Euphemismus-Tretmühle

Euphemismus-Tretmühle

Die Euphemismus-Tretmühle (engl. euphemism treadmill) ist eine sprachwissenschaftliche Hypothese. Sie besagt, dass jeder Euphemismus irgendwann die negative Konnotation seines Vorgängerausdrucks annehmen wird, solange sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht verändern.

Häufig handelt es sich bei den betroffenen Ausdrücken um gesellschaftlich relevante und konnotativ aufgeladene Begriffe. So werden etwa ethnische Minderheiten wiederholt mit neuen Wörtern benannt, um negative Assoziationen zu vermeiden. Von anderer Seite wird die angestrebte Begriffsetablierung dann oft als übersteigerte politische Korrektheit kritisiert.

Das semantische Gegenstück zur Euphemismus-Tretmühle ist die Dysphemismus-Tretmühle für den umgekehrten Vorgang, dass ein negativ konnotierter Ausdruck eine Bedeutungsverbesserung erfährt und folglich ein neuer abwertender Ausdruck notwendig wird.

Euphemismus-Tretmühle

Der Begriff der „Euphemismus-Tretmühle“ wurde von Steven Pinker eingeführt. Er beobachtete den Effekt, dass euphemistische Wortneubildungen alle negativen Assoziationen jener Wörter aufnahmen, die sie ersetzten, also eine Bedeutungsverschlechterung erlebten.[1] Nach Pinker zeige die Euphemismus-Tretmühle, dass nicht Wörter – wie variable euphemistische Bezeichnungen –, sondern Begriffe im Geist des Menschen primär (vorrangig) seien. Deshalb bewirkten diese primären Begriffe die Bedeutungsübertragung auf die sekundären (nachrangigen) Bezeichnungen.[2] George Orwell erwähnte das Phänomen der Euphemismus-Tretmühle (ohne jedoch diesen Begriff zu verwenden) bereits 1933 in seinem Buch Erledigt in Paris und London im Zusammenhang mit dem sich verändernden Londoner Slang.

Beispiele

Im Deutschen wie auch in anderen Sprachen existieren viele Beispiele für den Prozess der Euphemismus-Tretmühle. Ein Wort in diesem Zusammenhang ist „abwickeln“, welches den Begriff „Schließung von Betrieben und Einrichtungen“ ersetzen sollte, jedoch bald selbst dessen negativen Charakter übernahm.

Häufig ist es der Fall, dass sich die Assoziationen des Wortes „Behinderter“ bei vielen Menschen nicht von denen unterscheiden, die man früher bei „Krüppel“ hatte. So wurde auch das Wort „behindert“ schon bald nach seiner Übernahme aus dem medizinischen Fachjargon in die Alltagssprache für viele Menschen zum Schimpfwort, wie es zuvor mit „Krüppel“ geschah. So entstand die Bezeichnungskette KrüppelInvalideBehinderterMensch mit Behinderung. Im Englischen wird als Nachfolgebegriff für „behindert“ (engl. disabled; wörtl. „entfähigt“) der Ausdruck „anders befähigt“ (engl. differently-abled) diskutiert, was im Deutschen ungebräuchlich ist. Hier wird stattdessen teilweise versucht, den Begriff „Mensch mit besonderen Bedürfnissen“ zu etablieren.

Die Bezeichnung für verschiedene Menschen als „Migrant“ oder „mit Migrationshintergrund“ wurde eingeführt, weil zwar viele der betreffenden Personen Staatsbürger eines deutschsprachigen Landes sind, aber die Bezeichnungen „Ausländer“ oder „Gastarbeiter“ als abwertend empfunden wurden. In der Folge bekam der Ausdruck „mit Migrationshintergrund“ rasch die implizite Nebenbedeutung von „in gewisser Weise sozial auffällig“, da der Begriff „Migrationshintergrund“ sehr häufig in solch negativem Zusammenhang benutzt wurde. Mittlerweile wird fallweise bereits über Alternativen zum Begriff „Migrant“ diskutiert.

Andere Versuche konnotativer Aufwertung kaschieren die negativen Nebenbedeutungen der fraglichen Wörter durch deren Abkürzungen, indem etwa „Zigeuner“ mit dem amtssprachlich anmutenden Kürzel „MEM“ (für „Mobile Ethnische Minderheit“) ersetzt wird. Auch können junge Straftäter als „BASU 21“ („Besonders Auffällige Straftätige Unter 21“) in Erscheinung treten.

Dysphemismus-Tretmühle

Seltener verwendet wird der Terminus „Dysphemismus-Tretmühle“. Er bezeichnet den auch weniger oft anzutreffenden Umstand, dass ursprünglich negativ besetzte Begriffe eine positive Konnotation annehmen (vgl. Geusenwörter), also dass ein ursprünglich abwertender Ausdruck positiv verwendet wird, sodass infolgedessen ein neuer abwertender Ausdruck gefunden werden muss. Voraussetzung dafür ist eine erste Aufwertung, wie sie beispielsweise in folgenden Fällen vorliegt:

Schwuler“ war ursprünglich ein Schimpfwort für männliche Homosexuelle, wird aber heute von der Schwulen-Bewegung bewusst als positiv besetzte Selbstbezeichnung verwendet, sodass infolgedessen die Benennung „Homosexueller“, besonders aber in der Kurzform „Homo“ schon beleidigenden Charakter aufweist. Analog liegt der Fall im Englischen vor, wo gay („fröhlich“, „heiter“, „lustig“) die Bedeutung „schwul“ annahm und später richtiggehend zum positiven Imageträger (Gay Pride) wurde. Auch die Begriffe „Krüppel“, „Hure“/„Nutte“/„Luder“ oder „Nigger“ und „Kanake“ sowie in Österreich „Tschusch“ sollen im Zuge bewusster Selbstbezeichnung seitens dieser Personengruppen ihren herabwürdigenden Charakter verlieren.[3] Als Fremdbezeichnung sind diese Benennungen allerdings immer noch beleidigend.

Als Eigen- und Fremdbezeichnung hatte das Adjektiv „geil“ bis Anfang der 1980er Jahre noch eine rein sexuelle Bedeutung (sexuell erregt, sexuell anregend, sexuell-anzüglich), wurde dann aber in der Jugendsprache positiv umgedeutet (heute: im Sinne von „super“, „fantastisch“, „toll“ und in dieser Verwendungsweise ohne jegliche sexuelle Konnotation). Ein älteres Beispiel ist das Wort „toll“, das ursprünglich „verrückt“, „irre“ (im Sinne von „krank“) bedeutete (vgl. Tollhaus), aber schon seit längerem positiv besetzt ist (im Sinne von „klasse“, „spitze(nmäßig)“, „geil“).

Um die Jahrtausendwende gründete die schwedische Filmindustrie den Lobbyverein „Svenska Antipiratbyrån“[4] (dt. „Schwedisches Antipiratenbüro“), dessen Aufgabe unter anderem in der Verfolgung von Urheberrechtsverstößen besteht. Die Verwendung des Begriffs „Pirat“ im Namen sollte die Anwender von Filesharing-Programmen als Gesetzlose diskreditieren. Zwei Jahre später wurde als Reaktion darauf von schwedischen Netzaktivisten der Verein Piratbyrån (dt. „Piratenbüro“) gegründet. Der Name war eine bewusst provokative Replik auf den Namen der Lobbyorganisation. Einige Jahre danach folgte dann die Gründung der Piratpartiet (dt. „Piratenpartei“) und im Anschluss die der deutschen Piratenpartei. Im Rahmen des Bundestagswahlkampfes im Jahr 2009 wurde von der Piratenpartei ein Werbespot mit dem Titel „Ich bin Pirat“[5] veröffentlicht. In dem Film bekennen sich mehrere Darsteller dazu, Piraten zu sein, sich also den Werten der Piratenpartei verpflichtet zu sehen. Der Begriff „Pirat“ wird hier also nicht als Beleidigung, sondern als positiv konnotierte Selbstbezeichnung verwendet.

Einige Menschen versuchen, durch offensive Verwendung von negativ konnotierten Begriffen ein tatsächliches Umdenken innerhalb der Gesellschaft zu erreichen. Derartige Bestrebungen gibt es in jüngster Vergangenheit in der Slutwalk-Bewegung, welche sich das dysphemistisch verwendete Wort „slut“ (engl. „Schlampe“) aneignet und damit für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen demonstriert.

Um den tatsächlichen Fall einer Dysphemismus-Tretmühle vor sich zu haben, müssen statt der nun aufgewerteten Ausdrücke neue diskreditierende Ausdrücke eingesetzt werden, was bislang kaum zu verzeichnen ist, zumal die Bezeichnungen „schwul“, „geil“, „Pirat“ etc. je nach Sprechsituation oder in bestimmten Zusammenhängen immer noch negativ konnotiert sind oder eine negative Bedeutungsvariante aufweisen.

Einzelnachweise

  1. Steven Pinker: Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur. 1. Aufl., Berlin Verlag, September 2003, S. 298 – 300 (713 S.); ISBN 3827005094
  2. ebd.: S. 299 f.
  3. So existiert beispielsweise in Wien die Folkloregruppe „Tschuschenkapelle“, die aus Angehörigen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien besteht.
  4. http://www.antipiratbyran.com/
  5. bin Pirat!“-Kampagne Piratenwiki der Piratenpartei

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