Fliegermorde

Fliegermorde

Als Fliegermorde wird die Tötung abgeschossener oder notgelandeter alliierter Flugzeugbesatzungen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges bezeichnet. Die überwiegende Zahl der Täter waren lokale Funktionäre der NSDAP sowie Angehörige der Kriminalpolizei und der Gestapo. Nach Kriegsende erfolgte die juristische Aufarbeitung in den Fliegerprozessen vor alliierten Militärgerichten.

Inhaltsverzeichnis

„Lynchmorde“ an alliierten Fliegern

Nach der deutlichen Niederlage der deutschen Luftwaffe in der Luftschlacht um England zwischen Juli und Oktober 1940 baute die Royal Air Force ihre Bomberflotte verstärkt aus. Der Einsatz amerikanischer Bomberverbände ab Juni 1943 und zusätzliche Start- und Landemöglichkeiten nach der alliierten Landung in Italien sorgten in der Endphase des Zweiten Weltkrieges für eine weitgehende alliierte Lufthoheit, die auch für massive Flächenangriffe mit dem ausdrücklichen Ziel, die Moral der Bevölkerung zu brechen, genutzt wurde.

Die Behandlung von Flugzeugbesatzungen, die über feindlichem Gebiet abgeschossen wurden oder auf Grund technischer Defekte notlanden mussten, war in der Haager Landkriegsordnung von 1907 und in der Genfer Konvention von 1929 festgelegt. Beide internationale Abkommen waren vom Deutschen Reich anerkannt worden und blieben bis Kriegsende de jure in Kraft.[1] Zur Behandlung von Kriegsgefangenen hieß es in der Genfer Konvention: „Sie müssen jederzeit mit Menschlichkeit behandelt und insbesondere gegen Gewalttätigkeiten, Beleidigungen und öffentliche Neugier geschützt werden. Vergeltungsmaßnahmen an ihnen auszuüben ist verboten.“[2]

NS-Führung und Fliegermorde

Im Oktober 1942 erteilte Hitler den „Kommandobefehl“, sogenannte „Sabotagetrupps der Briten und ihrer Helfershelfer“, auch wenn sie anhand ihrer Uniformen als Soldaten erkennbar oder unbewaffnet waren, „im Kampf oder auf der Flucht bis zum letzten Mann niederzumachen.“[3] Der „Kommandobefehl“ bezog sich nicht auf Piloten, die nach Luftkämpfen versuchten, per Fallschirm ihr Leben zu retten.

Heinrich Himmler als Reichsführer-SS äußerte in einer Weisung vom 10. August 1943, es sei „nicht Aufgabe der Polizei, sich in Auseinandersetzungen zwischen deutschen Volksgenossen und abgesprungenen englischen und amerikanischen Terrorfliegern einzumischen.“[4] Die Weisung erging an die Befehlshaber der Ordnungspolizei (BdO) und Sicherheitspolizei (BdS) und sollte nachgeordneten Dienststellen sowie den Gauleitern der NSDAP mündlich zur Kenntnis gebracht werden. Ernst Kaltenbrunner, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, bekräftigte diese Weisung am 5. April 1944 und gab bekannt, dass Himmler für Personen, die sich aus „falsch verstandenem Mitleid gegenüber gefangengenommenen feindlichen Fliegern würdelos verhalten“,[5] in leichten Fällen „Schutzhaft“ nicht unter 14 Tagen, in schweren Fällen Einweisung in ein Konzentrationslager angeordnet habe. Seitens der NSDAP ließ Martin Bormann Ende Mai 1944 in einem geheimen Rundschreiben an die Reichsleiter, Gauleiter und Kreisleiter der Partei wissen:

„Englische und nordamerikanische Flieger haben in den letzten Wochen wiederholt im Tiefflug auf Plätzen spielende Kinder, Frauen und Kinder bei der Feldarbeit, pflügende Bauern, Fuhrwerke auf der Landstraße, Eisenbahnzüge usw. aus geringer Höhe mit Bordwaffen beschossen und dabei auf gemeinste Weise wehrlose Zivilisten – insbesondere Frauen und Kinder – hingemordet.
Mehrfach ist es vorgekommen, daß abgesprungene oder notgelandete Besatzungsmitglieder solcher Flugzeuge unmittelbar nach der Festnahme durch die auf das äußerste empörte Bevölkerung an Ort und Stelle gelyncht wurden. Von polizeilicher und strafgerichtlicher Verfolgung der dabei beteiligten Volksgenossen wurde abgesehen.“[6]

Bormanns Rundschreiben sollte mündlich den Ortsgruppenleitern zur Kenntnis gegeben werden. Der Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann bestätigte im Nürnberger Prozess, es gehe „klar aus dem Wortlaut“[7] des Rundschreibens hervor, dass zur Nichteinmischung beim Lynchen von Fliegern ermutigt werden sollte. Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, sprach im Juli 1944 von „Selbsthilfe der Bevölkerung“ und hielt es für parteiisch, wenn Soldaten alliierte Flieger schützen würden: „Kein deutscher Volksgenosse kann für ein solches Verhalten unserer bewaffneten Macht Verständnis haben“, so Keitel.[8]

Zahlen und Täter

Die genaue Zahl der Morde an alliierten Fliegern ist nicht bekannt. Nachgewiesen sind 225 Fälle, die Gesamtzahl wird auf 350 geschätzt.[9] Weitere 60 Flieger wurden misshandelt, ohne dabei zu Tode zu kommen. Die ersten dokumentierten Fälle ereigneten sich im Zusammenhang mit den Bombenangriffen auf Hamburg, der „Operation Gomorrha“, am 25. Juli 1943 in der Nähe von Lübeck. Für den Juli 1944 sind 24 Fälle von Tötungen und elf Misshandlungen dokumentiert. Bis Januar 1945 sanken die Zahlen leicht, die meisten Fälle traten im März 1945 mit 37 Morden und zwei Misshandlungen auf. Regionale Schwerpunkte waren Hessen, die Gegend südlich von Wolfsburg und das Ruhrgebiet. Im Ruhrgebiet häuften sich die Fälle nicht während des Höhepunktes der britischen Luftangriffe zwischen März und Juli 1943 („Battle of the Ruhr“), sondern im Oktober 1944.

Hinsichtlich der Täter lassen sich zwei Hauptgruppen erkennen: Lokale Vertreter der NSDAP und Angehörige von Kriminalpolizei und Gestapo.[10] Insbesondere NSDAP-Kreisleiter und ihre Vertreter waren unmittelbar an den Fliegermorden beteiligt. Bei Angehörigen der Polizei sind die meisten Täter in den Reihen der Kriminalpolizei und Gestapo zu finden. Ortspolizisten waren in Einzelfällen für Tötungen verantwortlich, häufiger für Misshandlungen unmittelbar nach Festnahme. In vereinzelten Fällen wurden die Morde von Soldaten der Wehrmacht verübt. Die örtliche Bevölkerung war bei einer Reihe von Fliegermorden beteiligt. Hier sind Fälle von Übergriffen durch einen „wütenden Mob“ wie auch die Exzesstaten Einzelner dokumentiert. Die Historikerin Barbara Grimm kommt zu folgender Einschätzung:

„Die Übergriffe auf abgestürzte alliierte Flieger waren im Regelfall keine Racheakte für unmittelbar vorangegangene Bombenangriffe. Aufgestachelt durch die Vergeltungspropaganda des Regimes dienten die Angriffe letztlich vor allem als willkommene Anlässe, um der wachsenden Brutalisierung und Radikalisierung ein Ventil zu geben. Täter waren in der Regel nationalsozialistische Funktionsträger, die keine Scheu davor hatten, selbst Hand anzulegen. Der Lynchmord im Sinne sich selbstmobilisierender Kommunen und Stadtviertel war dagegen die Ausnahme.“[11]

Beispiele

Ungefähr am 29. September 1944 wurde ein amerikanischer Flieger kurz nach seiner Landung per Fallschirm bei Bad Neustadt an der Saale aufgegriffen und in die örtliche Polizeistation von Bastheim gebracht. Am gleichen Tag wurde der Flieger vom NSDAP-Kreisleiter und seinem Stellvertreter abgeholt und wenig später von hinten erschossen, so dass behauptet werden konnte, der Amerikaner sei „auf der Flucht erschossen“ worden.[12]

Auf Anordnung des NSDAP-Kreisleiters Benedikt Kuner wurden am 21. Juli 1944 in Schollach im Hochschwarzwald fünf amerikanische Flieger nach einem Fallschirmabsprung erschossen.[13]


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