Finno-Ugrisch

Finno-Ugrisch

Die finnougrischen Sprachen (auch finnugrische oder ugro-finnische Sprachen) bilden zusammen mit dem samojedischen Zweig die uralische Sprachfamilie. Die finnougrischen Sprachen gliedern sich in zwei Zweige: den finnischen und den ugrischen Zweig. Die eine finnougrische Sprache sprechenden Völker nennt man Finnougrier oder finno-ugrische Völker.

Inhaltsverzeichnis

Sprachgeschichte

Ähnlich wie bei den indogermanischen Sprachen sind die heutigen finnougrischen Sprachen das Ergebnis mehrerer Sprachspaltungen und lassen sich auf eine hypothetische Ursprache zurückführen, das Urfinnougrische.

In der ersten Spaltung ist die Ursprache in den finnischen und den ugrischen Zweig zerfallen. Die ugrische Sprachgemeinschaft spaltete sich in die sogenannten obugrischen Sprachen und in das Ur-Ungarische, aus dem das heutige Ungarische hervorgegangen ist. Im finnischen Zweig hat sich zuerst die permische Gruppe, dann die wolgafinnische und zuletzt die ostseefinnische Gruppe und das Samische herausgebildet. Es besteht kein Zweifel daran, dass die finnougrischen Völker schon früh Kontakte zur indogermanischen Sprachwelt hatten, wie sich anhand zahlreicher Entlehnungen beweisen lässt. So ist das Zahlwort für hundert im Finnischen sata, im Mordwinischen sada, im Mansischen sad, im Ungarischen száz (vgl. altindisch satam, avestisch satem).

Klassifikation der Sprachen

Die finnougrischen Sprachen werden folgendermaßen klassifiziert:

Ugrische Sprachen

Finnopermische Sprachen

Die mordwinischen und Mari-Sprachen wurden früher unter die Wolgasprachen eingeordnet, aber diese Klassifizierung wird heute in Frage gestellt, da keine gemeinsame wolgafinnische Grundsprache rekonstruiert werden kann. Darum handelt es sich hier eher um eine areale als um eine genetische Einteilung.

Alphabetische Liste finnougrischer Sprachen

Allgemeines

Insgesamt gibt es ca. 25 Millionen Sprecher. Die Finnougristik ist die Wissenschaft, die sich mit den finnougrischen Sprachen beschäftigt. Folgende Merkmale sind den finnougrischen Sprachen typisch:

  • Die finnougrischen Sprachen sind agglutinierende Sprachen, d. h. grammatikalische Kategorien werden vor allem mit Hilfe von Suffixen sowie Postpositionen und seltener auch Präfixen (vor allem Ungarisch) ausgedrückt. Vgl. Haus – in meinem Haus:
    • finnisch: talo – talossani
    • mordwinisch: kudo – kudosom
    • ungarisch: ház – házamban
  • Die finnougrischen Sprachen verfügen über kein grammatikalisches Geschlecht.
  • Typisch für die meisten ostseefinnischen und samischen Sprachen ist der Stufenwechsel, d. h. ein quantitativer sowie qualitativer Wechsel im Konsonantismus, ausgelöst durch das Anfügen bestimmter Suffixe bzw. Affixe. (Vgl. finnisch kukka – kukan, kota – kodan; samisch ahkka – ahka, guahti – guadi.
  • Die Vokalharmonie ist heute noch im Finnischen und im Ugrischen (Ungarisch, Chantisch, Mansisch) stark ausgeprägt, findet sich aber auch in geschwundener Form in anderen Sprachen wieder (z. B. Mari). Das Estnische z. B. hat überhaupt keine Vokalharmonie mehr.
  • Mit Ausnahme des Komi bilden die finnougrischen Sprachen heutzutage kein synthetisches Futur. Es wird aber in einigen Sprachen analytisch (also durch eine Konstruktion) gebildet, und genauso gibt es auch Hin- bzw. Beweise für die frühere Existenz eines synthetischen Futurs (vgl. ungarisches Partizip Futur).
  • In den meisten finnougrischen Sprachen gibt es kein Wort für haben, der Besitz wird i. d. R. durch die habeo-Konstruktion, also dem Verb sein in der 3. Person Singular sowie dem Besitzenden (im Dativ oder Adessiv) ausgedrückt – wörtlich bei jmd. ist etwas (vgl. dazu Dativus possessivus. Beispiele: finnisch minulla on auto – ‘ich habe ein Auto’, mordwinisch mon’kudom – ‘ich habe ein Haus’, ungarisch (Nekem) autóm van – ‘ich habe ein Auto’, wörtlich ‘(Mir) ist mein Auto’
  • Typisch für finnougrische Sprachen ist der Reichtum an Kasus, vor allem zum Ausdruck von Örtlichkeitsverhältnissen. Aber auch hier gibt es Ausnahmen (samische Sprachen, Mansisch)
  • Die finnischen Sprachen besitzen zur Negation ein verneinendes Verb, das anstelle des Hauptverbs konjugiert wird. Beispiele:
    • finnisch mennä – ‘gehen’; en mene – ‘ich gehe nicht’; et mene – ‘du gehst nicht’; ei mene – ‘er geht nicht’
    • Komi ker – ‘machen’; og ker – ‘ich mache nicht’; on ker – ‘du machst nicht’; oz ker – ‘er macht nicht’
  • Die objektive (bestimmte) Konjugation ist besonders im Ungarischen und noch viel stärker im Mordwinischen ausgeprägt. Dabei wird durch das Verb zusätzlich angezeigt, ob das Objekt bestimmt oder unbestimmt ist. Beispiele aus dem Ungarischen:
    • könyvet olvasok – ‘ich lese ein Buch (irgendeins)’
    • a könyvet olvasom – ‘ich lese das Buch’

Grundsätzlich gibt es mehrere vorherrschende Charakteristika, die aber nicht restlos auf alle Sprachen zutreffen, d. h., es gibt immer Abweichungen von der Mehrheit. Das bedeutet aber nicht, dass diese Sprachen nicht miteinander verwandt wären, sondern dass bestimmte grammatikalische Funktionen in manchen Sprachen geschwunden sind (innere spontane Entwicklung oder äußerer Einfluss).

Sprachvergleich

Die folgende Auflistung ist rein informativer Natur und kein Nachweis für eine sprachliche Verwandtschaft. Die historisch vergleichende Sprachwissenschaft rekonstruiert Wörter gemeinsamen finnougrischen bzw. uralischen Ursprungs. Durch den recht umfangreichen Fundus an Grundwörtern (die sich auch auf grundlegende Dinge des Alltags beziehen, z. B. Körperteile, Tiernamen, Pflanzennamen, Wetter, Werkzeuge) gilt die sprachliche Verwandtschaft als bewiesen.

Der Anfang des Vaterunser in verschiedenen finnougrischen Sprachen

Deutsch Vater unser im Himmel! Geheiligt werde dein Name; dein Reich komme;
Ungarisch Mi Atyánk, aki a mennyekben vagy, szenteltessék meg a Te neved; jöjjön el a Te országod;
Mansisch Man ault olep jegov, tak jälpenlachte nag namen; tak jeimte nag naerlachen;
Komi-Syrjänisch Айе миян, коды эм енэж вылын! Мед вежöдъяс тэнад нимыд; мед воас тэнад саритöмыд;
Komi-Permjakisch Айа миян, кöдыя эм енвевт вывын! Мед светитчяс тöнат нимыд; мед воас тöнат саритöмыт;
Udmurtisch (Wotjakisch) Аймы милям ин вылын улыш! Тынад нимыд святой мед луоз; тынад эксэйлыгед мед лыиктоз;
Wiesen-Mari Пылпомышто улшо мемнан Ачий! Тыйын лўмет мокталтше, тыйын кугыжанышет толжо;
Berg-Mari Пӹлгомыштышы мäмнäн Äтинä! Тӹньӹн лӹмет лӹмлеш-тäрäлтшӹ, тӹньӹн анжымашет толжы;
Ersjamordwinisch Менельсэ Тетянок! Тонть леметь шнавозь аштезэ; Тонть Инязорокс чить сазо;
Mokschamordwinisch Менелень тетянок! Шнавозо Тонть леметь; топавтовозо Тонть мелеть;
Finnisch Isä meidän, joka olet taivaissa! Pyhitetty olkoon sinun nimesi; tulkoon sinun valtakuntasi;´
Meänkieli (Tornedalfinnisch) Meän Isä, joka olet taihvaissa! Pyhitetty olkhoon sinun nimesti; tulkhoon sinun valtakuntasti;
eigentliches Karelisch Tuatto! Pyhitettävä olkah siun nimes; tulkah siun valtakuntas;
Olonetzisch Tuatto meijän taivahalline! Olgah pühännü Sinun nimi; tulgah sinun valdu;
Twer-Karelisch Туатто мия̄н, кумбанѣ олет тайвагашша! Ана гювиттїя̄човъ ними шивнъ; ана туловъ шивнъ куниңагуш;
Wepsisch Meiden taivhalline Tatam! Olgha pühä sinun nimi; tulgha sinun valdkund;
Wotisch Izä mede, kumpa olet taivaiza! Pühättü olko nimes sinu; liti-tulko sinu valtas;
Estnisch Meie Isa, kes Sa oled taevas! Pühitsetud olgu Sinu nimi; Sinu riik tulgu;
Võro Mi Esä taivan! Pühendedüs saaguq sino nimi; sino riik tulguq;
Livisch Mạd iza, kis sa vuod touvis! pǖvātộd las sig sin nim; las tugộ sin vạlikštộks;
Nordsamisch Ačče min, don gutte læk almin! Basotuvvus du namma; Bottus du rika;
Inarisamisch Aätj miin, ki läh almest! Passe läos tu namma; aldanevos tu valdegodde;
Skoltsamisch Äätje mii, ku leäk almest! Da passe leidsj tu nammat; da poat tu tsarstvie;
Kildinsamisch Адж мӣн, е̄ллей Альмесьт! Святэ ля̄ннч нэ̄м То̄н; оаннѣ пуадт То̄н Ланнѣ

Die Numeralia

Während die Grundzahlwörter von eins bis sechs alle finnougrisch sind, ist das Zahlwort für sieben sowohl in den finnischen als auch in den ugrischen Sprachen eine Entlehnung aus dem Indoeuropäischen, vgl. altindisch sapta. Das Zahlwort für zehn entsprach in der Ursprache dem Wort für Zahl, dies ist bis heute noch in Sami, Mari und Mansisch erhalten. Die Zahlworte das im Komi und Udmurtischen und tíz im Ungarischen sind Entlehnungen aus iranischen Sprachen.

Finnisch Estnisch Livisch Wotisch Wepsisch Karelisch Nordsami Skoltsami Olyk-Mari Ersja-
Mordwin.
Mokscha-
Mordwin.
Komi-
Syrjän.
Udmurt. Mansisch Chant. Ungar.
1 yksi üks ikš ühsi üs yksi okta õhtt икте вейке фкя öтик одык аква ит egy
2 kaksi kaks kakš kahsi kaks kakši guokte kue´htt коктыт кавто кафта кык кык китыг катын kettő
3 kolme kolm kuolm kõlmõ kuome kolmi golbma koumm кумыт колмо колма куим куин хурум хутым három
4 neljä neli nēļa nellä nell nellä njeallje nellj нылыт ниле ниле нёль ниль нила няты négy
5 viisi viis vīž viiz viž viisi vihtta vitt визыт ветесь вете вит вить ат вет öt
6 kuusi kuus kūž kuuz kuz kuuši guhtta kutt кудыт кото кота квайт куать хот хут hat
7 seitsemän seitse seis seitsee seiččeme šeiččemen čieža čiččâm шымыт сисем сисем сизим сизьым сат тапыт hét
8 kahdeksan kaheksa kādõks kahõsaa kahesa kahekšan gavcci kääu´c кандаше кавксо кафкса кöкъямыс тямыз нёллов нювты nyolc
9 yhdeksän üheksa īdõks ühesää ühesa yhekšän ovcci ååu´c индеше вейксэ вейхкса öкмыс укмыс онтэллов йиряң kilenc
10 kymmenen kümme kim čümmee kümne kymmenen logi lååi лу кемень кемонь дас дас лов яң tíz
100 sata sada sada sada sata sata čuođi čue´đ шÿдö сядо сяжа се сю сат сот száz
1.000 tuhat tuhat tuhat tuhat tuhat tuhat duhát dohat тÿжем тёжа тёжянь сюрс сюрс сотэр ... ezer


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