Gemeinschaftsbewegung

Gemeinschaftsbewegung

Die Gemeinschaftsbewegung ist eine pietistische Aufbruchsbewegung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Reihe evangelischer Landeskirchen in Deutschland und in der Schweiz erfasste. An vielen Orten führte dieser Aufbruch zur Entstehung von Gemeinschaftskreisen (Landeskirchliche Gemeinschaft), die heute in und neben den traditionellen Kirchen ein eigenständiges Gemeindeleben entwickelt haben.[1] Mittlerweile haben sich noch andere Gemeinschaften und nationale und internationale Organisationen dieser Bewegung angeschlossen, was den reinen kirchlichen Bezug aufweicht.

Inhaltsverzeichnis

Ursprünge

Nach ihrem Selbstverständnis wurzelt die Gemeinschaftsbewegung vor allem in der lutherischen Reformation. Auf Martin Luthers Vision einer "ecclesiola in ecclesia", einer kleinen, aber geistlich engagierten Gemeinschaft innerhalb der Landeskirche, wird immer wieder in den Geschichtsbüchern der Gemeinschaftsbewegung hingewiesen. Eine weitere Wurzel ist der Pietismus. Zur Gemeinschaftsbewegung gehören sowohl altpietistische Gemeinschaften, die vor allem in Baden-Württemberg beheimatet sind, als auch "neupietistische" Gruppen, die ihre entscheidenden Impulse aus der Erweckungsbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts empfingen. Besonders zu nennen ist hier der Methodismus sowie die amerikanische Heiligungsbewegung. Als Erbin dieser verschiedenen Strömungen entwickelte die Gemeinschaftsbewegung ein alternatives Gemeindemodell, das auch Entkirchlichte sowie soziale Randgruppen anzog.

Geschichte

Die Geschichte der Gemeinschaftsbewegung weist eine Fülle von Keimzellen auf: Fast zeitgleich entstanden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts überall in Deutschland neupietistische Kreise, die sich anfangs zu "Provinzialen Brüderräten" und - nach einem vorläufigen Zusammenschluss von 1894 - sich 1897 zum "Deutschen Komitee für evangelische Gemeinschaftspflege und Evangelisation", dem so genannten Gnadauer Verband zusammenschlossen. Mitgliedsvereine dieses nationalen Dachverbandes waren unter anderen:

Diesem Aufbruch folgte die Gründung zahlreicher Einrichtungen der Gemeinschaftsbewegung: Diakonissenhäuser, Predigerseminare und die Deutsche Zeltmission. Zur herrschenden liberalen Theologie des Rationalismus stand sie in schroffem Gegensatz, ordnete sich aber viele Jahrzehnte ihrer Geschichte dem pastoralen Amt und den kirchlichen Strukturen unter. Erst in der Gegenwart lässt sich beobachten, dass die Gemeinden der Bewegung mehr und mehr eigenständige, manchmal auch freikirchliche Strukturen entwickeln.

Die Gemeinschaftsbewegung verantwortet mit der Berliner Erklärung (Religion) von 1909 ein historisches Dokument, das zu jahrzehntelangen Zerwürfnissen der betroffenen Denominationen in Deutschland führte.

In der Schweiz entstanden in Basel die Bewegung Frommes Basel mit der Basler Mission und der Pilgermission St. Chrischona und in Genf der Réveil aus dem sich in Genf, Bern und Zürich grössere Evangelische Gesellschaften entwickelten, wie z.B. die Evangelische Gesellschaft der Berner Kantonalkirche.[2]


Persönlichkeiten

Lehre

Bei aller Vielgestaltigkeit der Gemeinschaftsbewegung lassen sich folgende gemeinsame Lehranschauungen benennen:

  • Die Verkündigung des Evangeliums erfordert den Aufruf zur Entscheidung und Bekehrung vom Unglauben zum Glauben an Jesus Christus. Wo dieser Aufruf nicht (mehr) erfolgt, verliert die Kirche ihre "Salzkraft".
  • "Werk" des Menschen ist die Entscheidung und der Wille zur Umkehr, die eigentliche Neuwerdung des Menschen (Wiedergeburt, Geburt von oben, vergleiche Johannes-Evangelium Kapitel 3) wirkt der Heilige Geist. Durch diese Neuwerdung wird der Mensch zum Kind Gottes und den anderen Kindern Gottes zum Bruder beziehungsweise zur Schwester. Dass eine Wiedergeburt durch einen sakramentalen Akt (Taufe, Konfirmation) geschieht, lehnt die Gemeinschaftsbewegung ab.
  • Wesentliches Kennzeichen eines "wiedergeborenen" Menschen ist sein persönlicher und gemeinschaftlicher Umgang mit Gott. Das private und öffentliche Gebet (die so genannte "Gebetsgemeinschaft") spielt innerhalb der Gemeinschaftsbewegung eine besondere Rolle, ebenfalls die intensive Beschäftigung mit der Bibel.
  • Einer Bekehrung und Wiedergeburt hat der Bruch mit der Vergangenheit zu folgen. "Neue Menschen" leben in der Heiligung, das heißt in der Nachfolge Jesu und im Gehorsam des Glaubens.
  • Predigt, Gestaltung der Zusammenkünfte, Seelsorge und Evangelisation sind Aufgaben aller Christen.
  • Die Bibel und die reformatorischen Bekenntnisse sind - abgesehen von konfessionellen Engführungen - Maßstab für Lehre, Dienst und Leben der Gemeinschaftsbewegung.

Einrichtungen und Werke innerhalb der Gemeinschaftsbewegung

Gemeinschaftsverbände

Jugendverbände

  • Christlicher Jugendbund in Bayern (cjb)
  • Deutscher Jugendverband EC "Entschieden für Christus"
  • Jugendarbeit des Altpietistischen Gemeinschaftsverbandes,
  • Jugendarbeit des Württembergisches Brüderbundes,
  • Jugenddienst des Gemeinschaftswerkes Berlin-Brandenburg,
  • Gemeinschaftsjugend Pfalz (Ev. Gemeinschaftsverband Pfalz),
  • Jugendwerk des Blauen Kreuzes in Deutschland

Theologische Ausbildungsstätten

Missionsgesellschaften

Diakonissen-Mutterhäuser

  • Diakonissen-Mutterhaus Aidlingen
  • Diakonissen-Mutterhaus Augsburg
  • Diakonissen-Mutterhaus Neuendettelsau
  • Diakonissen-Mutterhaus St. Chrischona
  • Diakonissen-Mutterhaus "Kinderheil" (in Bad Harzburg)
  • Diakonissen-Mutterhaus "Lobetal"
  • Diakonie-Gemeinschaft Puschendorf
  • Diakonissen-Mutterhaus Salem-Lichtenrade
  • Diakonissenhaus St. Michael
  • Sächsisches Gemeinschafts-Diakonissenhaus "Zion" in Rathen und Aue
  • Schwesternschaft der Liebenzeller Mission

Zusammengeschlossen im Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverband (DGD):

  • Diakonissen-Mutterhaus "Altvandsburg"
  • Diakonissen-Mutterhaus Bleibergquelle
  • Diakonissen-Mutterhaus "Hebron"
  • Gemeinschafts-Diakonissen-Mutterhaus Hensoltshöhe
  • Diakonissen-Mutterhaus Lachen
  • Diakonissen-Mutterhaus "Neuvandsburg"
  • Zendings-Diaconessenhuis, Niederlande
  • Diakonieverband Ländli, Schweiz
  • Fellowship Deaconry, USA
  • Irmandade Evangelica Betania, Brasilien
  • Fellowship Deaconry Motherhouse Bethel, Japan
  • Communaute des Diaconesses, Ruanda

Werke mit besonderer Aufgabenstellung

Einzelnachweise

  1. Joachim Cochlovius: Gemeinschaftsbewegung, in: Gerhard Krause, Gerhard Müller (Hgg.): Theologische Realenzyklopädie, Band 12 (1984), S. 355–368, hier S. 355.
  2. HLS: Evangelische Gemeinschaften

Siehe auch

Literatur

Grundlegende Literatur

  • Joachim Cochlovius: Gemeinschaftsbewegung. In: Theologische Realenzyklopädie 12 (1984), S. 355–368 (ausführliche Literaturangaben)
  • Charles H. Lippy: Gemeinschaftsbewegung. In: RGG 4. Aufl. Bd. 3 (2000), Sp. 645–652 (mit weiterführender Lit.)
  • Jörg Ohlemacher: Gemeinschaftschristentum in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Bd.3, Göttingen 2000, S.393–464
  • Evangelisches Gemeindelexikon / hrsg. von Erich Geldbach ... Wuppertal, 1978. 577 S.
  • Taschenlexikon Religion und Theologie, Band 2, Göttingen 1983, S. 155ff.
  • Gemeinschafts(bewegung) in Klöcker/Tworuschka: Handbuch der Religionen, II, 2.1.9

Speziellere Literatur

  • Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Zur Haltung einiger führender Männer der Landeskirchlichen Gemeinschaft 1933/34. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte. 43. 1974, S. 445–450 [Exemplarischer Beitrag zur Haltung der Gemeinschaftsbewegung zum Nationalsozialismus]
  • Dieter Lange: Eine Bewegung bricht sich Bahn. Die deutschen Gemeinschaften im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und ihre Stellung zu Kirche, Theologie und Pfingstbewegung. Berlin 2. Aufl. 1981.
  • Jörg Ohlemacher: Das Reich Gottes in Deutschland bauen. Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie der deutschen Gemeinschaftsbewegung. AGP 23, Göttingen 1986.

Weblinks


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