Gesetzlosigkeit

Gesetzlosigkeit

Anomie (griech.: Kompositum aus α privativum zur Verneinung und der Endung -nomie für νόμος = „Ordnung, Gesetz“) bezeichnet in der Soziologie einen Zustand fehlender oder geringer sozialer Normen, Regeln und Ordnung. Vor allem in England war der Begriff ursprünglich ein Ausdruck für das Brechen religiöser Gesetze. Zur Beschreibung einer Anomie wird häufig auch der Begriff Anarchie (Abwesenheit von Herrschaft) benutzt, wenn davon ausgegangen wird, dass die Anarchie automatisch zu einer sozialen Regellosigkeit führt.

Inhaltsverzeichnis

„Anomie“ bei Durkheim

Der Begriff der Anomie wurde von Émile Durkheim, der ihn den Schriften des Philosophen Jean Marie Guyau entlehnt hatte, in die Soziologie eingeführt.[1] Der Rückgang von religiösen Normen und Werten führt nach Durkheim unweigerlich zu Störungen und zur Verringerung sozialer Ordnung. Aufgrund von Gesetz- und Regellosigkeit sei dann die gesellschaftliche Integration nicht länger gewährleistet. Diesen Zustand nannte Durkheim anomie, die beim Individuum zu Angst und Unzufriedenheit führen müsse, ja sogar zur Selbsttötung führen könne („anomischer Suizid“). Durkheim benutzte den Begriff, um die pathologischen Auswirkungen der sich im Frühindustrialismus rasch entwickelnden Sozial- und Arbeitsteilung zu beschreiben. Die damit einhergehende Schwächung der Normen und Regeln für die Allokation von Waren führe zu einem verschärften Wettbewerb um die steigenden Prosperitätsgewinne.

„Anomie“ bei Merton

Robert K. Merton hat den Begriff verfeinert[2] , indem er die Regeln näher beschreibt, deren Fehlen zu Anomie führt:

  • kulturelle Ziele als Wünsche und Erwartungen der Menschen einer Gesellschaft
  • Normen, welche die Mittel vorschreiben, die die Menschen zur Realisierung ihrer Ziele anwenden dürfen
  • die Verteilung dieser Mittel.

Kulturelle Struktur:

  • 1.: Werte/Ziele: Bildung, Wohlstand, hohes Ansehen usw.
  • 2.: Normen: Fleiß, Intelligenz, Lernfreude usw.

Soziale Struktur

  • 3.: gesellschaftliche Zustände: Soziale Chancengleichheit usw.

Als Anomie wird nunmehr eine Dissoziation zwischen kulturellen Zielen und dem Zugang bestimmter Schichten zu dazu notwendigen Mitteln beschrieben.[3] Dadurch schwächt sich die Bindung zwischen Mitteln und Zielen.

Merton nennt fünf mögliche Reaktionsmuster des Menschen auf diese Dissoziation[4]:

  • 1. Konformität: Konzentrierung auf die Ziele, die mit den zur Verfügung stehenden (gebilligten) Mitteln erreicht werden können.[5]
  • 2. Innovation: Gebrauch kulturell missbilligter Mittel
  • 3. Ritualismus: Strikte Nutzung der vorgeschriebenen Mittel, bis hin zur Ignoranz der negativen Konsequenzen dieser Mittel (Durchführung des Rituals um des Rituals willen)
  • 4. Rückzug (retreat): Verzicht sowohl auf vorgeschriebene Ziele als auch geforderte Mittel (Aussteiger, Drogenabhängige etc., vgl. auch Eskapismus)
  • 5. Rebellion: Zurückweisung von Zielen und Mitteln und Betonung eines neuen, sozial missbilligten Systems von Zielen und Mitteln
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Gegenwärtig führt vor allem die Relativierung kultureller Mittel durch Pluralisierung zum Problem der Orientierungs- und Verhaltensunsicherheit, der Individualisierung und gesellschaftlichen Desintegration.

Literatur

  • Rüdiger Penckert: Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle. In: Korte/Schäfers : „Einführung in Haupbegriffe der Soziologie“, S.112-113
  • Gabriele Faßauer, Frank Schirmer: Moderne Leistungssteuerung und Anomie. Eine konzeptionelle und indizienbasierte Analyse aktueller Entwicklungen in Organisationen. In: „Soziale Welt“, Jg. 57, 2007, S. 351-371
  • Marco Orru: The Ethics of Anomie: Jean Marie Guyau and Emile Durkheim. in: British Journal of Sociology, Jg. 34, 1983, S. 499-518
  • Rüdiger Ortmann: Abweichendes Verhalten und Anomie. Entwicklung und Veränderung abweichenden Verhaltens im Kontext der Anomietheorien von Durkheim und Merton. Max-Planck-Inst. für Ausländisches und Internationales Strafrecht, Freiburg im Breisgau, Ed. iuscrim, 2000
  • Jordi Riba: La morale anomique de Jean-Marie Guyau. L'Harmattan, Paris u. a., 1999
  • Hans Joas (Hg): Lehrbuch der Soziologie. 3. Auflage, Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main, 2007
  • Wolfgang Melzer: Gewaltprävention und Schulentwicklung. Bad Heilbrunn, 2004, S.62f
  • Ulrich Meier: Aggressionen und Gewalt in der Schule. Münster, 2004, S.56f
  • Siegfried Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens. Frankfurt/M, 1996
  • Hans-Dieter Schwind: Kriminologie. 2002

Einzelnachweise

  1. Émile Durkheim, Le suicide, 1897
  2. Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure. Toward the codification of theory and research, Glencoe, Ill. 1949, rev. & enl. ed. ²1959
  3. vgl. dazu Bernd-Dieter Meier, "Kriminologie", 2. Auflage, München 2005, S. 57
  4. Bernd-Dieter Meier, „Kriminologie“, 2. Auflage, München 2005, S.57 f.
  5. Bernd-Dieter Meier, „Kriminologie“, 2. Auflage, München 2005, S. 57

Siehe auch


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Synonyme:

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