Gemeinwirtschaftlichkeit

Gemeinwirtschaftlichkeit

Gemeinwirtschaft bezeichnet im allgemeinen die Gesamtheit aller Wirtschaftsformen, bei denen nicht das private Gewinnstreben, sondern das Wohl einer übergeordneten Gesamtheit (Gemeinwohl) im Vordergrund steht. Teilweise werden darunter auch alle Betriebe in öffentlicher Hand verstanden. Im speziellen wird mit Gemeinwirtschaft in Deutschland und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg das Geflecht an gewerkschaftlichen Unternehmen verstanden, die in den 80er Jahren (in Österreich teilweise später) spektakulär scheiterten.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Schon in vorgeschichtlichen Zeiten wurden lebensnotwendige Güter, vor allem das Trinkwasser, gemeinschaftlich betreut und genutzt. Auch das gemeinsame Jagen und Fischen, sowie die gerechte Verteilung der Beute gelten als frühe Ausprägungen der Gemeinwirtschaft. Mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft wurde das Münzwesen zu einem bestimmenden Faktor, der gemeinwirtschaftlich geregelt wurde.

Die Gründung von Städten erhöhte den Bedarf an gemeinwirtschaftlichen Einrichtungen. Neben der Wasser- und Lebensmittelversorgung (Märkte und Lagerräume) mussten auch öffentliche Bauvorhaben umgesetzt werden. Bald entstanden auch staatliche Monopole, wie das Salzregal.

Im 19. Jahrhundert führten die negativen Erfahrungen mit privaten Anbietern zu Verstaatlichungen bzw. Kommunalisierungen von Infrastruktureinrichtungen wie Post, Eisenbahn, Telefon, Elektrizitäts- und Gaswerken. Das Genossenschaftswesen erlebte einen Aufschwung.

Im 20. Jahrhundert wurden, im Zuge der sozialistischen Idee, immer mehr produzierende Betriebe, aber auch Banken und Verlage verstaatlicht bzw. von öffentlicher Hand gegründet. „Richtige Staatswirtschaft ist die beste Hilfe für die wahre Privatwirtschaft“ (Karl Renner). Gegen Ende dieses Jahrhunderts kam es im Zuge der neoliberalen Wirtschaftspolitik jedoch zu einer Trendumkehr. Vermehrt werden nun staatliche Betriebe privatisíert, „Mehr privat, weniger Staat!“ lautet das momentane Motto. Gegen diese Bestrebungen mehren sich allerdings Proteste, da selbst Einrichtungen zur Sicherung der Grundbedürfnisse, beispielsweise die Wasserversorgung, möglicherweise verkauft werden könnten.

Gemeinwirtschaftsunternehmen

Die deutschen Gewerkschaften gründen seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Unternehmen in verschiedenen Branchen (z. B. die Bank der Deutschen Arbeit). Dies diente verschiedenen Zwecken. Zum einen diente es der Anlage des Gewerkschaftsvermögens. Es diente aber auch dazu, die Infrastruktur der Gewerkschaften als Vertriebskanal zu nutzen. Im Gegenzug konnten die Gewerkschaften ihren Mitgliedern auch vergünstigte Angebote zukommen lassen, was als Argument der Mitgliederwerbung diente. Vor allem aber stellten sich diese Unternehmen in den Dienst der Ideologie der Gemeinwirtschaft: Es sollte gezeigt werden, dass Unternehmen auch ohne Gewinnorientierung am Markt bestehen und Produkte und Dienstleistungen besser und billiger anbieten könnten.

Die Nationalsozialisten griffen diese Idee auf und stellten sie in den Dienst ihrer Sache. Die Gewerkschaften wurden gleichgeschaltet, die Gewerkschaftsunternehmen in die Naziorganisationen (z.B. Kraft durch Freude, Deutsche Arbeitsfront) eingegliedert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten die Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland ihr Vermögen zurück und die Möglichkeit, sich wirtschaftlich zu betätigen. In der Folge entstanden die großen Unternehmen der Gemeinwirtschaft:

Diese entwickelten sich in den Jahren des Wirtschaftswunders und bis zum Ende der 70er Jahre entsprechend der allgemeinen Wirtschaft positiv. Dazu trugen vor allem zwei Faktoren bei. Zum einen genossen die Unternehmen der Gemeinwirtschaft einen guten Ruf. Sie wurden mit Attributen wie "preiswert", "am kleinen Mann orientiert" und "gemeinnützlich" verbunden. Neben dem Eigentümer (den Gewerkschaften) war es vor allem eben das Bekenntnis zu Gemeinwirtschaft, dass dieses Image bewirkte.

Zum anderen diente der Gewerkschaftsapparat als Vertriebsschiene. Hunderttausende von Betriebsräten und Vertrauensleuten der Gewerkschaften stellten den Kontakt zu den potentiellen Kunden her. Kunden, die zwar nicht zu den kaufkraftstärksten gehörten, dafür aber den Gemeinwirtschaftsunternehmen in hohem Maße treu waren.

In den 80er Jahren kamen die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen in existenzbedrohliche Krisen. Der Skandal um die "Neue Heimat" brachte die Gemeinwirtschaftsunternehmen bundesweit in die Schlagzeilen. Das gewerkschaftliche Vermögen in dieser Wohnungsbaugesellschaft war vernichtet. Selbst der Verkauf gegen eine symbolische DM, um weitere Schäden von den Gewerkschaften abzuwehren, scheiterte. Weniger spektakulär, aber weitaus kostspieliger war der beinahe-Konkurs der BfG. Risikoreiche Kreditgeschäfte führten Mitte / Ende der 80er Jahre zu Abschreibungen in Milliardenhöhe. Über einen Verkauf an die Aachen-Münchener Versicherung und später den Credit Lyonais konnte das Unternehmen gerettet werden. Jedoch musste der Kaufpreis des CL in Höhe von 1,5 Milliarden Euro zum Ausgleich der aufgelaufenen Verluste verwendet werden. Nicht überlebt hat die co op AG. 1989 wurde sie nach einem Vergleich mit den Gläubigerbanken zerschlagen und verkauft.

Die Gewerkschaften verabschiedeten sich daraufhin von der Idee der Gemeinwirtschaft. Die verbleibenden Beteiligungen der Gewerkschaften wurden seither als reine Finanzinvestitionen betrachtet.

IFIG/CIRIEC

1947 gründete Edgar Milhaud in Genf das Internationale Forschungs- und Informationszentrum für Gemeinwesen (Centre international de recherches et d'information sur l'économie collective). 1957 wurde das Hauptquartier nach Lüttich verschoben. Nach dem Tod von Professor Milhaud im Jahre 1964 wurden Paul Lambert, 1977 Guy Quaden und seit 1990 Bernard Thiry Präsident des CIRIEC.

CIRIEC ist Herausgeber der Zeitschrift Annalen der Gemeinwirtschaft, die in deutscher, englischer und französischer Sprache erscheint. Alle zwei Jahre findet ein internationaler Kongress der Gemeinwirtschaft statt.

Siehe auch

Weblinks


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