Gerhard Küntscher

Gerhard Küntscher

Gerhard (Bruno Gustav) Küntscher (* 6. Dezember 1900 in Zwickau; † 17. Dezember 1972 in Glücksburg) war ein deutscher Chirurg, der die Marknagelung erfand. Mit Lorenz Böhler und den Belgiern Robert Danis und Albin Lambotte gehört er zu den Pionieren der Unfallchirurgie, die von der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen als Vorbilder gesehen werden.[1]

Mit dem Gerhard-Küntscher-Preis der Internationalen Vereinigung für Osteosynthese werden alle zwei Jahre herausragende Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Unfallchirurgie ausgezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Küntscher war der Sohn des Fabrikdirektors Gustav Hermann Küntscher und dessen Ehefrau Marie-Therese geb. Gottschaldt. Nach dem Schulbesuch in Chemnitz studierte er bis 1925 Medizin und Naturwissenschaften an den Universitäten in Würzburg, Hamburg und Jena. 1926 wurde er in Jena summa cum laude zum Dr. med. promoviert.[2] Zunächst arbeitete er an der Medizinischen Universitäts-Poliklinik in Jena und von 1928 bis 1930 am Städtischen Krankenhaus in Freiberg (Radiologie und Innere Medizin).

Kiel

Um Bauchchirurg zu werden, ging er 1930 in die renommierte Kieler Chirurgie unter Willy Anschütz; der Geheimrat betraute Küntscher aber bald mit den Verletzten und stimulierte sein Interesse an der operativen Knochenbruchbehandlung. Die ausserplanmässige Assistentenstelle wurde mit monatlich 280 Reichsmark vergütet.

Küntscher wandte sich früh dem Nationalsozialismus zu.[3] Seit 1931 war er Mitglied der NSDAP und der SA. 1932 wurde er zum SA-Sanitäts-Standartenführer ernannt.[4]

1935 für das Fach Chirurgie habilitiert, wurde Küntscher 1936 zum Privatdozenten und 1942 zum a. o. Professor ernannt. Nach der Emeritierung von Anschütz wurde Küntscher von Wilhelm Fischer übernommen.

Zweiter Weltkrieg

Als im April 1941 der Gestellungsbefehl zum Heer (Wehrmacht) kam, wollte Küntscher nicht im Stabsdienst, sondern an der Front eingesetzt werden. Zum Morgenappell erschien er angeblich in Arztkittel, Nachthemd und Dienstmütze, bis seinem Wunsch entsprochen wurde.[5] Zunächst an der Ostfront eingesetzt, wurde er Ende 1942 nach Finnland versetzt. Über 22 Monate leitete er in Kemi ein Lazarett - und setzte seinen Nagel mit so großem Erfolg ein, dass er in Skandinavien zum operativen Standard wurde. Rehnberg publizierte 1947 die Ergebnisse der ersten 105 Marknagelungen in Finnland.[6] Im September 1944 verließ Küntscher plötzlich Kemi „in Richtung Norwegen“.

Noch im Krieg operierte Küntscher einen abgesprungenen britischen Soldaten. Reginald Watson-Jones, Chirurg der Royal Air Force, hielt den eingebrachten Nagel zunächst für eine „experimentation“ und einen Verstoss gegen die Genfer Konvention; aber man verstand bald und die Times pries die neue Behandlung.

Schleswig, Hamburg, Flensburg

An einer Diphtherie erkrankt, kam Küntscher 1945 in ein Lazarett in Schleswig. Wieder gesund, übernahm er die Leitung.

Die britische Militärverwaltung wollte ihn (wie Heinrich Dräger in Lübeck) für sich gewinnen. Um trotz der kargen Nachkriegszeit in Schleswig bleiben zu können, zog sich Küntscher auf die Quarantänestation seines Lazaretts zurück. Dank seiner Initiative wurde das Lazarett 1948 zum Kreiskrankenhaus und 1951 zum Stadtkrankenhaus Hesterberg ausgebaut. Bei Idstedt nagelte er 1952 ein Pferdebein.[7]

Am 10. April 1957 wurde Küntscher zum Ärztlichen Direktor des Hafenkrankenhauses in Hamburg berufen. 1965 gegen seinen Willen pensioniert, war er bei seinen Vortragsreisen (Spanien, USA) nicht mehr auf die Zustimmung des Gesundheitssenators Schmedemann angewiesen.

Um in Schleswig-Holstein, aber „möglichst weit entfernt von Hamburg“ leben zu können, zog er an die Flensburger Förde und arbeitete ab 1967 als Gastarzt am St. Franziskus-Hospital in Flensburg. Er starb über der Neubearbeitung seines Buches an seinem Schreibtisch in Glücksburg. Seine Grabstätte ist auf dem Mühlenfriedhof in Flensburg.

Erfolg und Neid

Küntscher untersuchte Bau und Funktion von Knochengewebe, stellte in Experimenten erstmals den Kraftfluss in Röhrenknochen dar und erforschte die Bruchheilung und Kallusbildung. Weltberühmt wurde er durch neue Implantate und Instrumente.

Mit Ernst Pohl als kongenialem „Handwerker“ betrieb Küntscher die Entwicklung der intramedullären Bolzung zur Marknagelung. Nach Vorversuchen an Haushunden setzte er sie am 9. November 1939 erstmals bei einem menschlichen Schaftbruch des Oberschenkelknochens ein. Die „Innenschiene für Röhrenknochen“ wurde schon am 17. Dezember 1939 vom Reichspatentamt patentiert.

Als er auf der 68. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie im März 1940 in Berlin über die ersten dreizehn Fälle berichtete, musste Küntscher schwere Zweifel und Vorwürfe („Metallprügel“) hinnehmen. Allein sein Chef Fischer sprang ihm so moderat wie entschieden bei.

Der Durchbruch gelang im Zweiten Weltkrieg: 1942 trafen sich die sanitätsdienstlichen Führer der Wehrmacht in Krasnodar. Sauerbruch, Handloser, Frey, Böhler und Wachsmuth diskutierten die Frage, ob der neue Küntscher-Nagel eingeführt werden sollte. Vor allem der eigentlich „konservative“ Böhler bewirkte die positive Entscheidung.

Um bei Verwundeten die Suche nach Geschossen und Granatsplittern zu erleichtern, entwickelte Küntscher einen Metalldetektor. Da es keine Röntgengeräte gab, wurden die „Hosenjodler“ in allen Lazaretten eingesetzt.[7]

1942 war Küntschers Jahr: In Kiel, einer der angesehensten chirurgischen Kliniken Deutschlands, wurde er Professor. Richard Maatz stellte seine „Technik der Marknagelung“ (Leipzig 1945) fertig. In seinem Manuskript The marrow nailing method, das er 1947 für die US Navy fertigte, schrieb Küntscher im Vorwort, dass Maatz den Text der Technik der Marknagelung allein verfasst hatte.[8] Die Wehrmacht entschied sich für den Einsatz von Küntschers Nagel. Dass er am Ende eines solchen Jahres in den abgeschiedenen Nordosten Finnlands versetzt wurde, läßt keinen Zufall vermuten - zumal er beflissene Kollegen in seiner „Papageienmappe“ karikiert hatte.[9]

In der ganzen Welt hochangesehen, war Küntscher der akademischen Orthodoxie zu unbequem - zu erfolgreich und zu unabhängig. Ein Lehrstuhl blieb ihm versagt. Er wurde nie Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie, hielt hingegen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie die Treue.

Ehrungen

Werke (Auswahl)

  • Die Bedeutung der Darstellung des Kraftflusses im Knochen für die Chirurgie. Archiv für klinische Chirurgie 182 (1935), S. 489-551
  • Der Einfluß von Zug- und Druckkräften auf die Bruchheilung. Der Chirurg 8 (1936), S. 440-445
  • Ergebnisse und Indikation der Schenkelhalsnadelung. Archiv für orthopädische und Unfallchirurgie, mit besonderer Berücksichtigung der Frakturenlehre und der orthopädisch-chirurgischen Technik 40 (1939), S. 282-284 (39 Smith-Petersen-Nägel)
  • mit Richard Maatz: Technik der Marknagelung. Leipzig 1945
  • Das Callusproblem Langenbecks. Archiv für klinische Chirurgie 273 (1953), S. 835-43
  • The Küntscher method of intramedullary fixation. Journal of Bone and Joint Surgery [Am] 40-A (1958), S. 17-26
  • Voss' operation in coxarthrosis. Acta Orthopaedica Belgica 26 (1960), S. 248-250
  • The intramedullary nail of fractures. Clinical Orthopedics and Related Research 60 (1968), S. 5-12
  • Intramedullary nailing of comminuted fractures. Langenbecks Archiv für Chirurgie 1968
  • Intramedullary nailing of pseudarthrosis. Zentralblatt für Chirurgie 98 (1973), S. 1041-1047

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Urs F. A. Heim: Das Phänomen AO. Gründung und erste Jahre der Arbeitsgemeinschaft für das Studium der Osteosynthese. Verlag Hans Huber, Bern 2011, S. 18, ISBN 3-456-83638-4
  2. Dissertation: Prüfung der Nierentätigkeit durch Bestimmung des Harnstoffs im Speichel
  3. Mehs/Ratschko, Der andere Küntscher, Schles.-Holst. Ärzteblatt 05/2011 S. 56 http://www.aeksh.de/download/SHAE_20110556_gerhard_kuentscher_kiel_1.pdf
  4. Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004, S. 102
  5. aus Nekrolog in Spiegel 53/1972
  6. Rehnberg SV: Treatment of fractures and pseudarthroses with marrow nailing. Ann Chir Gynaec Fenn. 1947;36:2
  7. a b Als Krankenpfleger stand der heute 83jährige Kurt Thimm (Kiel) Küntscher jahrelang zur Seite.
  8. Das Manuskript wurde im Jahr 2000 als Archivfund postum veröffentlicht
  9. Karikaturen zur Marknagelung dagegen, die gern Küntscher zugeordnet werden, stammen meist aus dem sog. „Nagelbuch“, einer Geburtstagsgabe seiner Kollegen. Die Zeichnungen daraus stammen meist von Küntschers Kollegenfreund Dr. Thiele aus der benachbarten Kinderfachabteilung

Literatur

  • Lorenz Böhler: Technik der Knochenbruchbehandlung im Frieden und im Kriege. Maudrich, Wien 1945
  • A. T. Cross: Gerhard Küntscher: a surgical giant. AO Dialogue, 2/2001 (mit unbekanntem Jugendbild) Digitalisat
  • Rüdiger Döhler, Dirk Hasselhof, Friedrich F. Hennig: Femurnagelung von Küntscher – eine 74jährige Krankengeschichte. Der Chirurg 62 (1991), S. 761-762
  • Marlo Jörs (Döhler), Friedrich Hennig: Gerhard Küntscher - ein Leben, das den Nagel auf den Kopf trifft. Osteosynthese International, Budapest 1991
  • Г. В. Кустурова: ГЕРХАРД КЮНЧЕР: НАРОДЖЕННЯ БЛОКУЮЧОГО ОСТЕОСИНТЕЗУ [A. V. Kusturova: Gerhard Küntscher - the birth of locking osteosynthesis] Trauma, Donetsk 2009, S. 354-356 Digitalisat
  • Richard Maatz, W. Lentz, W. Arens (Hg.): Die Marknagelung und andere intramedulläre Osteosynthesen. Stuttgart 1983
  • S. Mehs, K. W. Ratschko: Der andere Küntscher. Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2011, S. 56 PDF
  • Fritz Povacz: Geschichte der Unfallchirurgie, 2. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg 2007 Digitalisat
  • W. R. Wolfers: Die Marknagelung als Lebenswerk von Gerhard Küntscher 1900-1972. Inauguraldissertation, Kiel 1994

Weblinks


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