Gesunder Menschenverstand

Gesunder Menschenverstand

Der Ausdruck gesunder Menschenverstand bezeichnet den einfachen, erfahrungsbezogenen und allgemein geteilten Verstand des Menschen bzw. dessen natürliches Urteilsvermögen.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Der gesunde Menschenverstand hat also drei Aspekte: Erstens die Vorstellung eines Normalverstands, eines simplen und durchschnittlichen Urteilsvermögens, das keine methodischen Umwege geht und nicht durch Lehrmeinungen oder Vorurteile in seinem Urteil getrübt wird; zweitens ein empirisch arbeitender Verstand, der konkrete, anschauliche Urteile, auf Basis alltäglicher (Lebens-)Erfahrung fällt und eher auf praktische Anwendung ausgerichtet ist als auf abstrakte Theorie; drittens die Vorstellung von einem allgemein von mündigen Menschen geteilten Verständnis der Dinge, das in seinen Urteilen auf die (wirklichen und möglichen) Urteile aller anderen Rücksicht nimmt.[1]

Der gesunde Menschenverstand bezeichnet generell nicht nur eine Form von Verstand, sondern auch dessen Urteile. Letztere haben sich in vielen Sprichwörtern bzw. Volksweisheiten manifestiert. Als konkreter, pragmatischer Verstand wird er oft in Opposition zum abstrakten, spekulativen Expertenverstand gebraucht. Wissenschaft und gesunder Menschenverstand hegen große Vorurteile füreinander, obwohl sie aufeinander angewiesen sind.[2]

Oft wird gesunder Menschenverstand als Phrase missbraucht. Die Unart, sich fälschlich auf ihn zu berufen, hat stark zu seiner Abwertung beigetragen.[3]

Der Begriff enthält viele fundamentale Widersprüche: Er bezeichnet sowohl eine Fähigkeit als auch ein Wissen, fungiert als Wahrheitssinn, ist aber auch leicht fehlbar, gilt mal als kritisch, mal als konservativ, stellt ein wichtiges Vorverständnis dar, neigt aber auch zum Vorurteil. Ein Gewinn ist sein Gebrauch vor allem dort, wo er sich auskennt.[4]

Verwandte Begriffe: sensus communis, common sense, bon sens, sens commun, Gemeinsinn, natürliche Urteilskraft, gemeiner Verstand (veraltet), allgemeine Menschenvernunft (veraltet), Alltagsverstand, Hausverstand, Pferdeverstand, Laienverstand.

Begriffsgeschichte

Der Ausdruck gesunder Menschenverstand geht wie Gemeinsinn, die französischen Pendants bon sens und sens commun sowie der englische common sense auf den lateinischen Terminus‚ sensus communis zurück. Dieser ist eine Übersetzung des von Aristoteles geprägten Begriffs koine aisthesis – ein innerer Sinn mit Sitz im Herzen, der die verschiedenen Informationen der Einzelsinne zusammenfasst und beurteilt.[5]

Die Begriffstradition von gesunder Menschenverstand kennt viele Bedeutungsnuancen, u. a. innerer Sinn, gewöhnlicher Verstand, natürliches Urteilsvermögen, Sinn für Gemeinschaft, gemeinsames Wissen, Meinung der Menge (im Sinne von gr. doxa).[6]

Der Ausdruck selbst wird erst im 18. Jahrhundert häufiger im deutschen Sprachgebrauch verwendet. Der Begriff erlebt unter Einfluss der schottischen Common-Sense-Philosophie einen großen Aufschwung. Ende des 18. Jahrhunderts setzt er sich gegen Synonyme wie gemeiner Verstand, gesunde Vernunft etc. durch und wird zunehmend auch vom Gemeinsinn unterschieden.[7]

Zur Aufwertung des gesunden Menschenverstandes trägt stark die deutsche Popularphilosophie bei, die auch Philosophie des gesunden Menschenverstandes genannt wird. Ihre Blüte erlebt sie während der Hochaufklärung, von etwa 1750 bis 1780. Hauptvertreter sind u. a. Moses Mendelssohn, Johannes Nikolaus Tetens, Johann Georg Heinrich Feder, Christoph Meiners und der frühe Kant.[8]

Immanuel Kant stellt die Weichen für die weitere Entwicklung. Anfangs deutlich selbst Popularphilosoph bleibt er auch später – nach seiner polemischen Kritik am Missbrauch des gesunden Menschenverstand durch einige Popularphilosophen [9] – ein großer Befürworter des gesunden Menschenverstandes.[10] Gesunder (Menschen-)Verstand ist für ihn „der gemeine Verstand, so fern er richtig urtheilt“[11]. Diesen zu besitzen sei ein Geschenk des Himmels. Im Alltag sei er oft nützlicher als wissenschaftliche Erkenntnisse.[12] Kant formuliert drei Maximen für den erfolgreichen Gebrauch des gesunden/gemeinen Menschenverstandes:

  1. „Selbstdenken“
  2. „An der Stelle jedes andern denken“
  3. „Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken“[13]

In der Metaphysik ist der gesunde/gemeine Menschenverstand für Kant zwar als Probierstein des spekulativen Vernunftgebrauchs und Ausgangspunkt für die Fragen der reinen Vernunft von Nutzen.[14]. Generell gilt hier jedoch: „In der Metaphysik ist die Berufung auf die Aussprüche des gemeinen Verstandes überall ganz unzulässig, weil hier kein Fall in concreto kann dargestellt werden“[15].

In Kants Moralphilosophie wird dem gesunden/gemeinen Menschenverstand höchste Anerkennung zuteil. In Fragen der Moral urteile dieser oft richtiger als die Wissenschaft.[16] Deshalb dient er hier als Ausgangspunkt und Leitfaden für die wissenschaftliche Betrachtung jener.[17]

Auch das Geschmacksurteil ist bei Kant eng mit dem gesunden/gemeinen Menschenverstand verknüpft. Das durch das Fällen subjektiver, aber allgemein geteilter Urteile charakterisierte Vermögen steht bei ihm in Analogie zur Idee des ästhetischen Gemeinsinns.[18]

Der Philosophie im Allgemeinen weist Kant eine Wächterfunktion gegenüber dem gesunden/gemeinen Menschenverstand zu: Sie soll ihn in Schutz nehmen und darüber „wachen, daß der gemeine Menschenverstand ein Gesunder Verstand bleibe“. Außerdem hat sie die Erkenntnisse der oberen Fakultäten (Theologie, Jura, Medizin) „zum Gesunden Menschenverstande herabzubringen“.[19]

Der Deutsche Idealismus ist kein Freund des gesunden Menschenverstandes. Fichte und Schelling, vor allem aber Hegel äußern sich überaus ablehnend. Der gesunde Menschenverstand gebe nur triviale Wahrheiten zum Besten[20]. Hegel identifiziert die Ausdrücke „Eingebung, Offenbarung des Herzens, … gesunder Menschenverstand, common sense, Gemeinsinn“ und sieht darin eine Abneigung der Vernunft gegen sich selbst (Misologie).[21]

Noch polemischer drückt sich Karl Marx aus: Der gesunde Menschenverstand sei eine Form historischer Dummheit und ein Instrument der herrschenden Klasse.[22]

Auch Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche äußern sich ablehnend.[23]

Im angelsächsischen Sprachraum dagegen genießt die Bedeutung von ‚gesunder Menschenverstand’ als common sense durchgehend hohe Anerkennung. Besonders hervorzuheben sind der amerikanische Pragmatismus – hier vor allem der Critical Commonsensism von Charles Sanders Peirce –, und die Verteidigung des Common Sense von George Edward Moore. In Deutschland wurde vor allem von Hermann Lübbe immer wieder auf die große Bedeutung des Common Sense resp. des gesunden Menschenverstandes hingewiesen.[24]

Abgrenzungen

Der Begriff ‚gesunder Menschenverstand’ wird im heutigen allgemeinen Sprachgebrauch klar vom Begriff Gemeinsinn unterschieden. Obwohl beide auf dieselbe Wortherkunft zurückblicken und im 18. Jahrhundert z. T. synonym verwendet wurden, steht der gesunde Menschenverstand heute vor allem für den gewöhnlichen Verstand und Gemeinsinn in erster Linie für eine solidarische Gesinnung.

Sowohl ‚gesunder Menschenverstand’ als auch Gemeinsinn gelten als Übersetzungen von engl. common sense. Beide drücken aber nicht exakt dasselbe wie dieser aus.

Der gesunde Menschenverstand lässt sich als eine Form natürlicher Urteilskraft betrachten. Da er auf Basis von Begriffen urteilt, handelt es sich bei ihm jedoch weder um ein Gefühl noch um Intuition.

Zuletzt gab es mehrere Ansätze, die verschiedenen Bedeutungsnuancen von gesunder Menschenverstand, Gemeinsinn, Urteilskraft etc. unter der Bezeichnung Common Sense im Zusammenhang und damit neu zu betrachten.[25]

Siehe auch

Literatur

  • A. v. Maydell / R. Wiehl: Art. Gemeinsinn, in: HWPh Bd. 3, S. 243-247.
  • Th. Leinkauf / Th. Dewender / A. von der Lühe / K. Grünepütt / L. Riebold: Art. sensus communis, in HWPh Bd. 9, S. 622-675.
  • Körver, Helga: Common Sense. Die Entwicklung eines englischen Schlüsselwortes und seine Bedeutung für die englische Geistesgeschichte vornehmlich zur Zeit des Klassizismus und der Romantik, Bonn 1967.
  • Albersmeyer-Bingen, Helga: Common Sense. Ein Beitrag zur Wissenssoziologie, Berlin 1986.
  • Nehring, Robert: Kritik des Common Sense: Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn - der Sensus communis bei Kant, Berlin: Duncker & Humblot 2010.

Einzelnachweise

  1. Vgl. auch Nehring, Robert: Kritik des Common Sense: Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn - der Sensus communis bei Kant, Berlin: Duncker & Humblot 2010, S. 22 ff., 47 ff.
  2. Vgl. Nehring, S. 20 ff., v. a. S. 25, 29.
  3. Vgl. Nehring, S. 14.
  4. Vgl. Nehring, S. 14.
  5. Vgl. Art. sensus communis, in HWPh Bd. 9, S. 622 ff.
  6. Vgl. Nehring, S. 31 ff.
  7. Vgl. Körver, Helga: Common Sense. Die Entwicklung eines englischen Schlüsselwortes und seine Bedeutung für die englische Geistesgeschichte vornehmlich zur Zeit des Klassizismus und der Romantik, Bonn 1967, S. 212 ff. und Albersmeyer-Bingen, Helga: Common Sense. Ein Beitrag zur Wissenssoziologie, Berlin 1986, S. 22 ff.
  8. Vgl. Art. Popularphilosophie, in HWPh Bd. 7, S. 1093 ff. sowie Nehring, S. 78 ff., 244 ff.
  9. (V. a. in Kritik der reinen Vernunft und Prolegomena)
  10. Vgl. Kuehn, Manfred: Scottish Common Sense in Germany, 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy, Kingston Montreal 1987 und Nehring, S. 78 ff., 244 ff.
  11. AA 4, 369.
  12. Vgl. Nehring, S. 47 ff.
  13. AA 5, 294f.
  14. Vgl. AA 9, 57, AA 8, 219.
  15. AA 9, 79.
  16. Vgl. AA 9, 79, AA 4, 391.
  17. Vgl. AA 5, 27, AA 5, 36 f.
  18. Vgl. AA 5, 237 ff., AA 5, 293 ff.
  19. Vgl. AA 15, 173 f., AA 9, 57 ff.
  20. Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke hg. Glockner 3, 64.
  21. Enzyklopädie (1830) § 63. Vgl. ferner Werke hg. Glockner 18, 36.
  22. Vgl. Marx: Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral, in: Marx/Engels: Werke 4.1974, S. 331 ff.
  23. Die Welt als Wille und Vorstellung II, 19, in: Werke hg. Frauenstädt/Hübscher 3, 233; z. B. Musarion-Ausgabe 10, 384f.
  24. Vgl. Nehring, S. 31 ff.
  25. Siehe z. B. Steindl-Rast, David: Common Sense: Die Weisheit, die alle verbindet - Sprichwörter der Völker, München: Claudius 2009 und Nehring 2010.

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