Geisteswissenschaftliche Pädagogik

Geisteswissenschaftliche Pädagogik

Als Geisteswissenschaftliche Pädagogik wird die theoretische Richtung der Pädagogik bezeichnet, die Erziehung und Bildung als geistig-kulturelles und geschichtliches Phänomen ansieht und zu verstehen versucht. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik war von etwa 1920 bis zum Nationalsozialismus und später bis in die 1960er Jahre die führende theoretische Ausrichtung der Pädagogik in Deutschland. Auch das heute in der sozialen Arbeit führende Konzept der Lebensweltorientierung bezieht sich in seiner Betonung der Bedeutung des Alltags für die Klienten auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik.

Wesentliche Elemente dieser pädagogischen Theorie sind die hermeneutische Methode sowie das Verständnis von Pädagogik als pragmatische Wissenschaft. Wichtigster gemeinsamer Bezugspunkt der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist die Philosophie Wilhelm Diltheys (1833–1911), der den Begriff der „Geisteswissenschaft“ prägte.

Die Hauptthesen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sind:

  1. Der Ausgangspunkt für die pädagogische Theorie ist die Erziehungswirklichkeit, das heißt, dass der pädagogischen Theorie konkrete pädagogische Situationen der Praxis zu Grunde liegen. Ausgangspunkt sind demnach nicht theoretische Normen, die dem pädagogischen Handeln vorgegeben werden.
  2. Die Erziehungswirklichkeit besitzt eine bestimmte Bedeutung für die betroffenen Personen, sie handeln auf der Basis dieser Wirklichkeit. Die Aufgabe der Pädagogik ist es, die Bedeutung der Erziehungswirklichkeit zu erfassen, also die Bedeutung der Situation zu verstehen, die sie für den Zögling hat. Der Weg ist die Hermeneutik - analog zum Literaturwissenschaftler, der einen Text verstehen will.
  3. Die Erziehungswirklichkeit ist das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung, man kann die Bedeutung einer Erziehungssituation nur verstehen, wenn man die komplexe Geschichte des Zöglings und seines Umfelds mit einbezieht (Geschichtlichkeit).
  4. Aus der historischen Betrachtung der Erziehungswirklichkeit werden Entwicklungsmöglichkeiten und Bildungsideale deutlich, das bedeutet, dass aus der bisherigen Entwicklung kommende Aufgaben, Orientierungen und Möglichkeiten für die Umwelt und für den Zögling entstehen.

Verständnis für die Situation und die Handlungen des Zöglings kann nur mit Blick auf dessen Werte und Ideale sowie sein gesellschaftliches, kulturelles und historisches Umfeld erreicht werden. Daraus ergeben sich dann Möglichkeiten für seine Zukunft und die Zukunft seiner Umgebung. Verstehen ist ein empathisches Hineinversetzen, wobei das Einzelne immer als Teil des Ganzen und das Ganze wiederum mit all seinen Einzelheiten gesehen werden muss. Der Prozess beinhaltet also eine gegenseitige Beeinflussung und Reflexion von Subjekt und Objekt. Da das Ganze seinerseits wieder Teil eines größeren Sinnzusammenhangs ist, wiederholt sich der Vorgang. Das Verstehen wird also immer weiter verstärkt, indem dieser Kreislauf mehrmals durchlaufen wird, da es so immer wieder zu Vertiefungen und Erweiterungen des ersten Verständnisses kommt. Im Zuge der hermeneutischen Zirkelbewegung verringert sich zusehends die Distanz zwischen dem Erzieher und dem Zögling.

Diese Methode ist ein hermeneutischer Zirkel. Die Hermeneutik beruht auf der Lehre der Interpretation von Texten und anderen Kulturäußerungen. Als weitere Methoden wissenschaftlicher Forschung in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sind die Beobachtung der konkreten Erziehungssituation, der Rückgriff auf eigene Erfahrungen und der Rückgriff auf Erfahrungen in Bezug auf das Umfeld zu nennen.

Wichtigste Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik waren Herman Nohl, Theodor Litt, Eduard Spranger, Wilhelm Flitner und Erich Weniger. Teilweise waren sie in der Weimarer Republik an in der Jugendbewegung und an der Gründung der Pädagogischen Akademien engagiert gewesen und verloren daher ihre Stellungen, als die Nationalsozialisten die Lehrerbildung auf rassistische Normen umorientierten. Diese Gegnerschaft ermöglichte wiederum nach 1945 die führende Stellung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, obwohl einige Vertreter wie Theodor Wilhelm starke Affinität zum Nationalsozialismus gezeigt hatten. Eine Folge war die fehlende empirische Analytik der deutschen Pädagogik in der Nachkriegszeit und ihr "dunkel-geschwollener" philosophischer Gestus. Ein Vorwurf richtet sich heute an die fehlende Aufarbeitung der nationalsozialistischen Pädagogik und ihrer eigenen Rolle darin. Auch ist das Problem des normativen Relativismus von der pädagogischen Dilthey-Schule nicht gelöst worden.

Ihre Bedeutung verlor die geisteswissenschaftliche Pädagogik weitgehend durch die von Heinrich Roth propagierte "realistische Wendung" der 1960er Jahre, die im Zeichen von Empirieorientierung und Ideologiekritik stand. Pädagogen, die in der Tradition der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ihren Ausgang genommen und sie in den 1970ern als kritische Pädagogik bzw. Kritische Erziehungswissenschaft weiterentwickelt haben, sind Herwig Blankertz, Wolfgang Klafki und Klaus Mollenhauer.

Literatur

  • Haan, Gerhard de; Rülcker, Tobias (Hg.): Hermeneutik und Geisteswissenschaftliche Pädagogik. Ein Studienbuch. Frankfurt am Main 2002.
  • Krüger, Heinz-Hermann: Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. 3. Auflage. Opladen
  • Mauder, Stefanie: Die Bedeutung der "Geschichtlichkeit" für die Geisteswissenschaftliche Pädagogik. Marburg: Tectum, 2006. ISBN 3-8288-9058-x
  • Matthes, Eva: Geisteswissenschaftliche Pädagogik: Ein Lehrbuch. München: Oldenbourg, 2011. ISBN 978-3-486-59792-9
  • Nohl, Herman: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. 6., unveränderte Aufl. Frankfurt am Main 1963.

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