Fernand Braudel

Fernand Braudel

Fernand Braudel (* 24. August 1902 in Luméville-en-Ornois, heute Gondrecourt-le-Château, Département Meuse; † 28. November 1985 in Cluses, Département Haute-Savoie) war ein französischer Historiker der Annales-Schule.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Wirken

Innerhalb der École des Annales gehörte Braudel zur zweiten Generation, wobei er ab den 1950er Jahren, zum einen durch sein direktes Schülerverhältnis zu den Gründervätern Marc Bloch und Lucien Febvre und zum anderen durch sein umfangreiches eigenes Werk, zur bestimmenden Figur dieser Phase der Annales-Schule wurde.

Ab 1924 unterrichtete er als Lehrer an verschiedenen Gymnasien im damals französisch beherrschten Algerien, zuerst in Constantine und später in Algier. 1932 kehrte er nach Europa zurück und war von 1932 bis 1935 am Lycée Pasteur und am Lycée Henri IV. in Paris tätig. Danach führte ihn ein Lehreraustausch nach Sao Paulo in Brasilien. Auf dem Rückweg nach Europa lernte er auf dem Schiff am Atlantik den späteren Betreuer seiner Habilitationsschrift, Lucien Febvre kennen. Ab 1937 wechselte er an die École pratique des hautes études in Paris. Dort stand er im Austausch mit seinem Lehrer Lucien Febvre und begann an seinem späteren Hauptwerk zu arbeiten. Die Arbeit daran war durch den drohenden Krieg mit Hitler-Deutschland überschattet, Braudel wurde schon 1938 zum Militärdienst eingezogen. Während des Westfeldzuges geriet er bis 1945 in deutsche Kriegsgefangenschaft.

Sein Hauptwerk, dessen Anfänge in Gefangenschaft auf der Zitadelle Mainz entstanden und das 1949 als Habilitationsschrift veröffentlicht wurde, ist La Méditerranée (et le monde méditeranéen à l'epoque de Philippe II) [1]. Darin entwirft Braudel eine Universalgeschichte des Mittelmeerraumes zur Zeit Philipps II. von Spanien. Das monumentale Werk von ursprünglich über 1200 Seiten ist dabei in drei Teile gegliedert. Jeder dieser Teile entspricht einer bestimmten Zeitebene, mittels derer sich Braudel je verschieden der Vergangenheit zu nähern sucht. Während der erste Teil sich mit der Geschichte des Menschen in der Landschaft in seiner Beziehung zu einem geographischen Milieu beschäftigt, geht Braudel im zweiten Teil auf die Geschichte größerer Strukturen wie Staaten, Gesellschaften, Kulturen usw. ein. Der dritte Teil orientiert sich an der traditionellen Geschichtsschreibung mit ihrer Betonung der politischen und militärischen Ereignisse, wobei Braudel selbst immer wieder die Bedeutung individueller menschlicher Handlungen relativiert.

Zeitebenen

Insgesamt unterscheidet damit Braudel drei Zeitebenen. Die unterste Schicht wird gebildet von einer langsam fließenden Geschichte, in der Veränderungen kaum wahrnehmbar sind, einer histoire quasi immobile, die Braudel auch géohistoire nennt. Diese Zeit ist die der Naturerscheinungen, in der alle Bewegungen in einem Kreislauf an ihren Ausgangspunkt zurückkehren. Es ist dies die Geschichte der Täler und Gebirge, der Inseln und Küsten, des Klimas, der Land- und Seewege. Die darüberliegende Schicht ist jene, welche später besonders mit dem Begriff der longue durée verbunden wurde. Es ist die Zeit der in langsamen Rhythmen verlaufenden Geschichte, der größeren sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Strukturen, die einen Zeitraum von ein, zwei Jahrhunderten umfassen können. Ganz an der Oberfläche befindet sich letztlich die Geschichte der Ereignisse, die histoire événementielle. Geschichte lässt sich nach Braudel nicht verstehen, wenn nur diese letzte Ebene betrachtet wird, vielmehr erscheinen die menschlichen Ereignisse wie bloße Wellen auf der Oberfläche des Stroms der Geschichte, ohne deren tieferen Grund zu berühren.

Sein Hauptinteresse gilt somit nicht der Ereignisgeschichte, sondern er orientiert sich an der fast unbeweglichen Zeit der Naturerscheinungen. Er konzentriert sich also auf zeitlose Phänomene und beschreibt etwa, dass in der Regel Bergbewohner konservativer sind als die Bewohner der Ebenen oder dass die Adria immer eine Kulturscheide war. Für diese langsamen Zeitabläufe prägt Braudel den Begriff der longue durée. Diese Bezeichnung wurde auch von anderen Annales-Historikern aufgegriffen, ohne aber damit immer dasselbe zu meinen wie Braudel.

Das wichtigste Werk Fernand Braudels ist aber die Trilogie Civilisation matérielle, Economie et Capitalisme, XVe - XVIIe siècle. Braudel untersucht in diesen Bänden (1 - Structures du quotidien, 2 - Les jeux de l'échange, 3 - Les temps du monde) die Entwicklungen und Einstufung der Wirtschaftssysteme: Lokalökonomie des Tausches und kleiner Märkte, Marktwirtschaft als Ausgleichssystem unter normalen Wettbewerbsbedingungen, Kapitalismus und Weltwirtschaft als Antiökonomie. Wirtschaftssysteme können nur dann optimal funktionieren, wenn diese drei wirtschaftlichen Stufen arbeiten können. Diese Einstufung von Wirtschaftsebenen kann heute ein Ansatzpunkt für optimale Regional- und Strukturpolitiken sein.

Werke (Auswahl)

  • La Méditerranée et le monde méditeranéen à l’epoque de Philippe II. Paris 1949 (Habilitationsschrift 1947). Dt. Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-518-58056-6 (3 Bände).
  • La longue durée. In: Annales. 1958, S. 725–753. Dt.: Die lange Dauer. In: Schriften zur Geschichte: Gesellschaft und Zeitstrukturen. 1992, S. 49–87.
  • Mit Georges Duby und Maurice Aymard: La Méditerranée. Arts et métiers graphiques, Paris 1977–1978. Dt. zuletzt: Die Welt des Mittelmeeres. Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen. Fischer TB, Frankfurt 2006, ISBN 978-3-596-16853-8.
  • Civilisation matérielle, économie et capitalisme (XVe–XVIIIe siècles). Armand Colin, Paris 1979 (3 Bände). Dt.: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Kindler, München. Bd. 1: Der Alltag. 1985. Bd. 2: Der Handel. 1986. Bd. 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft. 1986.
    • Wie ich Historiker wurde. In: Fernand Braudel (Hg), Schriften zur Geschichte 2: Menschen und Zeitalter. Klett-Cotta, Stuttgart 1993 (Autobiographische Skizze).
  • La dynamique du capitalisme. Arthaud, Paris 1985, ISBN 2080811924. Dt. zuletzt: Die Dynamik des Kapitalismus. 2. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 1991, ISBN 3-608-93093-0 (Neuauflage ebd. 2010, für Okt. angek.).
  • L’identité de la France. Arthaud, Paris 1986 (3 Bände). Deutsche Ausgabe: Frankreich (Band 1: Raum und Geschichte, Band 2: Die Menschen und die Dinge, Band 3: Die Dinge und die Menschen), Klett Cotta, München 2009, ISBN 978-3-608-94644-4.
  • Le modèle italien. Arthaud, Paris 1989. Dt. zuletzt: Modell Italien 1450–1650. Wagenbach, Berlin 2003, ISBN 3-8031-2457-3.
  • Schriften zur Geschichte.
  • Wie Geschichte geschrieben wird. Wagenbach, Berlin 1998, ISBN 3-8031-2326-7 (Aufsatzsammlung).

Literatur

  • Carlos Antonio Aguirre Rojas: Fernand Braudel und die modernen Sozialwissenschaften. Leipziger Univ.-Verlag, Leipzig 1999, ISBN 3-931922-93-6.
  • Peter Burke: Die Geschichte der „Annales“. Die Entstehung der neuen Geschichtsschreibung. Wagenbach, Berlin 1991, ISBN 3-803-12503-0.
  • Georg G. Iggers: Die Annales und ihre Kritiker. Probleme moderner französischer Sozialgeschichte. In: Historische Zeitschrift. 219, Nr. 3, 1974, S. 578–608.
  • Barbara Kronsteiner: Zeit, Raum, Struktur. Fernand Braudel und die Geschichtsschreibung in Frankreich. Geyer-Edition, Wien 1989, ISBN 3-85090-135-1.
  • Yves Lemoine: Fernand Braudel. Espaces et temps de l'historien. Punctum, Paris 2005, ISBN 2-35116-006-1 (Vies choisies).
  • Jörg Schmidt: Der historiographische Ansatz Fernand Braudels und die gegenwärtige Krise der Geschichtswissenschaft. Phil. Diss., Ludwig-Maximilians-Universität, München 1971.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Welt-online:Fernand Braudel

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