Genozid

Genozid

Der Völkermord oder Genozid ist ein Straftatbestand, der im Völkerstrafrecht entstanden ist, mittlerweile aber auch in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen ausdrücklich verankert ist.

Inhaltsverzeichnis

UN-Konvention gegen Völkermord

Am 9. Dezember 1948 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Resolution 260 die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes(Convention pour la prévention et la répression du crime de génocide, Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide), die am 12. Januar 1951 in Kraft trat. Die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte die Konvention im Februar 1955, Österreich hinterlegte die Beitrittsurkunde am 19. März 1958 und die Schweiz am 7. September 2000. Nach der Konvention ist Völkermord ein Verbrechen gemäß internationalem Recht, „das von der zivilisierten Welt verurteilt wird“.

Grundlage war die Resolution 180 der UN-Vollversammlung vom 21. November 1947, in der festgestellt wurde, dass „Völkermord ein internationales Verbrechen [ist], das nationale und internationale Verantwortung von Menschen und Staaten erfordert“, um der völkerrechtlichen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu gedenken.

Die Konvention definiert Völkermord in Artikel II als „eine der folgenden Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“:

a) das Töten von Angehörigen der Gruppe
b) das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe
c) die absichtliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen
d) die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung
e) die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe

Im deutschen Völkerstrafgesetzbuch[1] wie auch im schweizerischen Strafgesetzbuch[2] ist die Tat entsprechend der Konvention definiert.

Diese Definition kann als mehr oder weniger allgemeingültig bezeichnet werden, denn der Völkermord ist dasjenige völkerstrafrechtliche Verbrechen mit der schärfsten und anerkanntesten Definition: Alle maßgeblichen Normierungen stimmen im Wesentlichen mit der Definition von Artikel II der Völkermordkonvention der UN (s. u.) überein. Andere völkerstrafrechtliche Tatbestände dagegen, insbesondere das Verbrechen des Angriffskrieges (Aggression), sind nicht allgemein anerkannt, weder im Völkerrecht noch von maßgeblichen Staaten.

Die praktische Bedeutung der Konvention war bis zu den Jugoslawienkriegen sehr gering. Bis dahin gab es nur sehr wenige Anklagen wegen Völkermords. Die erste Verurteilung durch ein internationales Gericht auf der Basis der Konvention erfolgte im September 1998 durch das Akayesu-Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda.

Kennzeichnende Merkmale der Straftatbestände

Zu beachten ist, dass nur die Absicht zur Vernichtung der Gruppe erforderlich ist, nicht aber auch die vollständige Ausführung der Absicht. Es muss eine über den Tatvorsatz hinausgehende Absicht vorliegen, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Die Handlungen nach Artikel II Buchstaben a) bis e) der Konvention (in Deutschland umgesetzt durch § 6 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 VStGB) hingegen müssen tatsächlich (und willentlich) begangen werden. Dies bedeutet insbesondere, dass es nicht vieler Opfer bedarf, damit die Täter sich des Völkermordes schuldig machen. Bloß ihre Vernichtungsabsicht muss sich auf die ganze Gruppe oder einen maßgeblichen Teil von ihr richten. Die Täter erfüllen den Straftatbestand beispielsweise, wenn sie – in dieser besonderen Absicht – einzelnen Gruppenmitgliedern ernsthafte körperliche oder geistige Schäden zufügen oder den Fortbestand der Gruppe verhindern wollen, etwa durch Zwangskastration. Eine Anklage wegen Völkermord bedarf daher nicht der Ermordung auch nur eines Menschen.

Umgekehrt gilt auch: Handlungen nach Artikel II Buchstaben a) bis e) der Konvention sind kein Völkermord, wenn ihr Ziel nicht darin besteht, eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, egal wieviele Mitglieder getötet oder sonstwie beeinträchtigt werden. Solche Maßnahmen sind ebenfalls kein Völkermord, wenn ihr Ziel darin besteht, eine Gruppe auszurotten, die nicht durch nationale, ethnische, rassische oder religiöse Eigenschaften definiert ist.

Ob in jedem Fall, wo Einzelne sich des Völkermordes schuldig machen, der Rahmen des Geschehens pauschal als „Völkermord“ bezeichnet werden sollte, ist eine andere Frage. Denn es ist für die Strafbarkeit Einzelner nicht erforderlich, dass sie ihre Taten im Rahmen eines breit angelegten oder systematischen Angriffs auf die Opfergruppe begehen (im Gegensatz etwa zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit).

Strafverfolgung

Artikel 6 der Konvention geht grundsätzlich vom Territorialitätsprinzip aus, wonach Völkermord vor den Gerichten in den Ländern verfolgt wird, in denen die Tat begangen worden ist. Darüber ist die Zuständigkeit von Internationalen Gerichtshöfen vorgesehen, soweit die Vertragsstaaten sich dieser Gerichtsbarkeit unterworfen haben.

In Deutschland ist der Straftatbestand des Völkermordes in § 6 VStGB (Völkerstrafgesetzbuch) niedergelegt. Gemäß § 1 VStGB gilt für Völkermord das Weltrechtsprinzip, d.h. Taten können auch dann in Deutschland verfolgt werden, wenn sie weder in Deutschland begangen sind noch ein Deutscher beteiligt ist.

Auch nach Schweizer Strafgesetzbuch gilt das Weltrechtsprinzip. Auch schützt eine diplomatische Immunität nicht vor einer Verurteilung.

Erste Verwendung des Begriffs

Der Begriff Völkermord taucht zum ersten Mal bei dem deutschen Lyriker August Graf von Platen (1796-1835) in seinen „Polenliedern“ auf, und zwar in der 1831 entstandenen Ode „Der künftige Held“. Er wendet sich gegen die Auflösung des polnischen Staates, den Österreich, Preußen und Russland sich untereinander aufgeteilt haben, und wirbt mit anderen westdeutschen Demokraten, die beim „Hambacher Fest“ 1832 die polnische Nationalfahne neben der deutschen aufgezogen haben, für das Wiedererstehen des polnischen Staates. Im Besonderen geißelt er die Unterdrückungspolitik Russlands, indem er nach der Bestrafung der „Dschingiskhane“ ruft, „Die nur des Mords noch pflegen, und nicht der Schlacht,/ Des Völkermords![3] Für den liberalen ostpreußischen Abgeordneten Carl Friedrich Wilhelm Jordan ist er in Bezug auf die Polen so geläufig, dass er ihn in der Frankfurter Paulskirche am 24. Juli 1848 bei der Diskussion der Polenfrage verwendet, und zwar steigert er ihn noch:

„Der letzte Act dieser Eroberung, die viel verschrieene Theilung Polens, war nicht, wie man sie genannt hat, ein Völkermord, sondern weiter nichts als die Proclamation eines bereits erfolgten Todes, nichts als die Bestattung einer längst in der Auflösung begriffenen Leiche, die nicht mehr geduldet werden durfte unter den Lebendigen.“[4]

Der Historiker Heinrich von Treitschke äußert sich in "Politik. Vorlesungen, 1897-1898" zum Untergang der Pruzzen als Urbevölkerung Preußens und sagt:

„Es war ein Völkermord, das lässt sich nicht leugnen; aber nachdem die Vernichtung vollendet war, ist er ein Segen geworden. Was hätten die Preußen [gemeint sind die Pruzzen] in der Geschichte leisten können? Die Überlegenheit über die Preußen war so groß, daß es ein Glück für diese wie für die Wenden war, wenn sie germanisiert wurden.“[5]

Als der polnische Anwalt Raphael Lemkin (1900–1959) den Begriff Genozid – von griech.: γένος, génos, = eigentlich Herkunft, Abstammung, Geschlecht, im weiteren Sinne auch das Volk + lat.: caedere = morden, metzeln als Übersetzung von ludobójstwo von polnisch lud = Volk und zabóstwjo = Mord – 1943 für einen Gesetzesentwurf für die polnische Exilregierung zur Bestrafung der deutschen Verbrechen in Polen verwendet, hat dieser bereits eine durch die imperialistische Diskussion des 19. Jahrhunderts geprägte Geschichte. 1944 übertrug er den Ausdruck ins Englische als genocide.

Völkermorde in der Geschichte der Menschheit

Fälle von eindeutigem Völkermord

Fälle, die häufig auch als Völkermord bezeichnet wurden

Literatur

  • Richard Albrecht: Die politische Ideologie des objektiven Gegners und die ideologische Politik des Völkermords im 20. Jahrhundert: Prolegomena zu einer politischen Soziologie des Genozid nach Hannah Arendt; in: Sociologia Internationalis, 27 (1989) I, 57–88
  • ders.: Genozidpolitik im 20. Jahrhundert. Aachen: Shaker [= Allgemeine Rechtswissenschaft], 3 Bände;
    • Bd. 1: Völkermord(en) 2006, ii/184 p., ISBN 978-3-8322-5055-3;
    • Bd. 2: Armenozid 2007, ii/114 p., ISBN 978-3-8322-5738-5;
    • Bd. 3: Hitlergeheimrede 22. August 1939, 104 p., ISBN 978-3-8322-6695-0
  • ders., Murder(ing) People. Genocidal Policy within 20th Century: [1]
  • Boris Barth: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen. Beck, München 2006, (Beck'sche Reihe, Bd. 1672), ISBN 3-406-52865-1
  • Bernard Bruneteau: Le Siècle des génocides. Armand Colin, 2004
  • Mihran Dabag, Kristin Platt: Genozid und Moderne. Leske+Budrich, Opladen 1998, ISBN 3-8100-1822-8
  • Irving L. Horowitz, Taking Lives. Genocide and State Power. News Brunswick (N.J.)-London: Transaction Books, 1980, xvi/199 p.; 5th, revised ed. (Foreword Anselm L. Strauss), 2002, ivx/447 p., ISBN 0-7658-0094-2
  • ders., Genocide and the Reconstruction of Social Theory: Observations on the Exclusivity of Collective Death; in: The Armenian Review, 1.1984, 1–21
  • ders., Government Responsibilities to Jews and Armenians: Nazi Holocaust and Turkish Genocide Reconsidered; in: The Armenian Review, 1.1986, 1–9
  • ders., Counting Bodies: the Dismal Science of Authorized Terror; in: Patterns of Precudice, 2.1989, 4–15; deutsch in: ders., Soziale Ideologien und politische Systeme. Ffm. etc.: Ontos, 2005, 93–112; ISBN 3-937202-89-7
  • ders., Gauging Genocide; in: ders., Once More unto the Breach, Dear Friends. Incomplete Theory & Complete Bibliography […], comp. by Andrew McIntosh, Patrick Ivins, and Deborah A. Berger; New Brunswick-London: Aldine Transaction Books, 2005, 62–77; ISBN 0-7658-0274-0
  • Raphael Lemkin: Axis Rule in Occupied Europe; foreword George A. Finch. Washington (D.C.): Carnegy Endowment for International Peace Division of International Law, 1944; foreword George A. Finch, xxxviii/674 p.; reprinted by The Lawbook Exchange (2005), with a new introduction by Samantha Power; ISBN 1-58477-576-9.
  • Frank Selbmann: Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2002, ISBN 3936522332
  • William A. Schabas: Genozid im Völkerrecht. HIS Edition, aus dem Englischen von Holger Fliessbach, 2003, ISBN 3-930908-88-3
  • Dominik J. Schaller/Rupen Boyadjian/Vivianne Berg/Hanno Scholtz (Hrsg.): Enteignet, vertrieben, ermordet. Beiträge zur Genozidforschung. Chronos, Zürich 2004, ISBN 3-0340-0642-X
  • Jacques Sémelin: Purifier et détruire. Usages politiques des massacres et génocides. Seuil, Paris 2005; deutsche Ausgabe: Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden. Hamburger Edition, 2007
  • Yves Ternon: Les Arméniens, Histoire d'un génocide. Seuil, 1977, 1996
  • Yves Ternon: Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert Hamburger Edition, Hamburg 1996 ISBN 3-930908-27-1
  • Yves Ternon: Du négationnisme. Mémoire et tabou. Desclée de Brouwer, 1998
  • Yves Ternon: L'État criminel. Seuil, 1995
  • Yves Ternon: L'Innocence des victimes. Regard sur les génocides du XXe siècle. Desclée de Brouwer, 2001

Weblinks

Einzelnachweise

  1. § 6 VStGB
  2. Art. 264 StGB
  3. Geflügelte Worte, hrsg. von Kurt Böttcher, Karl Heinz Berger, Kurt Krolop, Christa Zimmermann, 4., durchgesehene Auflage, Leipzig 1985, S. 466.
  4. Zitiert bei Michael Imhof, Polen 1772 bis 1945, S. 183. In: Wochenschau Nr. 5, Sept./Okt. 1996, Frankfurt a.M., S. 177-193.
  5. Zitiert bei Wolfgang Wippermann, Der ‚Deutsche Drang nach Osten‘. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981, S. 93.

Siehe auch

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