicklungen

Ranghöchste Person dieser Gruppen war der durch Krankheit an den Rollstuhl gebundene Ahmad Yasin, der am 22. März 2004 bei einem Angriff der israelischen Armee zusammen mit weiteren Personen durch drei Hellfire-Raketen eines israelischen Kampfhubschraubers getötet wurde. Ebenfalls getötet wurde am 17. April 2004 der Nachfolger von Yasin, Abd al-Aziz ar-Rantisi.

Verstärkt diskutiert wird insbesondere in den Vereinigten Staaten derzeit die Tötung durch unbemannte Flugkörper, so genannte Drohnen. Von der Vizepräsidentin der Amerikanischen Gesellschaft für internationales Recht, Mary Ellen O’Connell, werden die Einsätze für völkerrechtswidrig erachtet.[11] Für Aufsehen sorgte zudem ein 2010 über WikiLeaks verbreitetes Video, das die Tötung von Zivilisten und Reuterskorrespondenten durch einen US-amerikanischen Kampfhubschrauber im Irak 2007 zeigt.[12] Im Oktober 2010 wurde der deutsche Staatsbürger Bünyamin E. durch den Angriff einer „Killer-Drohne“ getötet. [13]

Verweise

Interne Verweise

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Dan Ravîv, Yôssî Melman: Every Spy a Prince. The Complete History of Israel’s Intelligence Community. Houghton Mifflin, Boston 1990, ISBN 0-395-47102-8, S. 122.
  2. Al Qaeda Figure Reported Killed. In: Washington Post. 14. Mai 2005.
  3. http://www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2011/05/02/International/Osama-Bin-Laden-bereits-auf-See-bestattet
  4. Holger Stark, Georg Mascolo, Ralf Neukirch: Wer den Tod liebt, kann ihn haben. In: Der Spiegel. Nr. 18, 2004 (26. April 2004, online).
  5. Stefan Aust, Marcel Rosenbach, Holger Stark: Es kann uns jederzeit treffen. In: Der Spiegel. Nr. 28, 2007, S. 31–33 (9. Juli 2007, online).
  6. Beitrag Magdeburger Volksstimme, 8. April 2004 (über die Tötung Yasin).
  7. Interview DLF, Deutschlandradio, 19. April 7:15 Uhr
  8. Kritische Kampfpiloten werden entlassen. In: Süddeutsche Zeitung. 26. September 2003.
  9. Heute früh wurde Salah Shihadas Tod bestätigt. In: HaGalil. 23. Juli 2002.
  10. Laura Blumenfeld: In Israel, a Divisive Struggle Over Targeted Killing. In: Washington Post. 27. August 2006.
  11. Mary Ellen O’Connell: Unlawful Killing with Combat Drones: A Case Study of Pakistan, 2004–2009. In: Notre Dame Legal Studies Paper. Nr. 43, 2009 (Zusammenfassung)
  12. Martin U. Müller: Globale Enthüllung. In: Der Spiegel. Nr. 15, 2010, S. 62.
  13. Christian Denso: Bünyamins Tod. Ein deutscher Islamist wird in Pakistan Opfer einer US-Drohne – und niemand ermittelt.. In: DIE ZEIT, Nr. 04. 20.1, S. 7, abgerufen am 21. Januar 2011.

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