Gesang vom Kindchen

Gesang vom Kindchen

Gesang vom Kindchen ist - laut Untertitel - eine Idylle von Thomas Mann aus dem Jahre 1919. Der Text behandelt das Leben mit seiner 1918 geborenen jüngsten Tochter Elisabeth und ist in Hexametern verfasst. Es ist das einzige heute noch bekannte Werk des großen Prosaschriftstellers, in dem in Form „dichterischen Gesangs“[1] Persönlichstes preisgegeben wird.[2] Die Erstveröffentlichung erschien in der Zeitschrift „Der Neue Merkur“ in München im April und Mai 1919, in Buchform beim S. Fischer Verlag zusammen mit der Idylle Herr und Hund in einem Band im Herbst desselben Jahres.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung

Der Gesang vom Kindchen entstand in einem Zeitraum von weniger als sechs Monaten (Manns Tagebücher datieren den ersten Entschluss zur Dichtung auf den 14. September 1918, die Fertigstellung des Manuskripts auf den 6. März 1919), der als eine Zeit der Regeneration und inneren Einkehr gewertet werden darf. Der Zusammenbruch der deutschen Monarchie ließ Mann verwirrt, fast zornig zurück; in dieser Phase der Abkehr vom politischen Zeitgeschehen entstanden seine Idyllen, was eine Wertung des Gesangs vom Kindchen als „Privatspaß“ (Kurzke) erklärt, der als reine Fingerübung entstanden ist, bevor die Arbeit am Zauberberg wieder aufgenommen wurde. Manns Villa in München geriet zu einer Art Fluchtburg, worauf verwiesen wird, wenn er eingangs Goethe zitiert. („Wir wenden uns, wie auch die Welt entzücke, / Der Enge zu, die uns allein beglücke.“[3])

Inhalt

Der Gesang vom Kindchen besteht aus neun Kapiteln: Im „Vorsatz“ liefert der Sprecher (im Gesang vom Kindchen in personaler Einheit mit dem Autor selbst) eine Rechtfertigung seiner Hinwendung zur Versform und eine knappe Einführung in die Natur des Hexameters. „Lebensdinge“ beschreibt die Sentiments des 42-Jährigen, der ungewollt noch einmal Vater wird und nun die Freude über dieses Ereignis intensiver als bei der Geburt der ersten Kinder empfindet und deshalb detailliert beschreibt. „In der Frühe“ und „Das Mal“ gewähren Einblick in Szenen privater Häuslichkeit, die - wie der restliche Inhalt des Gesangs vom Kindchen - an der Realität modelliert sind: Das Kindchen wird gebadet und gefüttert, seine Bedürfnisse bestimmen den Ablauf des Alltags in der Münchner Villa der Familie Mann. Deren Verhältnisse bestimmen den Inhalt der folgenden Kapitel „Schwesterchen“ und „Die Unterhaltung“, in denen die Geschwister und Ahnen des Kindchens und Manns väterlich-liebevoller Umgang mit der Spätgeborenen dargestellt werden. „Krankheit“ beschreibt die Mittelohrentzündung des Kindchens und seine Behandlung. „Vom Morgenlande“ eröffnet die Genealogie des Kindchens; seine jüdische Mutter wurde von Mann stets dem Orient zugeordnet, dessen Attribute er in ihrer Erscheinung und der seiner Tochter erkennt. Er erinnert sich ferner an seine Italienreise; die Stadt Venedig gemahnt ihn sowohl an seine norddeutsche Vaterstadt Lübeck als auch an die Welt des Orients. „Die Taufe“ schließlich schildert detailliert die häusliche Feier anlässlich der Taufe Elisabeth Manns sowie die Gäste und Paten.

Bedeutung

Beachtlich am Gesang vom Kindchen ist der Umgang Manns mit dem deutschen Hexameter. In der Forschung haben seine Verse bisher wenig Beachtung erfahren und provozierten bei zeitgenössischen Rezensenten ablehnende Kritiken. Nach den Regeln der Metrik sind Manns Verse zwar fehlerhaft, doch ist dies mitnichten ein Beweis für dichterisches Unvermögen - die 58 Verse des ersten Kapitels sind metrisch einwandfrei. Manns Version des deutschen Hexameters ist einer eigenen Ordnung und Funktion unterstellt: „Zwischen Gesang und verständigem Wort hält er wohlig die Mitte“. Angestrebt wird eine Synthese von Prosa und Lyrik. Einerseits muss die metrische Struktur des Verses gelockert werden, um den Erzählfluss nicht zu hemmen, andererseits gibt der Rhythmus des Hexameters den Mannschen Sätzen lyrisches Format. Die syntaktischen Ordnungsprinzipien überwiegen vor den lyrischen. Bisweilen finden sich metrisch korrekte Verse nicht als autonome Verszeilen, sondern als zusammengefügte Teilsätze zwischen den Satzzeichen aufeinanderfolgender Zeilen. Zahlreiche Enjambements tragen außerdem dazu bei, dass der Text als kohärente Erzählung und weniger als Gedicht gelesen und gehört werden kann. Außerdem kombiniert Mann stilistische Merkmale der heroischen Verse eines Homer mit bewusst prosaisch-modernem Vokabular.

Anmerkungen

  • Bis dato erschien in der literaturwissenschaftlichen Forschungsliteratur nur eine Monographie zum Gesang vom Kindchen: „Der allerletzte Homeride?“ von Paul Ludwig Sauer. Die metrische Form des Werks bleibt bei Sauer allerdings unberücksichtigt. Ebenso bei Kissler, der den Gesang vom Kindchen als eine Allegorie, nicht aber als eine allegorische Dichtung betrachtet und sich in der Beschreibung der Mannschen Hexameter manchen Fehler erlaubt.
  • Was Wunder, wenn Kurzke an mehreren Stellen auf jene Idylle eingeht, in der Thomas Mann einmal hexametert? Die Idylle tangiert Kurzkes Thema: Das Leben als Kunstwerk.
  • Das Pathos, hereingetragen durch die gebundene Form, kollidiert bei dem gewählten Thema „Vaterliebe zum Wickelkind, das gerade mal Ah! und Da! babbelt“ in jenen Textpassagen, die den Babyalltag ganz konkret betreffen. Wer Thomas Mann schätzt, gewinnt bei der Lektüre trotzdem Einblicke in seine private Sphäre, steigt gleichsam mit dem Vater, den Säugling auf dem Arm, durch die Münchener Villa treppauf treppab. Außerdem kann der Text gelesen werden als eines der Zeugnisse zur deutschen Befindlichkeit nach dem Zusammenbruch der Monarchie 1918.
  • Mann hat sich über das Gedicht selbst geäußert. Vorbild sei ihm Hermann und Dorothea gewesen. Nach dem Krieg sei der Gesang vom Kindchen Erzeugnis eines tiefen Bedürfnisses nach Abkehr, Frieden, Heiterkeit, Liebe und herzlicher Menschlichkeit … des Bedürfnisses nach dem Bleibenden, Unberührbaren, Ungeschichtlichen, Heiligen, und sofern es mir um die Versenkung in dieses Element zu tun war, meinte ich es mit der Idylle und dem Geist des Hexameters wahrhaftig ernst.

Fußnoten

  1. Vaget, S. 584, 14. Z.v.u.
  2. Allerdings zweifelt Renner (Renner, S. 626, 21. Z.v.o.) an der Befähigung des Autors zum „metrischen Dichter“ (Quelle, S. 100, 10. Z.v.u.).
  3. Diese Schlussworte von Goethes Kampagne in Frankreich beziehen sich auf eine Lebenssituation, die der Thomas Manns am Ende des Ersten Weltkriegs nicht unähnlich ist. Beide Dichter sind Anfang vierzig, beide haben die intensivste Erfahrung des Krieges in ihrem Leben gemacht.

Literatur

  • Peter de Mendelssohn (Hg.): Thomas Mann Tagebücher I 1918-21. Frankfurt a.M., 1979
  • Thomas Mann in Almanach der Rupprechtspresse auf die Jahre 1921-1922: Brief an die Rupprechtspresse. 25.  März 1921
  • Johann Wolfgang von Goethe: Campagne in Frankreich 1792. Stuttgart, 1822.
  • Alexander Kissler in: Euphorion. Band 95. Heidelberg, 2001. S. 211-236.
  • Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche, Werk, Wirkung. München 1985. S. 134.
  • Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Frankfurt a.M. 2001. S. 661. ISBN 3-596-14872-3
  • Rolf G. Renner in: Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart 2001. S. 625-628. ISBN 3-520-82803-0
  • Hans R. Vaget in: ebenda, S. 584
  • Paul Ludwig Sauer: Der allerletzte Homeride? Thomas Manns „Gesang vom Kindchen“: Idylle und Weltgeist. Frankfurt a.M. 1986.

Quelle


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