Albert Brackmann

Albert Brackmann

Albert Brackmann (* 24. Juni 1871 in Hannover; † 17. März 1952 in Berlin-Dahlem) war ein deutscher Historiker und Archivar.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Brackmann stammte väterlicherseits aus einer Pastoren- und Wissenschaftlerfamilie, mütterlicherseits aus der Industriellendynastie Egestorff. Nach anfänglichem Theologiestudium wechselte er in die Geschichtswissenschaft und studierte an den Universitäten Tübingen, Leipzig und Göttingen. Mit 27 Jahren gehörte er zum Stab der Monumenta Germaniae Historica. Er spezialisierte sich in der Kaiser- und Papstgeschichte und wurde 1901 Herausgeber der Germania Pontificia, der Sammlung der für deutsche Empfänger bestimmten Papsturkunden. 1905 war er außerordentlicher Ordinarius in Paul Kehrs „Institut für Historische Hilfswissenschaften“ in Marburg, 1913 Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Königsberg, 1920 wieder in Marburg und ab 1922 als Nachfolger von Dietrich Schäfer an der Universität Berlin. 1929 war er Generaldirektor der preußischen Staatsarchive und Erster Direktor des Geheimen Staatsarchivs, 1935 kommissarischer Leiter des Reicharchivs. Außerdem war er Mitglied der Gelehrtengesellschaft von Göttingen, der Bayerischen, Deutschen und Preußischen Akademie und Mitherausgeber der Historischen Zeitschrift. Von 1919 bis 1925 war er Mitglied der DVP, später der DNVP, ab 1926 Mitglied im 1894 gegründeten „Deutschen Ostmarkenverein“, aus dem 1933 im Zusammenschluss mit anderen ostdeutschen Volkstumsverbänden der Bund Deutscher Osten wurde. 1936 trat Brackmann in den Ruhestand. Er stellte seine weitere Tätigkeit in den Dienst des NS-Regimes, ohne „sich dem kleinen Kreis der durch und durch Überzeugten anzuschließen“.[1]

Wissenschaft im Dienste der Politik

Brackmann gilt in heutiger Geschichtsschreibung in Bezug auf den NS-Staat als „höchstrangiger deutscher Historiker“ (Wolfgang J. Mommsen) oder als „graue Eminenz der Ostforschung“ (Mathias Beer). Ein biografischer Lexikoneintrag von 1973/95 hält fest, dass er mit Eintritt in den Ruhestand 1936 „auch weiterhin an entscheidender Stelle tätig“ war,[2] was mehr verbirgt als enthüllt. Folgenreich war vor allem seine Rolle im Geheimen Staatsarchiv, in dem 1931 eine so genannte Publikationsstelle für alle Ostforschungsangelegenheiten eingerichtet wurde, die mit Kriegsbeginn gegen Polen und beim Krieg gegen die Sowjetunion 1941–1945 von praktischer Bedeutung für die gesamte „Volkstumspolitik“ in Osteuropa wurde, z. B. durch die Verwaltung der Deutschen Volksliste. Die P-Stelle stand von Anfang an in engster Verbindung mit dem Reichsministerium des Innern und dem Auswärtigen Amt. Brackmann arbeitete 1939 an einer Denkschrift zur „Eindeutschung Posens und Westpreußens“ mit, in der die sofortige Umsiedlung von 2,9 Millionen Polen und Juden gefordert wurde.[3] Wie sehr Brackmann auch an einer Zusammenarbeit mit einem „hirnverbrannten Antisemiten“ wie Otto Reche (so Michael Burleigh [1994], S. 73) gelegen war, zeigte sich darin, dass er dessen Arbeiten zur Einschätzung des Umgangs mit den Polen – die Deutschen brauchten Raum und keine „polnischen Läuse im Pelz“ – billigte und ihn zu weiteren Denkschriften des Aus- und Umsiedelns der Polen, Ukrainer und Sorben aufforderte und ans Reichsinnenministerium weiterempfahl.[4]
Unmittelbar nach Beginn des Polenfeldzugs fertigte er auf Bestellung der SS für deren „Ahnenerbe“-Verlag eine Propagandaschrift mit dem Titel Krisis und Aufbau in Osteuropa. Ein weltgeschichtliches Bild an.[5] Das Buch richtete sich gezielt gegen alle von der polnischen Westforschung mit Sitz in Posen vorgelegten Befunde, die sich spiegelbildlich ebenfalls kritisch bis polemisch auf alle Ergebnisse der Ostforschung bezog und in Gestalt von Zygmunt Wojciechowski in das nationalpolnische Fahrwasser von Roman Dmowski begeben hatte. Brackmann schrieb in hervorgehobenem Breitdruck:

„Welches andere Volk hat für Osteuropa das geleistet, was die Deutschen dort geleistet haben? Welches andere Volk ist mit den Völkern Osteuropas in so enge Beziehung gekommen wie das deutsche? Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen kann es nicht zweifelhaft sein, wer ein größeres Anrecht darauf hat, bei der Neuordnung Osteuropas mitzureden: nicht die Franzosen oder Engländer, sondern die Deutschen.“[6]

Es fällt auf, dass für die Mitarbeit an der „Neuordnung Europas“ in Brackmanns Vorstellung zwar Engländer, Franzosen und Osteuropa gegenüber ausschließlich Deutsche als verantwortliche Völker aufgezählt werden. Aber wie bereits bei der Berliner Kongokonferenz 1885, bei der kein einziger Vertreter Afrikas, nicht einmal aus den damals noch selbstständigen Staaten eingeladen war und die Europäer alles unter sich ausmachten,[7] wird die Beteiligung der von der „Neuordnung“ unmittelbar betroffenen osteuropäischen Völker überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Denn Brackmann betrachtet die Osteuropäer nicht als Subjekte ihrer eigenen Geschichte, sondern als deren deutsche Objekte in kolonialistischer Perspektive. Entsprechend häufig benutzt Brackmann das Wort „kolonisieren“ mit allen der Wortfamilie zugehörigen Abwandlungen zur Beschreibung der Bewältigung der von ihm diagnostizierten „Krisis“.
Die Wehrmacht kaufte im Mai 1940 noch während des Westfeldzuges 7.000 Exemplare von Krisis und Aufbau in Osteuropa zur Unterrichtung ihrer Führungskräfte. Nach Kriegsende wurde die Schrift in der Sowjetischen Besatzungszone auf die Liste der auszusondernden Literatur gesetzt.[8]

Mit Himmler persönlich verband Brackmann dessen hohe Einschätzung der Ottonen in Gestalt von Heinrich I. und Otto I.[9] Zu seinem 70. Geburtstag machte ihm die Führungsspitze des NS-Staates die Aufwartung: Göring, Frick, Ribbentrop mit Adolf Hitler an der Spitze, der ihm die höchste Wissenschaftsauszeichnung des Reichs überreichte, den „Adlerschild des Deutschen Reiches“. Die Behauptung Brackmanns, dass die Publikationsstelle zu einer „Zentralstelle für die wissenschaftliche Beratung“ des NS-Regimes aufstieg, wird 2007 als realistisch eingeschätzt.[10]

Zusammenfassend stellt ihn Michael Burleigh in seiner Bedeutung so vor: „Provided one pandered to his sense of self-importance, Brackmann had a utility to the regime far greater than the mere nuisance value of Walter Frank.“[11] Über die beiden von ihm dominierten Institutionen der Publikationsstelle und der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft, die „Denkfabriken der Ostforschung“, gilt er als beteiligt an der Parzellierung Europas, an organisiertem Kunstraub und an der Vorbereitung des Völkermords.[12] Nach Burleigh habe Brackmann am Ende seines langen Lebens auf sein verwüstetes Vaterland in der Annahme blicken können, dass die Nachfolge in seinem Reich bei seiner akademischen Klientel und seinen Schülern wie Hermann Aubin, Walter Kuhn und Erich Keyser in guten Händen gelegen habe. In seinem Todesjahr veröffentlichten Hermann Aubin und Erich Keyser den ersten Band der „Zeitschrift für Ostforschung“.[13]

Werke (in Auswahl)

  • 1926: Die Ostpolitik Ottos des Großen in: Historische Zeitschrift.
  • 1931: Die Anfänge der Slawenmission und die Renovatio imperii des Jahres 800 in: Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften.
  • 1932: Der ‚römische Erneuerungsgedanke‘ und seine Bedeutung für die Reichspolitik der Kaiserzeit.
  • 1933: Die politische Entwicklung Osteuropas vom 10.–15. Jahrhundert in: Albert Brackmann (Hg.), Deutschland und Polen. Beiträge zu ihren geschichtlichen Beziehungen.
  • 1934: Die Anfänge des polnischen Staates in: Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften.
  • 1935: Reichspolitik und Ostpolitik im frühen Mittelalter in: Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften
  • 1936: Zantoch: Eine Burg im deutschen Osten (Buchpublikation).
  • 1937: Die politische Bedeutung der Mauritius-Verehrung im frühen Mittelalter in: Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften.
  • 1937: Magdeburg als Hauptstadt des deutschen Ostens im frühen Mittelalter (Buchpublikation zur 1000-Jahrfeier des Moritzklosters in Magdeburg).
  • 1938: Die Anfänge der abendländischen Kulturbewegung in Osteuropa und deren Träger in: Jahrbuch für die Geschichte Osteuropas.
  • 1939: Kaiser Otto III. und die staatliche Umgestaltung Polens und Ungarns in: Abhandlungen der Berliner Akademie.
  • 1939: Krisis und Aufbau in Osteuropa. Ein weltgeschichtliches Bild (Buchpublikation).
  • 1940: Die Anfänge des polnischen Staates in polnischer Darstellung in: Festschrift für Ernst Heymann.
  • 1941: Albert Brackmann. Gesammelte Aufsätze. Zu seinem 70. Geburtstag am 24. Juni 1941 von Freunden, Fachgenossen und Schülern als Festgabe dargebracht (mit Verzeichnis Die Schriften Albert Brackmanns, S. 531-541; um den Aufsatz von 1947 erweiterte Zweitauflage dieser Festschrift 1967 bei Wissenschaftlicher Buchgesellschaft Darmstadt)
  • 1943: Zur Geschichte der heiligen Lanze Heinrichs I. in: Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelalters.
  • 1947: Gregor VII. und die kirchliche Reformbewegung in Deutschland (In: Studi Gregoriani, Vol. II, S. 7-30)

Literatur

  • Deutscher Wirtschaftsverlag, AG (Hg.): Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft, Band 1, Berlin, 1931
  • Gerd Althoff, Die Beurteilung der mittelalterlichen Ostpolitik als Paradigma für zeitgebundene Geschichtsbewertung, S. 147-164 in: Gerd Althoff (Hg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992.
  • Bosl/Franz/Hofmann, Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte. Studienausgabe, Bd. 1, Augsburg 1995.
  • Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, London 2002 (zuerst 1988).
  • Michael Burleigh, Wissenschaft und Lebenswelt: Generaldirektor Brackmann und die nationalsozialistische Ostforschung. In: Werkstatt Geschichte 8, Ergebnisse Verlag: Hamburg 1994, S. 68-75. − Auch als PDF-Datei
  • Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der "Volkstumskampf" im Osten, Göttingen 2000.
  • Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999.
  • Leo Santifaller: Albert Brackmann. Zum Gedächtnis an den zehnjährigen Todestag 17. März 1952, in: Der Archivar, Jg. 15, 1962, Heft 4, S. 318 ff.
  • Thomas Schöbel, Albert Brackmann und die Publikationsstelle Berlin-Dahlem, in: Jessica Hoffmann, Anja Megel, Robert Parzer, Helena Seidel (Hg.), Dahlemer Erinnerungsorte. Mit einem Nachwort von Wolfgang Wippermann, Berlin 2007, S. 229-243. ISBN 978-3-86596-144-0
  • Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft: 1918-1945, Frankfurt a. M. 1999.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Michael Burleigh: Wissenschaft und Lebenswelt: Generaldirektor Brackmann und die nationalsozialistische Ostforschung. In: Werkstatt Geschichte 8, Ergebnisse Verlag: Hamburg 1994, S. 74.
  2. Bosl/Franz/Hofmann: Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte. Bd. 1, Augsburg 1995, S. 338. Artikel von Günther Franz.
  3. Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt/M 2005, ISBN 3-596-16048-0, S. 69.
  4. Michael Burleigh (1994), S. 72-74.
  5. Parallel mit gleichem Untertitel schrieb Wilhelm Ziegler 1939 im Ahnenerbe-Stiftung Verlag über Frankreich: Was wird mit Frankreich? Ein weltgeschichtliches Bild, Berlin-Dahlem 1939.
  6. Krisis und Aufbau in Osteuropa. Ein weltgeschichtliches Bild, Berlin Dahlem (Ahnenerbe-Stiftung Verlag) 1939, S. 50.
  7. Vgl. Franz Ansperger, Geschichte Afrikas, 3., überarbeitete und aktualisierte Auflage, C. H. Beck: München 2007, S. 78.
  8. http://www.polunbi.de/bibliothek/1946-nslit-b.html
  9. Michael Burleigh: Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich. London 2002, S. 132.
  10. Thomas Schöbel (2007), S. 234.
  11. Burleigh, 2002, S. 137.
  12. Thomas Schöbel (2007), S. 237, 242.
  13. Michael Burleigh (1994), S. 74.

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