Europäische Verteidigungsgemeinschaft

Europäische Verteidigungsgemeinschaft

Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) von 1952 sollte eine europäische Armee schaffen und damit auch eine weitere westeuropäische Einigung fördern. Es wären Frankreich, die Benelux-Staaten, Italien und die Bundesrepublik Deutschland beteiligt gewesen; letztere hatte daran auch ein Interesse, weil damit Wiederbewaffnung und das Ende des Besatzungsstatuts gleichzeitig erfolgt wären. Das Projekt scheiterte 1954, als es im französischen Parlament keine Mehrheit erhielt. Im Jahr darauf wurde die westdeutsche Wiederbewaffnung statt durch eine EVG durch den NATO-Beitritt der Bundesrepublik ermöglicht.

Inhaltsverzeichnis

Frage der deutschen Wiederbewaffnung

Bereits in der Endphase des Zweiten Weltkrieges war es zu Spannungen zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion über den künftigen politischen und militärischen Einfluss in Mittel- und Osteuropa gekommen. Angesichts dieser Entwicklung hatte es in den letzten Kriegsmonaten und während der Besatzungszeit unter den Westalliierten Überlegungen zur Nutzung des militärischen Potenzials der Besatzungsgebiete in Deutschland gegeben. Bald kristallisierte sich die Idee einer „europäischen Armee“ unter der gemeinsamen Kontrolle der europäischen Staaten heraus.

Nach dem Ausbruch des Kalten Krieges, des Korea-Krieges 1950 und wegen einer akuten Furcht vor einem Angriff der UdSSR wurde am 9. August 1950 von Winston Churchill eine europäische Armee mit deutscher Beteiligung gefordert, die mit den USA zusammenarbeiten sollte. Churchill hatte sich schon im März des selben Jahres für einen deutschen Verteidigungsbeitrag ausgesprochen, so dass die beratende Versammlung des Europarates am 11. August 1950 in Straßburg die Bildung einer europäischen Armee mit deutschen Kontingenten befürwortete. In den USA begann sich gleichzeitig die Vorstellung durchzusetzen, eine europäische Verteidigungsstreitmacht unter Führung der NATO aufzubauen. Erstmalig sprach sich am 11. September 1950 der US-amerikanische Außenminister Dean Acheson für eine gemeinsame Europäische Armee unter deutscher Beteiligung aus.

Bundeskanzler Konrad Adenauer betrieb im Rahmen einer verstärkten Westintegration und der Wiedererlangung einer deutschen Souveränität (Ende des Besatzungsstatuts und Kriegszustandes) gleichfalls systematisch eine deutsche Wiederbewaffnung. In einem vorerst geheimen Memorandum an die Hohen Kommissare vom 30. August 1950 erklärte er sich in einem Alleingang bereit, ein deutsches Kontingent im Rahmen einer internationalen westeuropäischen Armee bereitzustellen. Dieser Vorstoß war innenpolitisch bis in die Regierung Adenauer hinein massiv umstritten. Die Vorbereitungen begannen aber bald während der Tagung der deutschen militärischen Expertenkommission aus ehemaligen hochrangigen Wehrmachtsoffizieren im Eifelkloster Himmerod vom 3. bis 6. Oktober 1950. Die erarbeitete Denkschrift über die Aufstellung eines deutschen Kontingents im Rahmen einer internationalen Streitmacht zur Verteidigung Westeuropas (Himmeroder Denkschrift) zielte nicht nur auf die Aufstellung von Truppen ab, sondern entwarf auch Konzepte zur Inneren Führung und dem Staatsbürger in Uniform.

Pleven-Plan und Europäische Verteidigungsgemeinschaft

Am 24. Oktober 1950 unterbreitete der französische Ministerpräsident René Pleven (1901–1993), orientiert am Schuman-Plan und um die politische Initiative nicht zu verlieren, den so genannten Pleven-Plan der französischen Nationalversammlung. Danach sollte eine europäische Armee unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland entstehen. Im Gegensatz zu den anderen Ländern der Verteidigungsgemeinschaft, Frankreich, Italien und den drei Benelux-Staaten, hätten die deutschen Truppen ganz in den internationalen Streitkräften aufgehen müssen. Damit wäre der Aufbau einer eigenen Armee in der Bundesrepublik Deutschland verhindert worden. Frankreich behielte hingegen die Oberhoheit über die eigenen Streitkräfte. Die USA unterstützten den Pleven-Plan, der eine enge Kooperation der europäischen Streitmacht mit dem US-Militär vorsah.

In den 1951 intensiv betriebenen Verhandlungen um eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) forderte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als Gegenleistung für die Aufstellung deutscher Truppen unter europäischer Führung die Ablösung des Besatzungsstatuts und die Einrichtung eines Verteidigungsministeriums, was eine weitgehende innen- und außenpolitische Souveränität nach sich gezogen hätte (erster Deutschlandvertrag oder Generalvertrag; weitgehendes Ende der Alliierten Kontrollrechte). Frankreich wollte dem erst zustimmen, wenn die militärische Integration und damit die „Entnationalisierung“ der deutschen Truppen vertraglich verabschiedet sein würde; der Deutschlandvertrag konnte nach dieser Auffassung also erst in Kraft treten, wenn der EVG-Vertrag von den nationalen Parlamenten ratifiziert worden war. Mehrere strittige Fragen führten zu einer langen Dauer der Beratungen. Insbesondere bei der Größe der nationalen Einheiten, den Deutschland zugestandenen Waffensystemen und -produktionsstätten sowie der Ausgestaltung der EVG-Führung, insbesondere der Nationalität der Kommandeure, ließen sich nur schwer Einigungen erzielen. Auf Druck der USA wurden diese Probleme entweder in Kompromissen oder durch Vertagung vorerst gelöst. Am 26. und 27. Mai 1952 wurde der EVG-Vertrag schließlich unterzeichnet. Als langfristige Perspektive sah das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft die Verschmelzung Europas zu einer politischen Union vor.

Scheitern der EVG und deutscher NATO-Beitritt

Mit der Vertragsunterzeichnung waren die Bedenken in Deutschland und Frankreich jedoch nicht überwunden. Besonders die SPD war mit der Wiederbewaffnung in der Form der EVG nicht einverstanden. In Frankreich störten die Gaullisten sich an dem möglichen Kontrollverlust über die eigene Armee, da der EVG-Vertrag zwingend mit einer Abschwächung oder gar Aufhebung des Besatzungsstatus verbunden war. Zudem wurde aus der UdSSR massiver Protest laut. Um im eigenen Land Zustimmung zur EVG zu erhalten, bemühte sich die französische Regierung 1953, Zusatzverträge durchzusetzen, um die Verfügungsgewalt über die eigene Armee auch innerhalb der EVG weitestgehend zu erhalten. Wiederum unter Druck der USA und der anderen EVG-Mitglieder wurden diese Forderungen teilweise abgemildert und schließlich angenommen. Im Mai 1953 erfolgte die Ratifizierung der EVG-Verträge durch die Bundesrepublik.

In Frankreich hatte inzwischen eine gaullistische und damit der EVG gegenüber skeptische Regierung die Macht übernommen. Ministerpräsident Pierre Mendès-France versuchte erneut den EVG-Prozess aufzuhalten und hatte damit schließlich Erfolg, als die Nationalversammlung am 30. August 1954 die Ratifizierung des EVG-Vertrags ablehnte. Neben dem deutschen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits die Parlamente Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande zugestimmt. Italien stand kurz vor der Ratifikation. Eine zeitgenössische Vermutung lautete, dass ein geheimer „Kuhhandel“ zwischen Frankreich und der UdSSR stattgefunden habe: Als Gegenleistung für die verweigerte Ratifizierung habe Frankreich ein günstigeres Ende seines Indochinakrieges gegen die kommunistische Unabhängigkeitsbewegung der Việt Minh bekommen.

Auch im Deutschen Bundestag und Bundesrat wurde die Diskussion monatelang bis hin zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichtes heftig geführt, da ein Wiederbeginn des deutschen Militarismus, eine Zuspitzung des Ost-West-Konfliktes und eine Festschreibung der deutschen Teilung befürchtet wurden. Für Deutschland bedeutete das Scheitern der EVG eine Beibehaltung des Besatzungsrechts.

Als Ersatz wurde allerdings noch 1954 durch die so genannte Londoner Akte, von den Mitgliedern des Brüsseler Paktes zusammen mit der Bundesrepublik und Italien die Westeuropäische Union (WEU) gegründet, um Deutschland militärpolitisch einbinden zu können. Nach Verabschiedung der Pariser Verträge (1954) und des in diesen enthaltenen zweiten Deutschlandvertrages wurde schließlich der Beitritt der Bundesrepublik zur NATO beschlossen und am 9. Mai 1955 vollzogen. Die weiter bestehenden französischen Bedenken waren zuvor durch die Garantie der USA, dauerhaft Streitkräfte in Europa zu stationieren, und durch eine Verzichtserklärung der Bundesrepublik, atomare, biologische und chemische Waffen herzustellen, ausgeräumt worden.

Siehe auch

Literatur

  • Anselm Doering-Manteuffel: Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer: Außenpolitik und innere Entwicklung 1949–1963. Wissenschaftliche Buch-Gesellschaft, Darmstadt 1988, ISBN 3-534-80031-1.
  • Wilfried Loth: Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939–1957. 3. Auflage.Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 1996, ISBN 3-525-33565-2.
  • Lutz Köllner, Klaus A. Maier, Wilhelm Meier-Dörnberg u. a.: Die EVG-Phase. In: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956. Herausgegeben vom Militärgeschichtlichem Forschungsamt, Bd. 2, München 1990.
  • Die Unbelehrbaren – Nach Berlin und vor Genf. In: Die Zeit, Nr. 10/1954

Weblinks


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