Geschichte der Russlanddeutschen

Geschichte der Russlanddeutschen

Die Geschichte der Russlanddeutschen (nicht zu verwechseln mit den Deutschrussen) umfasst sehr viele Epochen.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte – Deutsche in russischen Städten

Schon im Mittelalter kamen Deutsche ins alte Russland, da Lübecker Kaufleute um 1200 ein Hansekontor in Nowgorod einrichteten. Diese Stadtrepublik stand in dieser Zeit für das souveräne Russland, während andere große russische Fürstentümer dem Tatarenjoch unterlagen.

Der östliche Nachbar, das Moskowiter Reich unter Iwan III. (Regentschaft 1462-1505), unterwarf Nowgorod (1478) und löste später auch das Hansekontor auf. Iwan III. war gleichzeitig der erste in einer ganzen Reihe von Zaren, die ausländische Fachleute anwarben. So kamen wiederum Deutsche nach Russland, von denen sich einige im neuen Machtzentrum Moskau dauerhaft niederließen.

Iwan IV. (1547-1587) gelang es mit Hilfe deutscher Mineure die bislang tatarischen Gebiete (Khanate) an der Wolga zu erobern. Somit wurde zugleich der Weg nach Sibirien frei. Im Laufe der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts siedelten sich die nach Moskau kommende Ausländer überwiegend unter den Russen an, aber am 4. Oktober 1652 erging ein Erlass des Zaren Alexej Michajlowitsch (1645-1676), des Vaters von Peter I., über die Aussiedlung aller Westeuropäer hinter die Stadtgrenzen von Moskau, in die vormalige Ausländer-Vorstadt. Nunmehr bekam dieser Ort den Namen Neu-Deutsche oder Deutsche Vorstadt (Nemezkaja sloboda), da Russen alle aus Westeuropa stammenden und des Russischen nicht mächtigen Personen als "Nemcy“ (von dem Wort "nemoj", das heißt "stumm") oder übersetzt „Deutsche“ bezeichneten. Nach der Hofzählung 1665 gab es in der Deutschen Vorstadt 206 Höfe mit etwa 1200 Ausländern. Im Jahre 1725 betrug ihre Zahl schon 2500, aber anteilmäßig machten sie nur 2 % von der Gesamtbevölkerung der Stadt aus.

Peter I. (1689–1725) ließ die neue Hauptstadt Sankt Petersburg erbauen (1703), wo von nun an die meisten der angeworbenen Fachleute lebten. Unter ihm gelangten viele Deutsch-Balten, die aus der Zeit des Deutschen Ordens hervorgegangen waren, unter russische Herrschaft. Neben dem Zugang zur Ostsee wollte er auch die nördliche Schwarzmeerküste erobern, was jedoch erst Katharina II. wirklich gelang.

Deutsche Siedler in Russland

Katharina II.

Der Einfluss von Deutschen auf die Geschichte Russlands nahm unter den Nachfolgern Peters des Großen noch weiter zu: Minister und Ratgeber kamen aus Deutschland und die Zarenfamilie der Romanows vermischte sich mit anderen europäischen Häusern. Die aus Deutschland stammende Katharina II. (1762-1796) vertrat wie Friedrich II. in Preußen, Maria Theresia und Joseph II. in Österreich einen aufgeklärten Absolutismus und förderte wie diese die Kolonisation von innerstaatlichen, kaum oder unbewohnten Gebieten, um so ein erhöhtes Bevölkerungswachstum zu erreichen. Durch diese Peuplierungspolitik erhoffte man sich Macht und Reichtum für den Staat. In Russland kam noch hinzu, dass man einige Gebiete vor nomadisierenden Stämmen sichern wollte.

Einladungsmanifest

Da die meisten russischen Bauern Leibeigene ihrer adligen Herren waren und die Zahl der freien Staatsbauern nicht ausreichte, warb sie vor allem im Ausland um Siedler. Ihr Einladungsmanifest vom 22. Juli 1763 stellte ausländischen Siedlern eine Reihe von Privilegien in Aussicht:

  • Religionsfreiheit,
  • Befreiung vom Militärdienst,
  • Selbstverwaltung auf lokaler Ebene mit Deutsch als Sprache,
  • finanzielle Starthilfe,
  • 30 Jahre Steuerfreiheit.

Auswanderung

Vor allem in deutschen Fürstentümern wurden die Menschen von den Versprechungen gelockt, die Katharina II. durch ihre Anwerber in Zeitungen und Kirchen verbreiten ließ. Die Motive, das Land verlassen zu müssen (Emigration), ergaben sich vor allem aus den Folgen des Siebenjährigen Krieges (1756 – 1763), unter dem vor allem die Bewohner der Rheinprovinz, Nordbayerns und -badens, der hessischen Gebiete und der Pfalz zu leiden hatten.

Ankunft der ersten Siedler

Schon in den Jahren 1764-1767 wanderten rund 30.000 Deutsche – inklusive einer kleineren Anzahl von Franzosen, Niederländern und Schweden – nach Russland aus. Tausende überlebten die Strapazen, den Hunger und die Krankheiten während der langen Reise nicht. Erst bei der Ankunft wurde vielen klar, dass sie nicht mehr zu der Sorte von Einwanderern gehören sollten, die sich die Zaren in den Jahrhunderten zuvor ins Land geholt hatten. Weder durften die Handwerker unter ihnen ihren erlernten Beruf in den Städten ausüben, noch durften die Bauern sich selbst den Flecken Erde wählen, an dem sie sich niederließen. Stattdessen wurden einige dieser ersten Siedler in die ländliche Region um St. Petersburg, der überwiegende Teil aber ins Wolgagebiet bei Saratow geführt, wo alle dazu bestimmt waren, eine landwirtschaftliche Tätigkeit auszuüben.

Pro Familie bekamen die Kolonisten etwa 30 Hektar Land zugesprochen, wobei jedoch Klima und Bodenbeschaffenheit dieses Landes völlig anders waren, als man es aus den heimatlichen Gebieten kannte. So berichtet der Zeitzeuge C. Züge:

Unser Führer rief halt! Worüber wir uns sehr wunderten, weil es zum Nachtlager noch zu früh war; unsere Verwunderung ging aber bald in Staunen und Schrecken über, als man uns sagte, dass wir hier am Ziele unserer Reise wären. Erschrocken blickten wir einander an, uns hier in einer Wildniß zu sehen, welche, so weit das Auge reichte, außer einem kleinen Walde, nichts als fast drei Schuh hohes Gras zeigte. Keins von uns machte Anstalt von seinem Roße oder Wagen herabzusteigen, und als das erste allgemeine Schrecken sich ein wenig verloren hatte, las man auf allen Gesichtern den Wunsch, wieder umlenken zu können… Das ist also das Paradies, das uns die russischen Werber in Lübeck verhießen, sagte einer meiner Leidensgefährten mit trauriger Miene! (…) Es war freilich eine Torheit von uns gewesen, dass wir uns in Russlands unbewohnten Gegenden einen Garten Eden dachten; die Täuschung war aber dagegen auch allzu groß, dafür eine Steppe zu finden, die auch nicht einmal den mäßigsten Forderungen entsprach. Wir bemerkten in dieser unwirthbaren Gegend nicht die geringste Anstalt zu unserer Aufnahme, sahen auch im Verlauf mehrerer Tage keine machen, und doch schien bei dem nicht mehr fernen Winter; Eile nötig zu sein.[1]

Diese Beschreibung bezeugt die Pionierleistung, die die zu Beginn (1773) 25.781 Einwohner der 104 neuen Dörfer im Wolgagebiet erbringen mussten, um zu überleben. Viele überlebten jedoch nicht. Neben den klimatischen Verhältnissen, Schädlingen und Seuchen stellte sich als weiteres Problem die strategische Lage heraus, denn es kam immer wieder zu Überfällen durch Reiternomaden („Kirgisen“) aus dem Osten, die ganze Siedlungen zerstörten und ihre Einwohner raubten und versklavten. Durch Gefangenschaft, Krankheit und Flucht dezimierte sich die Zahl der Siedler allein innerhalb der ersten zehn Jahre um mehr als 7000 Menschen. Die russische Regierung versuchte der Entwicklung durch weitere Kredite, aber auch durch die Enteignung von Bauern, die sie als untauglich befand, entgegenzuwirken. Die verbleibenden Siedler durften sich fortan selbst verwalten, indem sie ihre eigenen Dorf- und Oberschulzen wählten.

Siedler im Wolgagebiet

Trotz aller Schwierigkeiten machten die Siedler im Wolgagebiet Fortschritte. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde ein „bescheidener Wohlstand“ (1) erreicht. Die Ernten wurden besser und die Bevölkerungszahl stieg um ein Vielfaches an, so dass im Jahre 1815 60.000, im Jahre 1850 dann gar 165.000 Menschen in den Mutter- und neu entstandenen Tochterkolonien (Am Trakt und Alt-Samara) lebten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch wuchsen wieder die wirtschaftlichen Probleme, was vor allem an einer Agrarverfassung lag, die sich als nicht nachhaltig erwies. Land war nämlich hier nie Privateigentum, sondern wurde immer nur zur Verfügung gestellt – zuerst von der Krone, später von der Gemeinde, die immer wieder aufs Neue für eine möglichst gerechte Verteilung zu sorgen hatte. Diese Umteilungsgemeinde hatte sich nach der Abschaffung der Leibeigenschaft zuvor schon bei den meisten russischen Bauern entwickelt. Begünstigt durch Bevölkerungswachstum und mangelnder Alternativen, eine Arbeit außerhalb der Landwirtschaft zu finden, ergab sich das Problem, dass mit der Zeit immer weniger Kolonistenland für immer mehr Bauern zur Verfügung stand. Landzukäufe konnte man sich kaum leisten, stattdessen wurde das vorhandene Land umso intensiver genutzt und teilweise ausgelaugt. Dies war mitverantwortlich für die Missernten und Hungerjahre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Siedler am Schwarzen Meer

Südrussland sowie das nördliche Schwarzmeergebiet mit den Schwarzmeerdeutschen war neben der Wolgaregion das zweite Hauptsiedlungsgebiet deutscher Kolonisten in Russland. Dieses Land, heute vorwiegend auf dem Staatsgebiet der Ukraine, hatte Katharina II. durch zwei Kriege mit dem Osmanischen Reich (1768-1774) und der Annexion des Krimkhanats (1783) im Süden für das Russische Reich hinzugewonnen. Es war jedoch nicht so kompakt angelegt wie das Wolgagebiet, sondern das Kerngebiet einer ganzen Kette von Kolonien, die von Wolhynien bis in den Kaukasus reichte. Die ersten deutschen Siedler kamen seit 1787 in erster Linie aus dem Raum Westpreußen (heute Polen) hierher, später dann auch aus dem Westen und Südwesten Deutschlands sowie dem Raum Warschau. Als Glaubensflüchtlinge kamen vor allem Mennoniten, die als „tüchtige Landwirte“ bekannt waren und die Rolle von Musterwirten übernehmen sollten[2]. Diese Religionsgruppen hatten oft die Siedlungsgebiete schon auskundschaften lassen und brachten ihre eigenen Gerätschaften und eigenes Vieh mit. Außerdem hatten sie schon im Vorfeld oft bessere Bedingungen (mehr Landzuweisung u.ä.) ausgehandelt.

Anders als an der Wolga sah es in Südrussland aus, wo den Bauern gleich zu Beginn mehr Land zugewiesen wurde und wo die Höfe meist ungeteilt an jeweils einen Erben übergingen. Wenn auch die Schwierigkeiten bei der Gründung ansonsten in etwa gleich waren, verlief die wirtschaftliche Entwicklung dieser Kolonien insgesamt erfolgreicher als an der Wolga. Auch stieg hier die Nachfrage nach anderen Gewerken, so dass auch Landlose eine Alternative hatten.

Diese besser durchdachte und mehr an den Bedürfnissen des Landes orientierte Einwanderungspolitik qualifizierter, dafür aber kleinerer Gruppen, wurde ab 1804 von Alexander I. weiter geführt. Dieser orientierte sich zwar an Katharina der Großen, beschränkte die Auswahl der Siedler aber durch verschiedene Regelungen auf wohlhabende Familien.

Die besseren Bedingungen führten - gepaart mit modernem landwirtschaftlichem Gerät - zu einer wirtschaftlichen Blüte in den besiedelten Gebieten. Im Zuge der wirtschaftlichen Expansion der Deutschen in Russland wurde auch die Infrastruktur immer weiter verbessert und die deutsche Minderheit stieg im Zarenreich zu einer politisch, wirtschaftlich sowie finanziell einflussreichen Gruppe auf. Man fand sie überproportional oft im Offizierscorps, sie besaßen Banken und florierende Fabriken.

Von der Privilegierung zur Diskriminierung (1871-1917)

Aufhebung des Sonderstatus

Die Abschaffung der Leibeigenschaft durch Alexander II. bedeutete formal auch eine Angleichung des russischen Bauernstandes an den der Deutschen. In Ermangelung einer Bodenreform erhielten aber die nun freigesetzten russischen Bauern nicht das Land, auf dem sie bislang gearbeitet hatten. Viele arbeiteten daher als Tagelöhner bei deutschen Bauern. Dies führte nicht selten zu Neid unter der russischen Bauernbevölkerung.

Das "Angleichungsgesetz" aus dem Jahre 1871 sorgte dafür, dass der Sonderstatus der Kolonisten allmählich aufgehoben werden sollte. So wurden die Selbstverwaltungseinrichtungen aufgelöst, russisch wurde Amts- und Schulsprache, der Militärdienst wurde verpflichtend. Diese Entwicklung kann nun einerseits als Förderung des Mitspracherechtes, und insgesamt der Integration, andererseits als Versuch einer Bevormundung und Beitrag zur Assimilierung der Russlanddeutschen ("Russifizierung") angesehen werden. In Zeiten aufkommender Industrialisierung empfanden viele Russlanddeutschen diesen erzwungenen Ausbruch aus der Isolation zwar auch als Chance, gleichzeitig sorgten sie sich wegen des aufkeimenden Panslawismus und der Deutschenfeindlichkeit im Land. Denn das Angleichungsgesetz fiel bezeichnenderweise auf das Gründungsjahr (1871) des Deutschen Reiches, das nach der dritten Teilung Polens (1795) nun in unmittelbarer Nachbarschaft lag.

Diese Russifizierungsmaßnahmen in der Zeit um 1870 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts führten dazu, dass bis 1912 etwa 300.000 Russlanddeutsche nach Nord- und Südamerika auswanderten, was jedoch das Bevölkerungswachstum in dieser Gruppe nicht nachhaltig beeinflusste, da aufgrund einer hohen Geburtenrate die Zahl der Russlanddeutschen bis 1914 auf 2,4 Millionen angewachsen war.

Antideutsche Stimmung

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten 270.000 Schwarzmeerdeutsche in dreimal so vielen Dörfern wie die über 400.000 Wolgadeutschen . Um die Hauptsiedlungsgebiete herum, aber auch weit entfernt davon in Sibirien und Kasachstan, waren Tochterkolonien entstanden. Der Anteil der Deutschen in Russland wuchs durch die Zuwanderung aus dem ehemals polnischen Grenzgebiet nach Wolhynien noch weiter an. Diese in nationalistischen russischen Kreisen als "Germanisierung" (2) bezeichnete Entwicklung und dazu noch der Neid gegenüber den durchschnittlich wohlhabenderen Russlanddeutschen in den Städten und Südrussland verstärkte die antideutsche Stimmung im Lande.

Der „innere Feind“ im Ersten Weltkrieg

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurden die Russlanddeutschen - aus deren Reihen immerhin 300.000 Soldaten in der russischen Armee kämpften - als „potentieller Verräter“ und „innerer Feind“ bekämpft (2).

1914 verbot der letzte Zar, Nikolaus II. (1894 - 1917), unter anderem den Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit. 1915 gab es in Moskau ein Pogrom gegen Deutsche. Im selben Jahr wurden in Russland deutsche Zeitungen verboten, durften keine deutschsprachigen Bücher mehr gedruckt werden und kamen Gesetze mit dem Ziel heraus, die Deutschen an den Landesgrenzen, später 1917 im ganzen Land zu enteignen und zu vertreiben. Die Februarrevolution 1917 verhinderte Schlimmeres, auch wenn zu diesem Zeitpunkt schon 200.000 Kolonisten aus Wolhynien wirtschaftlich ruiniert und vertrieben oder nach Sibirien deportiert worden waren (2).

Die Zwischenkriegszeit

Streckerau (heute: Nowokamenka) an der Wolga, 1920
Russlanddeutsche Flüchtlinge ca. 1920 in Schneidemühl, Bauernehepaar aus dem Wolgagebiet
Russlanddeutsche Flüchtlinge ca. 1920 in Schneidemühl, Großvater und Enkelkinder

Hungerjahre 1921/1922

1917 kam die Oktoberrevolution, mit der das Zarenreich zur Sowjetunion wurde. Nach einem Diktatfrieden mit Deutschland war dann für diese der Erste Weltkrieg zu Ende. Es kamen Jahre des Bürgerkrieges mit verbliebenen reaktionären Kräften, während sich gleichzeitig neue Staaten (unter anderem Polen, die baltischen Staaten) auf dem Territorium des alten Zarenreichs proklamierten. Viele deutsche Siedler lebten damit außerhalb des Machtbereichs der Sowjets. Nicht aber die Bauern an der Wolga sowie die Schwarzmeerdeutschen, die nun Bekanntschaft mit dem Kriegskommunismus schließen mussten. Sie mussten Zwangsabgaben leisten, die sogar das Saatgut einschlossen. Wer sich dem widersetzte, wurde als Kulak diffamiert und enteignet.

Dürrejahre (1921-1923) verschärften diese Situation noch weiter und es kam zu einer Hungersnot. Lenins Neue Ökonomische Politik (NÖP) 1921 konnte nicht mehr verhindern, dass trotz ausländischer Spenden 3 bis 5 Mio. Menschen verhungerten, davon allein 120.000 Russlanddeutsche (48.000 im Wolgagebiet). [3]

Neue Grenzen

Nach dem Ende des Bürgerkriegs (1920) gelangten 1922 unter anderem die Ukraine, Weißrussland und Kasachstan bzw. Kirgisien als Gliedsstaaten zur Sowjetunion, aber nicht zur russischen Sowjetrepublik. Die Bezeichnung "Russlanddeutsche" ist trotzdem im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch erhalten geblieben, auch wenn nun das Siedlungsgebiet oft nicht mehr in Russland lag. Dort jedoch erhielten Gebiete mit einer großen ethnischen Minderheit zumindest nominell oft den Autonomiestatus. So kam es 1924 auch an der Wolga zur Bildung einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSRdWD). Auf einem Gebiet von der Größe Belgiens wurde nun Deutsch (neben Russisch und Ukrainisch) zur gleichberechtigten Amts- und Unterrichtssprache.

Unterdrückung unter Stalin

Hungerkatastrophe 1932/33

Ende 1929 begann Stalin mithilfe von Terror, die zwangsweise Kollektivierung der Landwirtschaft durchzusetzen. Dies führte 1932/1933 zu einer weiteren, noch verheerenderen Hungerkatastrophe als 1920/21. Die Angaben der Opfer reichen von 3 bis annähernd 11 Millionen Menschen (siehe auch Geschichte der Ukraine). Unter ihnen befanden sich etwa 350.000 Russlanddeutsche.

Vor dem Zweiten Weltkrieg

Spätestens mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland wurden die Russlanddeutschen wieder als "innerer Feind" betrachtet und heimlich in Listen erfasst (1934). Repressionen und Verhaftungen angeblicher "Spione" oder "Sowjetfeinde" nahmen zu. Allein in der Ukraine wurden 1937/1938 122.237 Deutsche zum Tode, 72.783 zu Haftstrafen von zumeist 10–25 Jahren verurteilt (2). Die Situation entspannte sich nur vorläufig nach Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes 1939.

Überfall auf die Sowjetunion

Im Juni 1941 begann der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion, der über 20 Millionen Menschen das Leben kosten sollte. Mit dem schnellen Vorstoß der Wehrmacht befanden sich etwa 20 % der Russlanddeutschen plötzlich unter NS-Herrschaft, was sie nur vorläufig vor Stalins Plänen schützen sollte, sie allesamt in die Verbannung zu schicken. Dessen "krankhaftes Misstrauen" (2) ging so weit, dass er im November 1941 auch die 100.000 Russlanddeutschen an der Front aus der ohnehin durch "Säuberungen" geschwächten Roten Armee entfernen ließ.

Unter deutscher Besetzung

Den verhältnismäßig kleineren Teil der Russlanddeutschen auf der deutschen Seite der Front versuchten die Nationalsozialisten nun als „volksdeutsche“ Instrumente nationalsozialistischen Rassenwahns zu benutzen. Einige in die Gefangenschaft Geratene traten in die SS ein, etwa der damals zwanzijährige Samuel Kunz, der sich zusammen mit dem verurteilten Kriegsverbrecher Iwan Demjanjuk der SS-Einheit „Fremdvölkische Wachmannschaften“ anschloss und nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Bonn wegen Beihilfe zum Mord an 430.000 Menschen im Vernichtungslager in Belzec, der eigenhändigen Ermordung von acht Menschen und der Ermordung von zwei Menschen schuldig gemacht hat. Kunz führte nach dem Kriege bis 2010 ein unauffälliges Leben als Handwerker in der Nähe von Bonn.

Als die Rote Armee die besetzten Gebiete zurückerobern konnte, wurden die Ukrainedeutschen in den „Warthegau“ (im besetzten Polen) umgesiedelt. Mit der deutschen Niederlage gerieten etwa 100.000 dieser Neusiedler (3) wieder in den Machtbereich der Sowjets und wurden ebenfalls deportiert.

Deportationen

Nach Beginn des Krieges wurden mehr als 1,2 Mio. Russlanddeutsche entsprechend dem Erlass des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 innerhalb weniger Wochen unter dem Vorwurf der Kollaboration mit Deutschland aus den europäischen Teilen der Sowjetunion nach Osten – vorwiegend Sibirien, Kasachstan und in den Ural deportiert.

Der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Volga-Rayons leben“ lautete:

Entsprechend glaubwürdigen Nachrichten, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden sich unter der in den Volga-Rayons lebenden deutschen Bevölkerung Tausende und Zehntausende von Diversanten und Spionen, die nach einem aus Deutschland gegebenen Signal in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons Sprenganschläge verüben sollen.
Über die Anwesenheit einer so großen Zahl von Diversanten und Spionen unter den Wolgadeutschen hat den Sowjetbehörden keiner der in den Volga-Rayons ansässigen Deutschen gemeldet, folglich verbirgt die deutsche Bevölkerung der Volga-Rayons in ihrer Mitte Feinde des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht.
Im Falle von Diversionsakten, die auf Weisung aus Deutschland durch deutsche Diversanten und Spione in der Republik der Wolgadeutschen oder in den angrenzenden Rayons ausgeführt werden sollen, und im Falle, daß es zum Blutvergießen kommen wird, wird die Sowjetregierung entsprechend den zur Kriegszeit geltenden Gesetzen gezwungen sein, Strafmaßnahmen zu ergreifen.
Um aber unerwünschte Ereignisse dieser Art zu vermeiden und ernsthaftes Blutvergießen zu verhindern, hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befunden, die gesamt deutsche Bevölkerung, die in den Volga-Rayons ansässig ist, in andere Rayons umzusiedeln, und zwar derart, daß den Umzusiedelnden Land zugeteilt und bei der Einrichtung in den neuen Rayons staatliche Unterstützung gewährt werden soll.
Für die Ansiedlung sind die an Ackerland reichen Rayons der Gebiete Novosibirsk und Omsk, der Region Altaj, Kasachstans und weitere benachbarte Gegenden zugewiesen worden.
Im Zusammenhang damit ist das Staatliche Verteidigungskomitee angewiesen worden, die Umsiedlung aller Wolgadeutschen und die Zuweisung von Grundstücken und Nutzland an die umzusiedelnden Wolgadeutschen in den neuen Rayons unverzüglich in Angriff zu nehmen.
Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR
gez. M. Kalinin
Der Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR
gez. A. Gorkin
Moskau, Kreml,
28. August 1941

Familien wurden auseinandergerissen, die Menschen wurden mit Viehwaggons transportiert und irgendwo in den Steppen Kasachstans ‚abgekippt’, wo sie sich Erdhütten gruben und mit Entsetzen dem bevorstehenden Winter entgegensahen. Wieder andere wurden Kolchosen zugewiesen und mussten dort nach Überlebensmöglichkeiten suchen, die man den ‚Faschisten’ eigentlich gar nicht zubilligte. Gleichzeitig wurden ihre staatsbürgerlichen Rechte aberkannt und ihr Eigentum bis auf ein geringes Handgepäck eingezogen. Die meisten von ihnen – im Alter zwischen 14 und 60 Jahren – mussten in Arbeitslagern unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Mehrere Hunderttausend – die nicht ermittelte Zahl schwankt um 700.000 – starben in dieser Zeit vor allem an schlechten Arbeits-, Lebens- oder medizinischen Bedingungen.

Tod und Verbannung

Die Deutschen wurden der Sonderverwaltung (Kommandantur) unterstellt und praktisch zu rechtlosen Arbeitssklaven gemacht, die dann im Herbst 1941 zusammen mit deutschen Kriegsgefangenen, darunter auch Zivilisten, in die sogenannte Trudarmee (von "труд" für "Arbeit") interniert wurden. Unter militärischer Willkür mussten sogar Jugendliche bei unzureichender Ernährung und bei extremer Kälte körperliche Schwerstarbeit verrichten.

Nach dem Stalinismus

Ein Großteil der Russlanddeutschen hat die vielfachen staatlichen Eingriffe in das vormals eigenständige dörfliche Leben nicht überlebt. Vor allem der Stalinismus zerstörte sowohl Menschenleben als auch die Dörfer und damit die eigenständige Kultur der Deutschen in Russland. Die Kinder der Russlanddeutschen hatten – wenn überhaupt – nur Zugang zu russischsprachigem Unterricht. Deutsch öffentlich zu sprechen blieb noch lange gefährlich und verstärkte die Gefahr, als angeblicher "Faschist" angefeindet zu werden. 1948 verkündete der Oberste Sowjet, dass die Verbannung "auf ewig" (1) gelten solle.

In Sibirien und Kasachstan wurden die Russlanddeutschen weitgehend von den anderen Sowjetbürgern getrennt in Sondersiedlungen angesiedelt. Diese unterstanden regelmäßig einer sog. Kommandantur mit strengen Meldepflichten, Ausgangsbeschränkungen und Diskriminierungen. Es herrschten lange Zeit lagerähnliche Zustände. Die Kommandantur wurde erst im Januar 1956 aufgehoben. Ab dieser Zeit durften sich die Deutschen wieder einen Wohnort nach Wunsch suchen, aber nicht in ihren früheren Siedlungsgebieten. Die deutschen Siedlungen in Sibirien und Kasachstan bestanden als Dörfer mit deutscher Mehrheitsbevölkerung weiter. Im Laufe der Zeit zogen auch Russen und andere Sowjetbürger dorthin.

Am 29. August 1964 wurden die Russlanddeutschen durch ein – allerdings damals nicht veröffentlichtes – Dekret des Obersten Sowjets rehabilitiert. In den 1960er Jahren begann auch langsam die Ausreise von Russlanddeutschen in die Heimat ihrer Ahnen nach Deutschland. Vor allem siedelten sie in die Bundesrepublik um. Aber auch in der DDR fanden einige Familien eine neue Heimat. Erst in den 1980er Jahren und vor allem nach dem Zerfall der Sowjetunion wuchs der Strom der Aussiedler nach Deutschland gewaltig an.

Weitreichende Folgen des Krieges

Im Jahr 1950 war es 70.000 Deutschen aus Russland (von insgesamt 12,2 Millionen deutschen Vertriebenen) gelungen, einen dauerhaften Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland zu nehmen; 5.000 Deutsche aus Russland (von insgesamt 4,1 Millionen deutschen Vertriebenen) lebten seinerzeit in der DDR.[4]

Viele Spätaussiedler, die Jahrzehnte später nach Deutschland ausgewandert sind, berichten von Folgen des Krieges, die noch heute zu spüren sind. Sie hatten mit Vorurteilen der russischen Bevölkerung in Russland, haben aber auch mit Vorurteilen der deutschen Bevölkerung in Deutschland zu kämpfen. Während den Russlanddeutschen in ihren Herkunftsgebieten ihre Deutschstämmigkeit vorgeworfen wurde und teilweise noch wird, werden Deutsche aus Russland in Deutschland häufig, wenn sie Deutsch mit Akzent sprechen, als Ausländer oder, wenn sie untereinander Russisch sprechen, als Russen eingestuft. Trotzdem ist die Gruppe der Deutschen aus Russland im Vergleich zu anderen Gruppen mit Migrationshintergrund insgesamt relativ gut in die deutsche Gesellschaft integriert.

Quellen

  1. zit. nach Stricker 1997
  2. vgl. Informationen zur Politischen Bildung, Heft 267 (s. Literatur)
  3. Sterben in der Steppe
  4. Landsmannschaft der Deutschen aus Russland: Zeittafel von der Auswanderung nach Russland bis zur Gründung der Landsmannschaft

Siehe auch

Literatur

  • Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aussiedler. (= Informationen zur politischen Bildung, ISSN 0046-9408; Heft 267). August 2000 (Online-Ausgabe)
  • Reinhard Aulich: Keine Spur von Romantik. Das generationenübergreifende Schicksal der Rußlanddeutschen. Zu einer Studie von Hugo Eckert. In: Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Nr. 423. Stuttgart 2004 [2005], S. 467-473, ISBN 3-88099-428-5
  • Victor Dönninghaus: Die Deutschen in der Moskauer Gesellschaft. Symbiose und Konflikte (1494-1941), R. Oldenbourg Verlag, München 2002, ISBN 3-486-56638-5
  • Falk Blask, Belinda Bindig, Franck Gelhausen (Hg.): Ich packe meinen Koffer. Eine ethnologische Spurensuche rund um OstWest-Ausreisende und Spätaussiedelnde. Berlin: Ringbuch Verlag 2009, ISBN 978-3-941561-01-4
  • Alfred Eisfeld, Detlef Brandes, Wilhelm Kahle: Die Russlanddeutschen. 2. aktual. Auflage (1999). ISBN 3-7844-2382-5
  • Walter Graßmann: Geschichte der evangelisch-lutherischen Rußlanddeutschen in der Sowjetunion, der GUS und in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gemeinde, Kirche, Sprache und Tradition. Dissertation, Universität München 2004 (Volltext)
  • Hans-Christian Diedrich: Siedler, Sektierer und Stundisten. Die Entstehung des russischen Freikirchentums, 1. Aufl. Leipzig: Ev. Verlagsanstalt 1985, 2. Aufl. Neuhausen: Hänssler Verlag 1997, ISBN 3-7751-2781-X
  • Viktor Krieger, Hans Kampen, Nina Paulsen: Deutsche aus Russland gestern und heute. Volk auf dem Weg, 7. Auflage. Stuttgart 2006 (Volltext)
  • Viktor Krieger: Patrioten oder Verräter? Politische Strafprozesse gegen Russlanddeutsche 1942-1946. In: Verführungen der Gewalt. Russen und Deutsche im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hrsg. von Karl Eimermacher und Astrid Volpert (West-östliche Spiegelungen - Neue Folge; Bd. 1), Wilhelm Fink Verlag, München 2005, S. 1113-1160 ISBN 978-3-7705-4089-1
  • Gerd Stricker (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas - Russland, Siedler Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-88680-468-2
  • Rainer Strobl, Wolfgang Kühnel: Dazugehörig und ausgegrenzt. Analysen zu Integrationschancen junger Aussiedler. Juventa Verlag, Weinheim und München 2000, ISBN 3-7799-1492-1
  • Alina Bronsky: Scherbenpark, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2008, ISBN 978-3-462-04150-7
  • Dokummentensammlung, Hrsg. von Viktor Herdt und Alfred Eisfeld Deportattion,Sondersiedlung, Arbeitsrmee, Köln: Verl. Wiss. und Politik, 1996, ISBN 3-8046-8831-4

Weblinks


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