Fetischcharakter der Ware

Fetischcharakter der Ware

Mit Warenfetisch bezeichnet Karl Marx in seinem Hauptwerk Das Kapital (1867) einen bestimmten ideologischen Zustand gesellschaftlicher Beziehungen im Kapitalismus. Die Produkte menschlicher Arbeit entwickeln für die Menschen unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise ein scheinbares „Eigenleben“. Dieses Eigenleben vergleicht Marx mit der Zauberkraft, die in archaischen Gesellschaften dem Fetisch zugesprochen wird.

Inhaltsverzeichnis

Fetischismus und Ideologie

Der Begriff des Warenfetisch wird im Eröffnungskapitel des Kapitals unter der Überschrift Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis eingeführt. Die Theorie des Warenfetisch knüpft an Marx' Theorie der Entfremdung aus seinen Frühschriften an. Der Gebrauch des Begriffs „Fetischismus“ kann als ironische Anspielung auf die nach Marx nur scheinbar „rationale“, „wissenschaftliche“ Denkweise in industriell-kapitalistischen Gesellschaften verstanden werden. Zu Marx’ Zeiten wurde das Wort „Fetischismus“ in erster Linie als Begriff zum Studium „primitiver“ Religionen genutzt, der „Fetischismus der Warenwirtschaft“ kann daher ironisch als das Glaubenssystem „kapitalistischer Gesellschaften“ verstanden werden. Die ideologische Illusion einer scheinbaren Verselbständigung der Waren gegenüber ihren Produzenten ist jedoch kein bloßer Aberglaube, sondern geht in erster Stufe auf die reale Teilung der Arbeit (keine unmittelbare Produktion für sich oder die eigene Familie mehr) und in einer nachfolgenden zweiten Stufe auf das Privateigentum an Produktionsmitteln zurück, auf dem die kapitalistische Lohnarbeit beruht (Produkte gehören dem Produzenten gänzlich nicht mehr). Die Aufhebung des Warenfetisch setzt also für Marx, wie die Aufhebung der Ideologie im Allgemeinen, die Aufhebung der kapitalistischen Lohnarbeit selbst voraus. Indem der Warenfetisch die tatsächlichen sozialen Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder verschleiert und als Sachzwang „fetischisiert“, erschwert er diese Aufhebung beziehungsweise die Entstehung von Klassenbewusstsein jedoch.

Das Eigenleben der Ware

Das Eigenleben der Waren, ihr „Fetischcharakter“, geht auf den kapitalistischen Tausch zurück, durch den einem hergestellten Produkt nicht mehr nur Gebrauchswert, sondern auch Tauschwert zukommt. Dieser Tauschwert verselbständigt sich nach Marx gegenüber dem Gebrauchswert (vgl. auch den Artikel Das Kapital). Die Produktion im Kapitalismus wird nicht im Interesse der Schaffung von Gebrauchswerten, sondern im Interesse der Schaffung von Tauschwerten beziehungsweise zur Erzielung von Profit betrieben. Der Tauschwert der Ware ist insofern das eigentliche Ziel der Arbeit und wird dadurch zur scheinbaren Ursache der Entstehung von Wert. Die den Wert schaffenden Arbeiter werden zum scheinbaren Objekt Arbeitskraft degradiert, die für das Subjekt Ware produzieren. Die Austauschenden werden von den Wertgrößen beherrscht: „Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, anstatt sie zu kontrollieren.”[1]

Marx bezeichnet den Warenfetisch deshalb auch als scheinbare Vertauschung von Subjekt und Objekt, als „Quid pro quo“. Durch die weiteren Entwicklungsstufen der Warenform, das Geld und das Kapital, wird diese Verkehrung noch verstärkt. Das Kapital erscheint beispielsweise als „Geld heckendes Geld“ und „automatisches Subjekt“, das sich in der Form des Zinses scheinbar wie von selbst vermehrt.

Der Geldfetisch

In der Geldform der Ware, in der sich die Abtrennung von Tauschwert und Gebrauchswert vervollständigt, verstärkt sich der Fetischismus noch. Der durch Arbeit geschaffene Wert, der in jeder Ware enthalten ist, ist im Geld vollständig unsichtbar, so dass das Geld mitunter für „ein bloßes Zeichen“[2] gehalten wird. Gleichzeitig ist es, wie Marx in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie (1857-58) schreibt, der „Gott unter den Waren“[3], auf den alle anderen Waren bezogen werden. So erscheint das Geld fälschlicherweise geradezu als die Substanz der übrigen Waren, anstatt als deren Wertausdruck: „Eine Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die anderen Waren allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld ist.“ Im Geld finden die übrigen Waren „ihre eigne Wertgestalt fertig vor als einen außer und neben ihnen existierenden Warenkörper.“ Eben weil die schöpferische Arbeit in der Gestalt des Geldes unsichtbar ist, erscheint das Geld als eigene Macht: „Daher die Magie des Geldes.“[4]

Zins als höchste Form des Fetischismus (Der automatische Fetisch)

Ihre „äußerlichste und fetischartigste Form“[5] erreicht die Ware mit der Stufe des zinstragenden Kapitals. Im Zins ist die scheinbare Selbsttätigkeit der Ware auf die Spitze getrieben: Die Formel dafür lautet „G–G', Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertender Wert, ohne den Prozeß, der die beiden Extreme vermittelt.“[5]

„Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr. Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst. Statt der wirklichen Verwandlung von Geld in Kapital zeigt sich hier nur ihre inhaltlose Form. (...)
In G-G' haben wir die begriffslose Form des Kapitals, die Verkehrung und Versachlichung der Produktionsverhältnisse in der höchsten Potenz: zinstragende Gestalt, die einfache Gestalt des Kapitals, worin es seinem eignen Reproduktionsprozeß vorausgesetzt ist; Fähigkeit des Geldes, resp. der Ware, ihren eignen Wert zu verwerten, unabhängig von der Reproduktion - die Kapitalmystifikation in der grellsten Form.“[6]


Siehe auch

Quellen

  1. Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW 23:89
  2. MEW 23: 105.
  3. MEW 42: 148.
  4. Für alle Zitate siehe: Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW 23: 107
  5. a b Marx, Das Kapital Bd. 3, MEW 25: 404
  6. Marx, Das Kapital Bd. 3, MEW 25: 405

Literatur

  • Werner Becker: Kritik der Marxschen Wertlehre – Die methodische Irrationalität der ökonomischen Basistheorien des 'Kapitals'. Hoffmann und Campe, Hamburg 1972
  • Konrad Lotter, Reinhard Meiners, Elmar Treptow: Marx-Engels-Begriffslexikon. Beck, München 1984, Seite 103-105. ISBN 340609273X
  • Dieter Wolf, [1] Warenfetisch und dialektischer Widerspruch in: Dieter Wolf, Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie. Hamburg 2002, ISBN 3-87975-889-1

Weblinks


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