Fragmentenstreit

Fragmentenstreit

Mit dem Titel Fragmentenstreit wird die bedeutendste theologische Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts in Deutschland und die wohl wichtigste Kontroverse zwischen der Aufklärung und der orthodoxen lutherischen Theologie bezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Ablauf

Der Hamburger Gymnasialprofessor für orientalische Sprachen Hermann Samuel Reimarus verfasste zwischen 1735 und 1767/68 eine Schrift „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“. Mit dieser Schrift sollte die „natürliche Religion“ gegen die Zumutungen eines biblischen Glaubens an übernatürliche Offenbarungen und Wunder verteidigt werden. Reimarus wagte aber nicht, die Schrift zu veröffentlichen. Eine These, für die es Indizien, aber keine Beweise gibt, ist die, dass Erben des Reimarus Teile einer früheren Fassung der „Apologie“ dem Gotthold Ephraim Lessing unter der Bedingung zur Verfügung stellten, dass der wahre Verfasser anonym bleibt. Lessing war ab 1770 Leiter der herzöglichen Bibliothek in Wolfenbüttel und gab in dieser Funktion ab 1773 die Zeitschrift „Zur Geschichte und Literatur aus den Schätzen der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel“ heraus. Darin veröffentlichte er zwischen 1774 und 1778 sieben der ihm zugänglichen Passagen aus der „Apologie“ in mehreren Beiträgen unter dem Titel Fragmente eines „Ungenannten“. Durch irreführende Andeutungen versuchte Lessing zusätzlich, den wahren Verfasser zu verbergen.

Besonders der vierte Beitrag von 1777 rief starke Reaktionen hervor. Allein 1777/78 erschienen 30 Gegenschriften gegen die „Fragmente“ (insgesamt sind es mehr als 50 Schriften). Lessing wurde für den Inhalt der Fragmente verantwortlich gemacht, obwohl er die darin vertretenen Positionen nur teilweise teilte und auch eine kritische Abhandlung zu ihnen verfasste. Lessings Hauptgegner in dem Streit war der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, gegen den Lessing 1778 15 Schriften (u.a. elf „Anti-Goeze“ benannte Schriften – Briefe auf deutsch, nicht auf Latein, sodass sie für alle verständlich waren) veröffentlichte. 1778 wurde Lessing die Zensurfreiheit für die „Beiträge“ aberkannt; gleichzeitig erhielt er ein generelles Publikationsverbot für das Gebiet der Religion. Er setzte die Diskussion mit dem Drama Nathan der Weise als Literatur fort.

Die „Fragmente“ wurden in der folgenden Zeit mehrfach nachgedruckt; aber erst 1813 wurde die „Apologie“ als Gesamtwerk bekannt und Reimarus als der wahre Verfasser nachgewiesen. Die erste vollständige Ausgabe erschien allerdings erst 1972 im Druck.

Inhalte des Fragmentenstreits

Die deistischen Positionen, mehr noch die radikale Bibelkritik in der Apologie von Reimarus riefen starke Empörung hervor. Einige wichtige Darlegungen:

  • Die Existenz von Wundern wird bestritten und Propheten, Apostel und auch Jesus Christus als Betrüger bezeichnet, wenn sie behaupten, Wunder zu tun
  • Die moralische Integrität der biblischen Personen wird bestritten, da „ihre Handlungen so vielfach von den Regeln der Tugend, ja des Natur- und Völkerrechts abweichen“
  • Die Apostel werden angeklagt, die Geschichte und Lehre Jesu verfälscht zu haben
  • Den Auferstehungsberichten wird Widersprüchlichkeit vorgeworfen
  • Die Auferstehung und die Gottessohnschaft Jesu werden abgestritten.

Reimarus und Lessing wendeten sich gegen „Buchstabenhörigkeit“ und unterschieden zwischen den Buchstaben und der Bibel auf der einen Seite und dem Geist bzw. der Religion auf der anderen Seite. Nach Lessing konnten notwendige Vernunftwahrheiten nicht von zufälligen Geschichtswahrheiten abhängig gemacht werden.

Lessings Hauptgegner Goeze hielt dagegen an der Verbalinspiration fest. Sein zentrales Anliegen war die Verteidigung der Bedeutung von historischen Ereignissen und deren Wahrheitsgehalt für den Glauben. Christlicher Glaube könne nicht bestehen, wenn wesentliche Inhalte der (neutestamentlichen) Geschichte geleugnet werden. Lessing stellte den durch die Vernunft begründeten Glauben über einen, der sich nur auf zufällige historische Begebenheiten beruft. Goeze wiederum argumentierte, dass Glaubenswahrheiten nicht unbedingt Vernunftwahrheiten sein müssen und warf Lessing mehrfach vor, den Rahmen des christlichen Glaubens verlassen zu haben.

Zu einem echten Dialog zwischen Goeze und Lessing kam es indes nicht. Beide Kontrahenten steigerten sich immer stärker in eine auch von persönlichen Angriffen gekennzeichnete Polemik hinein. Die Orthodoxie hatte im Grunde nicht die Möglichkeit, auf Lessings Thesen zu reagieren, andersherum verstand es Goeze auch nicht, die Schwächen in Lessings Argumentation aufzuweisen. Für Goeze war der Streit eine ernste Herzensangelegenheit; Lessing bezeichnete ihn jedoch als „Katzbalgerei“ und betonte mehrfach, keine Dogmen formulieren zu wollen, sondern Diskussionsbeiträge vorzustellen. Obwohl Goeze ein geachteter Gelehrter war, konnte er doch mit seinen sprachlichen und argumentativen Fähigkeiten nicht gegen Lessing bestehen.

Reflexion des Judentums

Nach Jobst Paul zielte Lessing mit der anonymen Veröffentlichung der Fragmente eines Wolfenbüttelschen Ungenannten darauf, die rationalistische Position der Aufklärung zur Debatte zu stellen. Gegen eine Aufklärung, die aus ihrem Widerstand gegen die Dogmen der christlichen Kirchen ihre Zweifel an ‚Religion an sich’ ableiteten (Paul). Im Sinne der Überlegungen für eine Vereinigungreligion, die christlich sein sollte, entstanden für Lessing und Reimarus eine wichtige, argumentative Unebenheit in dieser – religionskritischen – Position. Soll nämlich die Gleichsetzung einer betrügerischen christlichen Kirche mit Religion an sich, d.h. als religionskritisches Argument funktionieren, dann darf natürlich auch keine andere Religion, insbesondere nicht das Judentum ‚besser’ sein. (Paul). Entsprechend lag es für Reimarus zunächst nahe, der Tendenz nach auch das Judentum als archaische, zurückgebliebene Religion herrschsüchtiger Priester zu zeichnen (Paul). Offensichtlich, so Paul, habe Reimarus diese Problematik der Überdehnung wohl selbst durchschaut. Und im Verlauf seiner Reflexionen nähert er sich ... mit der rationalistischen Bibelkritik, mit der Ablehnung der Dreieinigkeit, der Leugnung der Gottesnatur Jesu usw. unversehens der jüdischen Perspektive und nimmt, indem er den christlichen Anti-Judaismus verwirft, Partei für das verfolgte Judentum. [1]

Auswirkungen

Der Fragmentenstreit war die letzte große Auseinandersetzung der Orthodoxie. Erkennbar werden die Abkehr vom Dogmatismus und die Hinwendung zur Ethik in der Epoche der Aufklärung. Der Fragmentenstreit zeigt, dass eine kritische Betrachtung und Hinterfragung der Bibel mit Mitteln der Vernunft und der historischen Forschung nun möglich wurde. Die von Reimarus und Lessing vertretenen Positionen hatten Einfluss auf die weitere Entwicklung der Geistesgeschichte und Theologie (z.B. Historisch-kritische Methode in der Exegese und Initiierung der Leben-Jesu-Forschung).

Forschungsansätze

In der Erforschung der deutschen Diskursgeschichte seit der Aufklärung (1800–1870) regt Jobst Paul an, den Streit um die Fragmente eines Wolfenbüttelschen Ungenannten im Zusammenhang der damaligen Debatten um eine Humanitätsreligion bzw. Vereinigungsreligion zu betrachten und die Auswirkungen auf den deutschen Idealismus zu untersuchen, wie er sich in dem Schriftfragment Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (Hegel und andere, Vgl. Rosenzweig 1917) zeige. In seiner Untersuchung zum "Konvergenz-Projekt – Humanitätsreligion und Judentum im 19. Jahrhundert" sind die Reimarus Fragmente Gegenstand für die Betrachtung dieser Diskurse. Gefragt wird dabei unter anderem nach der Hierarchisierung der Diskurse. So zeigt sich bei der Frage, welche Religion Ausgang für eine vereinigte Religion ist, eine christlich-orthodoxe Hierarchie. Auch die Anregung Lessings, die zum Leitmotiv vieler folgender Jahrzehnte werden sollte: Mit der Ring-Parabel im Nathan (1779) ließ Lessing die Frage in der Schwebe, ob die Konvergenz der Religionen hin zu einem Humanitätsideal zum Verlöschen der Religionen, oder ob gerade das Festhalten an ihnen zum gemeinsamen Humanitätsideal führen würde (Paul). So nimmt auch Lessing in seiner Ring-Parabel eine Hierarchisierung der drei großen Religionen vor. Für das Christentum ergaben sich in dieser Debatte die Fragen: Wie konnte es angesichts unhaltbarer Dogmen als Religion bestehen? Wie sollte man nur nennen, was übrig blieb? Und wie sollte man die Tatsache aushalten, dass das Judentum längst dort stand, wo man hinstrebte? (Paul).

Die rationalistische Relativierung des christlichen Dogmas führte auch in der Humanitätsliteratur nach 1800 zu gesinnungsethischen Entwürfen, bei denen wie bei Reimarus die "jüdische Frage" notwendig mit ins Spiel kommen musste, bei der letztlich zwei Optionen blieben, entweder die religionskritisch-judenfeindliche oder die identifikatorische Position, das zeigt die Meinungsliteratur zur jüdischen Emanzipation während der nachfolgenden Jahrzehnte (Paul).

Den Anregungen von Jobst Paul ist Jens Lemanski gefolgt, der den Fragmentenstreit als entscheidenden Ausgangspunkt für die Entwicklung des Deutschen Idealismus, Schopenhauerianismus und Linkshegelianismus (von Jacobi bis Engels) sieht. [2]

Literatur

  • William Boehart: Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing). Martienss, Schwarzenbek 1988, ISBN 3-921757-26-6 (Zugleich: Hamburg, Univ., Diss., 1982).
  • Klaus Bohnen: Leidens-Bewältigungen. Der Lessing-Goeze-Disput im Horizont der Hermeneutik von „Geist“ und „Buchstabe“. In : Heimo Reinitzer, Walter Sparn (Hrsg.): Verspätete Orthodoxie. Über D. Johann Melchior Goeze (1717–1786). Harrassowitz, Wiesbaden 1989, ISBN 3-447-02976-5, S. 179–196 (Wolfenbütteler Forschungen 45).
  • Bernd Bothe: Glauben und Erkennen. Studie zur Religionsphilosophie Lessings. Hain, Meisenheim am Glan 1972, ISBN 3-445-00847-7 (Monographien zur philosophischen Forschung 75), (Zugleich: Rom, Univ., Diss.).
  • Dirk Fleischer: Auf der Suche nach der Wahrheit. Johann Salomo Semlers Position im Fragmentenstreit. In: Johann Salomo Semler: Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger (Halle 1779). Spenner, Waltrop 2003, ISBN 3-89991-004-4, S. 1–106.
  • Gerhard Freund: Theologie im Widerspruch. Die Lessing-Goeze-Kontroverse. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1989, ISBN 3-17-010577-9 (Zugleich: Heidelberg, Univ., Habil.-Schr., 1986).
  • Jens Lemanski: Philosophia in bivio. Über die Bedeutung des Fragmentenstreits für die Ausdifferenzierung von Rationalismus und Irrationalismus. In: Christoph J. Bauer, Britta Caspers (Hrsg.): Georg Lukács. Kritiker der unreinen Vernunft. Duisburg 2010, ISBN 978-3-940251-78-7, S. 85–107.
  • Gotthold Ephraim Lessing: Theologiekritische Schriften. Hanser, Frankfurt am Main 1989ff.
  • Jobst Paul: Das „Konvergenz“-Projekt. Humanitätsreligion und Judentum im 19. Jahrhundert. In: Margarete Jäger, Jürgen Link (Hrsg.): Macht – Religion – Politik. Zur Renaissance religiöser Praktiken und Mentalitäten. Unrast, Münster 2006, ISBN 3-89771-740-9 (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. Edition DISS 11).
  • Helmut Schmiedt: Angebundene und freie Poesie. Zur Rhetorik im Goeze-Lessing-Streit. In: Lessing Yearbook. 23, 1991, ISSN 0075-8833, S. 97–110.
  • Rolf Specht: Die Rhetorik in Lessings „Anti-Goeze“. Ein Beitrag zur Phänomenologie der Polemik. Lang, Bern u. a. 1986, ISBN 3-261-03604-4 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 937), (Zugleich: Zürich, Univ., Diss., 1984).
  • David Friedrich Strauß: Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Brockhaus, Leipzig 1862.
  • Helmut Thielicke: Offenbarung, Vernunft und Existenz. Studien zur Religionsphilosophie Lessings. 5. Auflage. Gütersloher Verlagshaus Mohn, Gütersloh 1967.
  • Johannes von Lüpke: Wege der Weisheit. Studien zu Lessings Theologiekritik. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1989, ISBN 3-525-87395-6 (Göttinger Theologische Arbeiten 41), (Zugleich: Tübingen, Univ., Diss., 1985/86).

Einzelnachweise

  1. Jobst Paul, Das ‚Konvergenz’-Projekt, in: Jäger / Link (Hrsg.): Macht – Religion – Politik. Zur Renaissance religiöser Praktiken und Mentalitäten. Münster 2006, mit Verweisen auf: Strauß (1862), Lessing (1989)
  2. Jens Lemanski, Philosophia in bivio. Über die Bedeutung des Fragmentenstreits für die Ausdifferenzierung von Rationalismus und Irrationalismus, in: Bauer/ Caspers (Hrsg.): Georg Lukács. Kritiker der unreinen Vernunft, Duisburg 2010, 85-107.

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