Erlanger Baby

Erlanger Baby

Mit Erlanger Baby bezeichnet man den Fall, bei dem der Körper einer hirntoten Schwangeren 1992 im Erlanger Universitätsklinikum künstlich am Leben erhalten wurde, um ihr Kind auszutragen. Der Versuch scheiterte.

Inhaltsverzeichnis

Sachverhalt

Am 5. Oktober 1992 verunglückte die 18-jährige Zahnarzthelferin Marion Ploch mit ihrem Pkw auf einer Landstraße. Zu diesem Zeitpunkt war sie in der fünfzehnten Woche schwanger. Bei dem Unfall erlitt sie ein Schädel-Hirn-Trauma; die linke Augenhöhle und der Schädelknochen wurden zertrümmert. Mit einem Hubschrauber wurde sie in das Universitätsklinikum Erlangen geflogen, wo am 8. Oktober der Hirntod festgestellt wurde.

Die Ärzte entschieden sich, die lebenserhaltenden Maßnahmen fortzuführen. In den darauf folgenden Wochen verschlechterte sich der Zustand der hirntoten Schwangeren. So musste etwa das verletzte Auge wegen Entzündungen entfernt werden. Am 16. November starb auch der Fötus bei einem Spontanabort in der 19. Schwangerschaftswoche. Die lebenserhaltenden Maßnahmen für Marion Ploch wurden noch am selben Tag eingestellt.

Kontroverse

In der deutschen Öffentlichkeit löste der Fall eine heftige Diskussion aus. Im Mittelpunkt stand die Frage nach dem Recht auf ein Sterben in Würde. Die Ärzte hätten den Sterbeprozess der jungen Frau nur unnötig verlängert, obwohl die Chancen, das Überleben des Fötus über Monate zu erhalten, gering gewesen seien. Alice Schwarzer bezeichnete den Fall in der Emma als „Erlanger Menschenversuch“. Dagegen kam das Amtsgericht Hersbruck, das wegen der Bestellung eines Betreuers angerufen wurde, in seinem Beschluss vom 16. Oktober zu dem Entschluss, dass bei einer „vorzunehmenden Güterabwägung zwischen dem postmortalen Persönlichkeitsschutz der toten Frau und dem selbständigen Lebensrecht des ungeborenen Kindes“ das Recht auf Leben vorgehe.[1]

In der Kritik stand darüber hinaus das Verhalten der Ärzte bei ihrer Entscheidungsfindung: Anstatt sich an die Ethikkommission des Klinikums zu wenden, wurde in einem kleinen Kreis über das weitere Vorgehen entschieden. Auch die Eltern der Hirntoten fühlten sich schlecht informiert und von den Ärzten übergangen, was den Vater am 9. Oktober dazu bewog, sich an die Bild-Zeitung zu wenden.

Wegen der breiten öffentlichen Debatte über den Fall wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache den Ausdruck Erlanger Baby zu einem der Wörter des Jahres 1992.

Strafrechtliche Aspekte

Julius Hackethal stellte gegen die behandelnden Ärzte des Universitätsklinikums Anzeige wegen Körperverletzung, Vergiftung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Ein strafbares Verhalten lag jedoch nicht vor.[2] Dagegen hätte das Beenden der lebenserhaltenden Maßnahmen strafbar sein können:

Auch der Schwangerschaftsabbruch an einer hirntoten Frau ist nach § 218 StGB strafbar. Das sich im Mutterleib entwickelnde Kind ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes als selbstständiges Rechtsgut geschützt –[3] diese Eigenschaft verliert das ungeborene Kind auch nicht durch den Hirntod der Mutter.

Das Herbeiführen des Körpertodes der Schwangeren hätte daher einen Schwangerschaftsabbruch durch Unterlassen (§ 13 StGB) darstellen können, sofern die Ärzte dadurch gegen ihre Garantenpflicht verstoßen hätten. Entscheidend ist, ob es zumutbar gewesen wäre, die Rettungsversuche fortzuführen. Hierbei ist insbesondere auf die Überlebenschancen des Kindes abzustellen. Hätte eine weitere Behandlung nur den Tod des Fötus hinausgezögert oder hätte für das Baby nach der Geburt wahrscheinlich keine Lebensfähigkeit bestanden, wäre ein Beenden der lebenserhaltenden Maßnahmen nicht strafbar gewesen.[4]

Ob das Abstellen der Geräte nach Feststellung des Hirntodes bei einer Schwangeren einen Schwangerschaftsabbruch durch Unterlassung darstellt oder nicht, ist allerdings umstritten. Rechtliche Bedenken äußert D. Giesen.[5] Für die Schweiz lehnen Niggli/Riklin dies ab.[6]

Ähnliche Fälle

15 Jahre später war ein ähnlicher Versuch erfolgreich: Im Jahr 2008 gelang es Erlanger Medizinern, die Schwangerschaft einer nach einem Herzinfarkt ins Koma gefallenen 40-Jährigen fortzusetzen.[7] Nach 22 Wochen, in der 35. Schwangerschaftswoche, wurde ein gesunder Junge durch einen Kaiserschnitt entbunden.[8]

Weltweit sind nach Angaben des Universitätsklinikums Erlangen weniger als 30 Fälle einer Schwangerschaft von Patientinnen im Wachkoma oder mit einem Hirntod bekannt (Stand Oktober 2009).[8]

Literatur

  • Eric Hilgendorf: Zwischen Humanexperiment und Rettung ungeborenen Lebens - Der Erlanger Schwangerschaftsfall. In: Juristische Schulung, Jahrgang 1993, S. 97, ISSN 0022-6939
  • Eric Hilgendorf: Scheinargumente in der Abtreibungsdiskussion - am Beispiel des Erlanger Schwangerschaftsfalls. In: Neue Juristische Wochenschrift, Jahrgang 1996, S. 758, ISSN 0341-1915
  • Monika Gruber: Die strafrechtliche Problematik des „Erlanger-Baby-Falls“. In: Claus Roxin (Hrsg.): Medizinstrafrecht – im Spannungsfeld von Medizin, Ethik und Strafrecht. Boorberg, Stuttgart 2001. S. 175–198. ISBN 3415027910
  • Herbert Tröndle, Thomas Fischer: Strafgesetzbuch und Nebengesetze. C. H. Beck, München 2005. Kommentierung zu § 218 StGB. ISBN 3406539009
  • Oliver Tolmein: Tot, aber nicht gestorben? Marion P. und der Fortschritt der Medizin. In: Wann ist der Mensch ein Mensch? Ethik auf Abwegen. Hanser Verlag, München, Wien 1993. ISBN 3-446-17560-1 (PDF, 53 KB)
  • Leben in der Leiche. In: Der Spiegel. Nr. 43, 1992 (online).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. NJW 1992, 3245 = FamRZ 1992, 1471
  2. Lit.: Gruber
  3. BVerfGE 39, 1
  4. Lit.: Tröndle, Fischer
  5. D. Giesen et al. Rechtliche Bedenken zum Erlanger Experiment
  6. Niggli/Riklin. Abtreibungsdelikte
  7. http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/0,1518,654295,00.html
  8. a b http://www.focus.de/panorama/vermischtes/wachkoma-baby-18-monate-alter-junge-entwickelt-sich-gut_aid_444810.html

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