Gerechtigkeit als Fairness

Gerechtigkeit als Fairness

John Rawls (* 21. Februar 1921 in Baltimore, Maryland; † 24. November 2002 in Lexington, Massachusetts) war ein amerikanischer Philosoph.

Er arbeitete als Professor für Politische Philosophie an der Harvard University und wurde als Autor von Werken wie A Theory of Justice (1971), mit dem er den egalitären Liberalismus begründete, Political Liberalism und The Law of Peoples berühmt.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Rawls wurde in Baltimore, Maryland, als zweites von fünf Kindern von William Lee Rawls und Anna Abell Stump geboren. Seine ersten schlimmen Erfahrungen machte Rawls bereits in der Kindheit. Zwei seiner Brüder starben innerhalb eines Jahres, nachdem sie sich bei ihm angesteckt hatten. Robert Lee, sein um 19 Monate jüngerer Bruder, starb an den Folgen einer zu spät diagnostizierten Diphtherie und Thomas Hamilton, der jüngste Bruder (geb. 1927) erholte sich nicht von der schweren Lungenentzündung, die John Rawls nach seiner Diphtherieerkrankung entwickelte.

Nach der Schule besuchte er ab 1939 die Princeton University, wo er sich für Philosophie zu interessieren begann. 1943 machte er den Bachelor of Arts und ging zur Armee. Im Zweiten Weltkrieg diente Rawls als Infanterist im Pazifik, wo er auf Neuguinea, den Philippinen und in Japan eingesetzt wurde. Er besuchte Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe. Diese Erfahrung brachte ihn dazu, eine Offizierskarriere, die ihm angeboten wurde, abzulehnen und die Armee im untersten Dienstgrad eines Private 1946 zu verlassen.

Kurz danach promovierte er in Princeton im Fach Moralphilosophie. Rawls heiratete Margaret Fox im Jahre 1949. Margaret und John teilten das Interesse an Stichwortverzeichnissen, die sie gemeinsam während ihrer ersten Ferien für ein Werk von Friedrich Nietzsche erstellten; Rawls verfasste später auch das Stichwortverzeichnis für A Theory of Justice selbst.

Nach dem Doktorat lehrte Rawls in Princeton bis 1952, als er ein Fulbright-Stipendium für das College Christ Church der englischen Oxford University erhielt. Dort geriet er unter den Einfluss der liberalen politischen Theoretiker und des Historikers Isaiah Berlin. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten arbeitete er zunächst als Assistent, später als Professor an der Cornell University, die ihm 1962 eine Philosophieprofessur antrug. Eine weitere Lebensstellung bot ihm das Massachusetts Institute of Technology Anfang der sechziger Jahre an. Rawls aber zog 1962 die Harvard University vor, wo er mehr als dreißig Jahre lehrte. 1995 erlitt er den ersten von mehreren Schlaganfällen, die ihn bei seiner Arbeit stark behinderten. Nichtsdestoweniger schaffte er es, sein letztes Werk, The Law of Peoples abzuschließen, das seine wesentlichen Standpunkte zum Völkerrecht zum Inhalt hat.

Rawls' Beitrag zur politischen und Moralphilosophie

Rawls gilt als wesentlicher Vertreter der liberalen politischen Philosophie. Rawls bestimmt die Rolle der Gerechtigkeit als erste Tugend sozialer Institutionen. Die Aufgabe von Gerechtigkeitsgrundsätzen besteht darin, die Grundstruktur der Gesellschaft festzulegen, d. h. die Zuweisung von Rechten und Pflichten und die Verteilung der Güter. Wie aus Rawls theoretischen Überlegungen ersichtlich wird, ist seine Gerechtigkeitstheorie eine Theorie der Verfahrensgerechtigkeit.

Rawls stellt sich dazu die Frage: Für welche Grundsätze würden sich freie und vernünftige Menschen in einer fairen und gleichen Ausgangssituation in ihrem eigenen Interesse entscheiden?

Die zwei Grundsätze der „Gerechtigkeit als Fairness“

  1. Jeder Mensch soll gleiches Recht auf ein "völlig adäquates" System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
  2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind dann zulässig, wenn sie (a) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die jedermann offen stehen (Prinzip der fairen Chancengleichheit), und wenn sie (b) denjenigen, die am wenigsten begünstigt sind, am meisten zugute kommen (Differenzprinzip).

Elemente des ersten Grundsatzes:

  • politisch-rechtliche Gleichheit
  • Maximierung der individuellen Freiheit

Wesentliche Grundfreiheiten: politische Freiheit (Wahlrecht), Rede- und Versammlungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Person, Recht auf Eigentum

Elemente des zweiten Grundsatzes:

  • Chancengleichheit
  • jedermanns Vorteil: Differenzprinzip (s. u.)

Die beiden Grundsätze stehen nach Rawls in lexikalischer Ordnung. Unter diesem Begriff versteht er eine Ordnung mehrerer Begriffe wie in einem Lexikon bzw. alphabetisch. Für die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze bedeutet dies, dass der erste Grundsatz vor dem zweiten Priorität hat. Dies bezieht sich auch auf die beiden Unterpunkte im 2. Grundsatz. Es ist nicht erlaubt, die Chancengleichheit zu beschneiden, um dem Differenzprinzip mehr Geltung zu verschaffen.

Mit dieser etwas umständlichen Formulierung will Rawls lediglich zeigen, dass der Grundsatz der Freiheit absoluten Vorrang genießt. In Abgrenzung zum von ihm kritisierten Utilitarismus will er mit diesem Konstrukt verhindern, dass es eine Gesellschaft für zulässig erklärt, die zugunsten der Güterverteilung auf Freiheiten verzichtet.

Hieran macht sich auch ein großer Teil der Kritik an Rawls Thesen fest: In der Praxis ist es nicht außergewöhnlich, dass Menschen zugunsten materieller Güter auf Freiheiten verzichten. Zunächst muss ein Mensch die Grundbedingungen dafür erfüllen, überhaupt seine Freiheit als oberstes Prinzip verteidigen zu wollen: Er muss seine Grundbedürfnisse befriedigt sehen. Der Verhungernde wird sich eher zur Sklaverei bereit erklären als seinen sicheren Tod in Kauf nehmen. Auch demokratische Teilhaberechte und damit Freiheiten im Rawlschen Sinne, genießen nicht in jeder Kultur denselben Stellenwert.

Deutung:

  • nicht nur formale Chancengleichheit (gleiche gesetzliche Rechte auf vorteilhafte soziale Positionen), sondern faire Chancen (Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten sollten ähnliche Lebenschancen haben). Dem liegt die Auffassung zu Grunde, dass gesellschaftliche oder natürliche Zufälligkeiten zu unterschiedlichen Möglichkeiten führen, z. B. Ausbildungen, Qualifikationen und damit letztlich Positionen und Ämter zu besetzen. Es muss also ein öffentliches Regelsystem geben, welches auch sicher stellt, dass alle Menschen mit gleichen Begabungen gleiche Aufstiegschancen haben, und zwar - dies ist der entscheidende Zusatz - ungeachtet der anfänglichen Stellung in der Gesellschaft. Als Beispiele könnte man das Bildungssystem anführen: Die formale Chancengleichheit verlangt lediglich, dass alle Leute dasselbe Recht haben, eine Universität zu besuchen; es darf also keine Beschränkung auf Menschen einer bestimmten Hautfarbe oder eines bestimmten Standes geben. Die faire Chancengleichheit akzentuiert dies, indem gefordert wird, dass bspw. ein Stipendienwesen eingeführt wird, das sicherstellt, dass auch Leute studieren können, die zwar begabt sind, aber die Studiengebühren nicht bezahlen können. Da Rawls aber auch in der Verteilung von Begabungen noch eine Zufälligkeit der Natur sieht, die der Einzelne nicht verschuldet oder verdient hat, führt er das Differenzprinzip ein.
  • Differenzprinzip anstelle einer Pareto-Optimalität oder eines Nutzenprinzips des Utilitarismus: Demnach sind gesellschaftliche Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt, wenn und soweit sie auch dem am schlechtesten gestellten Mitglied der Gesellschaft noch zum Vorteil gereichen. Erst durch diese Vorkehrung werden auch die weniger Begabten gewissermaßen gegen Ungerechtigkeiten versichert. Freilich muss man bemerken, dass dies die strenge Auffassung von Rawls widerspiegelt, der eben auch in der Verteilung natürlicher Begabungen unverdiente, nicht selbst verschuldete bzw. nicht verdiente Ungleichheiten erblickt. Für Rawls spricht die intuitive Einsichtigkeit seines Theorems. Denn tatsächlich wird es in unserer Gesellschaft als ungerecht angesehen, wenn jemand wegen eines Mangels an Talenten durch sämtliche soziale Ränge fällt, weil das System entgegen dem Differenzprinzip Ungleichheiten schafft, der sich die Person machtlos ausgeliefert sieht. Extremere Beispiele könnten körperlich und geistig behinderte Menschen betreffen. Hieran wird erkenntlich, dass Rawls Theorie sehr "nahe" an den gesellschaftlichen Umständen ist.

Pareto-Prinzip: ein Zustand ist pareto-optimal, wenn sich die Situation einer Person nicht mehr verbessern kann, ohne dass sich dadurch die Situation einer anderen verschlechtert.

Differenzprinzip: Ungleichheiten sind nur dann gerechtfertigt, wenn sich durch diese die Situation der Schlechtestgestellten nicht verschlechtert, sondern (auch) diesen zum absoluten Vorteil gereichen.

Der Urzustand

Konstruktion einer fairen und gleichen Verhandlungssituation, die die Gerechtigkeitsprinzipien legitimieren soll. In dieser rein theoretischen Situation wird der Gesellschaftsvertrag geschlossen.

Annahmen:

  • Gesellschaft von freien und vernünftigen Personen, die miteinander die Grundstruktur ihrer Gesellschaft, ihre Gerechtigkeitsprinzipien festlegen wollen.
  • Interessenharmonie: Zusammenarbeit ist wünschenswert und möglich
  • Interessenkonflikte: Wie werden die Früchte der Zusammenarbeit verteilt?
  • Rational und auf Erfüllung der eigenen Interessen bedacht, jedoch frei von Neid
  • Der Schleier des Nichtwissens:

Die Personen besitzen nur allgemeines Wissen (um gesellschaftliche Grundgüter, derer jedermann zur Verwirklichung seiner verschiedenen Interessen bedarf, Wissen um gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und psychologische Zusammenhänge, die Fähigkeit, Folgen abzuschätzen usw.), aber kein Wissen über sich selbst, ihre eigene soziale Stellung, ihre Interessen, Kenntnisse, Talente usw.

Verfahren:

  • einstimmige und verpflichtende Wahl aus einer Liste von verbreiteten Gerechtigkeitsvorstellungen, die den formalen Prinzipien der Allgemeinheit, Unbeschränktheit, Öffentlichkeit, Rangordnung und Endgültigkeit genügen

Warum würden sich die Menschen im Urzustand für die beiden Gerechtigkeitsprinzipien entscheiden?

  • Sicherung des Grundgutes der Freiheit für alle durch das erste Prinzip
  • Vorgehen nach der Maximin-Regel: Sicherstellung der Annehmbarkeit der schlechtmöglichsten Position
  • allgemeine Anerkennung, da jeder Vorteile daraus zieht. Dadurch auch Stabilität des Systems
  • fördert die Selbstachtung, da jeder Mensch als Selbstzweck und nicht als Mittel gesehen wird (im Gegensatz zum Utilitarismus)

Der Gerechtigkeitssinn

Bedingung der Stabilität einer Gerechtigkeitsvorstellung:

  • Wenn die Grundstruktur und die Institutionen einer Gesellschaft gerecht sind, erwerben ihre Mitglieder den Gerechtigkeitssinn, d. h. den Wunsch, gerecht zu handeln und sie zu erhalten.
  • Entwicklung des Gerechtigkeitssinns über soziales, moralisches Lernen, Gefühle der Freundschaft, des Vertrauens und der Schuld => Gerechtigkeitssinn als elementarer Bestandteil der Menschlichkeit.

Schriften

Bücher

  • Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp, ISBN 3518278711
  • Politischer Liberalismus, Suhrkamp, Frankfurt 1998. ISBN 3518292420 [Rezension: Rainer Forst in Die Zeit, 7.5.1998]
  • Geschichte der Moralphilosophie, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002. ISBN 3518293265 [Rezension: Wolfgang Kersting in FAZ, 5.11.2002]
  • The Law of Peoples, Harvard University Press, ISBN 0674005422
  • Das Recht der Völker, Walter de Gruyter, Berlin 2002. ISBN 978-3-11-016935-5 [Rezension: Detlef Horster in SZ, 3.1.2003]
  • Gerechtigkeit als Fairness, Suhrkamp, ISBN 978-3-518-58366-1 [Rezension: Otfried Höffe in FAZ, 23.5.2003]

Aufsätze

Literatur

  • Wolfgang Kersting: John Rawls zur Einführung, Hamburg: Junius, 2001 (Neufassung, erste Ausgabe 1993), ISBN 3885063433
  • Ralf Heimann: John Rawls – Gerechtigkeit als Fairness. In: ECOCHRON.
  • Thomas W. Pogge: John Rawls, Beck, München 1994.
  • Samuel Freeman (Hg.): The Cambridge Companion to John Rawls, Cambridge 2003. ISBN 0521657067 (Paperback), ISBN 0521651670 (Hardback)
  • Andreas Bock: Rawls' "Recht der Völker" – Menschenrechtsminimalismus statt globaler Gerechtigkeit?, München 2008, ISBN 978-3-8316-0746-4

Nachrufe

  • Rainer Forst: Gerechtigkeit als Fairness. Neubegründer der politischen Philosophie: John Rawls ist im Alter von 81 Jahren gestorben. In: FR, 27.11.2002.
  • Thomas W. Pogge: Zauber des grünen Buchs. Nachruf auf John Rawls. In: Die Zeit Nr. 49, 2002.
  • Hauke Brunkhorst: Gleich wie Geschwister. Nachruf auf John Rawls. In: Die Zeit Nr. 49, 2002.
  • Wilfried Hinsch: Realistische Utopie des Liberalismus. Zum Tod des Philosophen John Rawls. In: NZZ, 26.11.2002.
  • Clemens Sedmak: Realistischer Utopist. John Rawls, Philosoph und Menschenfreund, starb 81-jährig in Boston. Seine „Theorie der Gerechtigkeit“ zählt zu den meistdiskutierten Beiträgen für eine politische Ethik der modernen Gesellschaft. In: Die Furche Nr. 49, 2002.

Weblinks


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