Estländische Ritterschaft

Estländische Ritterschaft

Die Estländische Ritterschaft war von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis 1920 der politische und rechtliche Zusammenschluss des vornehmlich deutschbaltischen Adels im Norden des heutigen Estlands. Durch die vom jeweiligen Souverän garantierten Standesprivilegien, den politischen Einfluss und den agrarischen Großgrundbesitz war die Ritterschaft außerhalb der Städte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die herrschende Schicht des Landes. Die Estländische Ritterschaft hatte ihren Sitz auf dem Domberg von Tallinn.[1]

Inhaltsverzeichnis

Zugehörigkeit

Die Adelsmatrikel der Estländischen Ritterschaft besteht seit 1756. Insgesamt 308 Geschlechter wurden bei der Estländischen Ritterschaft immatrikuliert. Davon bestehen 179 noch heute.[2]

Geschichte

Schwedische Zeit

Während des Livländischen Kriegs (1558-1583) wurde immer mehr die militärische Überlegenheit Schwedens im Ostseeraum deutlich. Zwischen dem 4. und 6. Juni 1561 leistete der deutschbaltische Adel Estlands freiwillig einen Treueeid auf den schwedischen König Erik XIV. Damit fand die Herrschaft des Deutschen Ordens in Estland ein Ende.

1584 bildete der Adel aus den estnischen Landkreisen Harju (deutsch Harrien), Järva (Jerwen) und Viru (Wierland) die Estländische Ritterschaft.[3] Im selben Jahr schloss sich der Adel von Lääne (Wiek) einschließlich der Insel Hiiumaa (Dagö) der Ritterschaft an. Die estländische Ritterschaft ist damit die älteste der vier deutschbaltischen Ritterschaften.

Das Gebiet der Ritterschaft umfasste den Nordteil des heutigen Estlands. Die Insel Saaremaa (Ösel) behielt ihre eigene Ritterschaft. Hauptinitiator der Estländischen Ritterschaft war neben dem deutschbaltischen Adel der einflussreiche schwedische Befehlshaber und Politiker Pontus de la Gardie.

Bei der Ritterschaft lag (außerhalb der Städte mit ihrer kommunalen Selbstverwaltung) die eigentliche Macht in Estland. Die althergebrachten Landesprivilegien der Ritterschaft wurden bei Thronbesteigung vom jeweiligen Monarchen über Estland bestätigt und erneuert. Die Privilegien der Ritterschaft sahen eine weitreichende Autonomie sowohl bei der Verwaltung des Landes als auch in der Rechtsprechung über die deutsche und estnische Bevölkerung vor. Sie garantierten die Ausübung der evangelisch-lutherischen Religion Augsburger Konfession. Deutsch war Behördensprache.

Die schwedische Staatsmacht war zwar durch einen Generalgouverneur vertreten. Ihm waren aber zwei aus dem estländischen Adel gewählte Berater als Regierungsräte beigegeben. Die Interessen der Ritterschaft wurden vor allem von einem Landtag vertreten, der regelmäßig zusammentrat. Vorsitzender der Ritterschaft war der Ritterschaftshauptmann, der in der Regel vom Landtag für eine Amtszeit von drei Jahren gewählt wurde.

Russische Zeit

1710 wurde Estland vom russischen Zaren Peter I. erobert. Im Frieden von Nystad 1721 erkannte Schweden den Gebietsverlust völkerrechtlich an. Zar Peter und seine Nachfolger garantierten der Estländischen Ritterschaft auch weiterhin ihre Privilegien. Das Verwaltungssystem, die Eigentumsverhältnisse und die Selbstverwaltung der Adligen blieben erhalten. Das Land behielt die evangelisch-lutherische Religion und Deutsch als Verwaltungssprache bei. Umgekehrt gelobten die deutschbaltischen Adligen dem Zaren Loyalität. Es wurde das Gouvernement Estland gebildet, die zaristische Staatsmacht wurde durch einen Generalgouverneur in Tallinn vertreten.

Mit der Thronbesteigung des russischen Zaren Alexanders II. erkannte dieser erstmals die hergebrachten Privilegien der Estländischen Ritterschaft nicht mehr an. Aber erst Zar Alexander III. versuchte aktiv, die Sonderrechte der Ritterschaft aufzuheben. Ziel war die Schaffung eines russifizierten Einheitsstaates, was in Estland aber nur teilweise gelang.

Republik Estland

Im Zuge der Oktoberrevolution in Russland 1917 und der Wirren des Ersten Weltkriegs erklärte Estland am 24. Februar 1918 als Republik seine staatliche Unabhängigkeit von Russland. Versuche des deutschen Kaiserreichs, das Baltikum mit der Schaffung des Vereinigten Baltischen Herzogtums politisch unter deutsche Oberhoheit zu bringen, scheiterten im November 1918. Im Estnischen Freiheitskrieg gegen Sowjetrussland und gegen die vornehmlich deutschbaltische Landeswehr konnte Estland seine staatliche Unabhängigkeit militärisch behaupten. Die Estländische Ritterschaft wurde daraufhin als Körperschaft des öffentlichen Rechts aufgelöst.

Die Estnische Verfassung von 1920 hob endgültig alle Standes- und Adelsprivilegien auf, wodurch der politische Einfluss der Ritterschaft endete. Eine Enteignung des deutschbaltischen Großgrundbesitzes (Rittergüter) bildete den Kern des neuen estnischen Agrarstaates, entzog aber den meisten Adligen auf dem Lande die wirtschaftliche Existenzgrundlage. Viele Deutschbalten siedelten nach Deutschland um.[4]

Zweiter Weltkrieg und danach

Als 1939 aufgrund des Deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakts auf Geheiß Hitlers die in Estland verbliebenen Deutschbalten ihre angestammte Heimat verließen, waren davon auch alle ritterschaftlichen Familien betroffen, die im Lande geblieben waren.

1949 schlossen sich die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs in Deutschland zum Verband der Baltischen Ritterschaften e. V. zusammen, in den auch die Familien der ehemaligen Estländischen Ritterschaft integriert sind. Ziel des Verbandes ist es, „gemeinsame Traditionen zu bewahren, das Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit mit den Baltischen Staaten aufrechtzuerhalten und das Verständnis für das Baltikum in den westlichen Ländern zu vertiefen.“[5]

Wappen der Ritterschaft

Drei schreitende, vertikal angeordnete blaue Leoparden zieren seit 1918 das Wappen der Republik Estland. Es ist dasselbe Wappen, das die Estländische Ritterschaft seit der dänischen Zeit im 13. Jahrhundert führt. Es ist abgeleitet vom Wappen Dänemarks.

Ritterschaftshauptmänner der Estländischen Ritterschaft

  • 1593–1598 Tönnes Maydell
  • 1598–1600 Johann von Rosen
  • 1600–1605 Heinrich Christoph Treiden
  • 1605–1612 Robrecht Taube
  • 1612–1617 Bernhard von Scharenberg
  • 1617–1624 Hans Fersen
  • 1624–1629 Bernd Taube
  • 1629–1632 Arend Metztacken
  • 1632–1635 Otto von Uexküll
  • 1635–1640 Bernhard von Saltza
  • 1640–1643 Johann von Uexküll
  • 1643–1644 Dietrich Taube
  • 1644–1647 Johann von Brackel
  • 1647–1650 Johann von Hastfer
  • 1650–1653 Dietrich Taube
  • 1653–1659 Carl von Hastfer
  • 1659–1663 Frommhold von Tiesenhausen
  • 1663–1667 Fabian von Wrangell
  • 1667–1671 Reinhold von Ungern-Sternberg
  • 1671–1676 Berend Johann von Uexküll
  • 1676–1680 Georg Johann von Löwen
  • 1680–1687 Otto von Rehbinder
  • 1687–1690 Nils von Stackelberg
  • 1690–1691 Tönnis Johann von Bellingshausen
  • 1691–1694 Otto Magnus von Essen
  • 1694–1696 Johann Adolf Clodt von Jürgensburg
  • 1696......... Carl Magnus von Rehbinder
  • 1696–1697 Reinhold von Ungern-Sternberg
  • 1697–1701 Otto Fabian von Wrangell
  • 1701–1702 Bengt Heinrich von Bistram
  • 1702–1705 Bengt Gustav von Rosen
  • 1705–1706 Fabian Ernst Stael von Holstein
  • 1706–1709 Berend Reinhold von Wrangell
  • 1709–1710 Georg Detloff von Uexküll
  • 1710–1711 Fromhold Johann von Taube
  • 1711–1713 Berend Johann von Wrangell
  • 1713–1715 Berend Johann von Schulmann
  • 1715–1720 Erich Dietrich von Rosen
  • 1720–1723 Hans Heinrich von Fersen
  • 1723–1724 Gustav Magnus von Rehbinder
  • 1724–1725 Jakob Johann von Tiesenhausen
  • 1725–1728 Jakob Heinrich von Ulrich
  • 1728–1731 Hans Heinrich von Tiesenhausen
  • 1731–1734 Otto Heinrich von Rehbinder
  • 1734–1737 Gustav Reinhold von Löwen
  • 1737–1740 Christopher Engelbrecht von Kursell
  • 1740–1741 Adam Friedrich von Stackelberg
  • 1741–1744 Berend Heinrich von Tiesenhausen
  • 1744–1747 Magnus Wilhelm von Nieroth
  • 1747–1753 Otto Magnus von Stackelberg
  • 1753-1770 Friedrich Johann von Ulrich
  • 1770–1771 Gustav Reinhold von Ulrich
  • 1771–1772 Fabian Ernst Stael von Holstein
  • 1772–1774 Berend Heinrich von Tiesenhausen
  • 1774–1777 Johann Ernst von Fock
  • 1777–1780 Otto Wilhelm von Budberg
  • 1780–1783 Gustav Friedrich von Engelhardt
  • 1783–1783 Moritz Engelbrecht von Kursell
  • 1783–1786 Moritz Engelbrecht von Kursell
  • 1786–1789 Johann von Brevern
  • 1789–1792 Hermann Ludwig von Löwenstern
  • 1792–1795 Johann Jakob von Patkul
  • 1795–1796 Alexander Philipp von Saltza
  • 1796–1800 Alexander Philipp von Saltza
  • 1800–1803 Jakob Georg von Berg
  • 1803–1806 Gustav Heinrich von Wetter-Rosenthal
  • 1806–1809 Berend Johann von Uexküll
  • 1809–1811 Otto Gustav von Stackelberg
  • 1811–1815 Jakob Georg von Berg
  • 1815......... Paul von Tiesenhausen
  • 1815–1818 Magnus Johann von Baer
  • 1818–1824 Otto von Rosen
  • 1824–1827 Paul Friedrich von Benckendorff
  • 1827–1830 Georg Woldemar von Lilienfeld
  • 1830–1836 Johann Christoph Engelbrecht von Grünewaldt
  • 1836–1842 Rudolph von Patkul
  • 1842–1845 Otto Gustav von Lilienfeld
  • 1845–1848 Heinrich Magnus Wilhelm von Essen
  • 1848–1851 Moritz Edwin Adelbert von Engelhardt
  • 1851–1854 Gustav Hermann Christoph von Benckendorff
  • 1854–1857 Konstantin von Ungern-Sternberg
  • 1857–1862 Alexander Friedrich von Keyserling
  • 1862–1868 Alexander von der Pahlen
  • 1868–1869 Nikolai von Dellingshausen
  • 1869–1871 Gustav von Ungern-Sternberg
  • 1871–1878 Eduard von Maydell
  • 1878–1881 Reinhold von Rehbinder
  • 1881–1884 Wilhelm von Wrangell
  • 1884–1886 Woldemar von Tiesenhausen
  • 1886–1889 Georg Moritz Magnus von Engelhardt
  • 1889–1892 Eduard von Maydell
  • 1892–1893 Johann Georg Ernst von Grünewaldt
  • 1893–1902 Otto Bernhard von Budberg
  • 1902–1918 Eduard von Dellingshausen
  • 1918–1920 Otto von Lilienfeld

Siehe auch

  • Livländische Ritterschaft
  • Kurländische Ritterschaft
  • Oeselsche Ritterschaft

Literatur

  • Walther von Ungern-Sternberg: Geschichte der Baltischen Ritterschaften. Starke, Limburg (Lahn) 1960.
  • Wilhelm von Wrangell, Georg von Krusenstjern: Die Estländische Ritterschaft, ihre Ritterschaftshauptmänner und Landräte. Geschichtlicher Teil. Starke, Limburg (Lahn) 1967.
  • Axel Freiherr von Ungern-Sternberg: Die Estländische Ritterschaft In: Carmen von Samson-Himmelstjerna (Red.): Verband der Baltischen Ritterschaften. 1949–1999. Starke, Limburg (Lahn) 1999, ISBN 3-7980-0539-7, S. 165–192.

Weblinks

Anmerkungen

  1. Kiriku plats 1; heute ist das Gebäude Teil des estnischen Kunstmuseum.
  2. http://www.baltische-ritterschaften.de/genestland.htm
  3. Vorläufer war während der dänischen Zeit Estlands die Vereinigung der Vasallen von Harju und Viru, die Universitas vasallorum in Estonia constituta. Die ersten Dokumente der Universitas vasallorum sind bereits für 1252 belegt
  4. Eine Klage der Deutschbalten beim Völkerbund gegen das estnische Agrargesetz hatte keinen Erfolg. Erst später wurde den Deutschbalten eine Entschädigung für enteignetes Land gezahlt, was zu einer Normalisierung des Verhältnisses zwischen der deutschen Minderheit und dem estnischen Staats betrug.
  5. http://www.baltische-ritterschaften.de/

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