Ahnenverlust

Ahnenverlust

Mit dem Begriff Ahnenverlust, Implex (lat. Verflechtung) oder Ahnenschwund bezeichnet man in der Genealogie die Erscheinung, dass in der Ahnenliste einer Person bzw. eines Lebewesens Ahnen mehrfach auftauchen, so dass die Anzahl der tatsächlichen (verschiedenen) Ahnen niedriger ist als die bei den meisten Lebewesen theoretisch mögliche Anzahl von 2n in der n-ten Voreltern-Generation. Innerhalb gewisser Grenzen ist es ein vollkommen normales Phänomen, das auf viele Generationen betrachtet jeden betrifft, bei Inzucht hingegen ungewöhnlich stark ausgeprägt ist.

Inhaltsverzeichnis

Erklärung des Ahnenverlustes

Bei Geschwisterehe kommt es bereits in der zweiten Generation zum Ahnenverlust, da der Proband nicht vier, sondern nur zwei Großeltern hat. Da in den meisten menschlichen Gesellschaften ein Inzesttabu gilt, tritt Ahnenverlust normalerweise frühestens in der dritten Generation auf, in der Regel aber erst in späteren Generationen. In diesen Fällen treten Geschwister als Ahnen auf, so dass in der nächsten Generation deren Eltern mehrfach als Ahnen auftreten. Es kann auch vorkommen, dass eine Person in verschiedenen Generationen als Ahne auftritt. Dadurch verringert sich die Anzahl der tatsächlich verschiedenen gegenüber der Zahl der theoretisch möglichen Vorfahren, woraus sich der Inzuchtkoeffizient der Ahnenliste schätzen lässt.

Wenn man die Generationenfolge nur weit genug in die Vergangenheit verfolgt, ist Ahnenverlust mathematisch unvermeidbar, da sich die Anzahl der Voreltern-Nummern in jeder Voreltern-Generation verdoppelt, in der n-ten Voreltern-Generation also 2n beträgt. Geht man bei einem Menschen 30 Generationen zurück (also etwa 500 bis 1.000 Jahre), dann ergeben sich für diese eine Generation mehr als eine Milliarde Ahnen, was die Zahl der damaligen Weltbevölkerung übersteigt. In der Ahnenliste kommen folglich zwangsläufig viele Ahnen mehrfach vor, je weiter man zurückgeht.

Ahnenverlust versus wahre Inzucht

Besonders in der Hundezucht wird gelegentlich der sogenannte Ahnenverlustkoeffizient (AVK) als Maß für die Inzucht eines Individuums verwendet. Dazu berechnet man den Quotienten aus vorhandenen (Av) und maximal möglichen Ahnen (Am) über eine definierte Anzahl Generationen. Die Differenz zwischen dem Resultat und 1 (bzw. 100%) entspricht dem gesuchten Wert.

 AVK = 1-\frac{A_v}{A_m}

Im Gegensatz zum Inzuchtkoeffizienten berücksichtigt der Ahnenverlustkoeffizient allerdings nicht, wie eng Vater- und Muttertier miteinander verwandt sind. Bei ingezüchteten, aber nicht eng miteinander verwandten Elterntieren kann dies dazu führen, dass der Nachwuchs einen hohen Ahnenverlust-, aber gleichzeitig einen niedrigen Inzuchtkoeffizienten aufweist.

Da der Grad der Inzuchtdepression sich nach dem Homozygotiegrad richtet, welcher wiederum durch den Inzuchtkoeffizienten gemessen wird, ist in solchen Fällen dem Inzuchtkoeffizienten mehr Bedeutung beizumessen als dem Ahnenverlust. Der Ahnenverlustkoeffizient liefert also bestenfalls einen Schätzwert, schlimmstenfalls aber völlig sinnlose Angaben zur wahren Inzucht. Er wird daher in der wissenschaftlichen Genetik nicht verwendet.

Beispiele

Ahnenverlust im Hochadel

Beispiele für starken Implex finden sich bei lange Zeit isolierten Populationen, etwa bei Inselbewohnern oder bei religiösen Minderheiten. Da bei Adligen die Vorfahren besonders gut dokumentiert und publiziert sind und aus Gründen der Ebenbürtigkeit und des Erbrechts Ehen zwischen nahen Verwandten besonders häufig waren, beziehen sich die meisten Beispiele der Literatur auf Angehörige europäischer Herrschergeschlechter.

Ein Paradebeispiel von Ahnenverlust ist Alfons XII., dessen Großväter Brüder und dessen Großmütter Schwestern waren. Er hat dadurch nur vier Urgroßeltern (statt acht), da beide Urgroßelternpaare sowohl auf der väterlichen, als auch auf der mütterlichen Seite erscheinen. Somit haben seine Eltern Francisco de Asís de Borbón und Isabella II. zusammen nur vier Großeltern und weisen dadurch nur einen Genpool auf, der normalerweise bei Geschwistern zu finden ist.[1]

Ein weiteres besonders deutliches Beispiel von Ahnenverlust im Hochadel ist Karl II., dessen sämtliche Urgroßeltern (teilweise mehrfach) von Johanna von Kastilien abstammten, dabei hatte er nur 6 Urgroßeltern, da die „fehlenden“ 2 Urgroßeltern bereits als Großeltern in seiner Ahnentafel auftreten. In der 5. Generation (Ur-ur-ur-Großeltern) treten nur 10 neue Individuen auf, die restlichen 22 (von insgesamt möglichen 32) sind bereits in der 4. Generation vorhanden oder treten mehrfach in der 5. Generation auf.

Für Friedrich den Großen, Maria Theresia und August den Starken lässt sich der Ahnenverlust absolut und in Prozent über 12 Generationen ermitteln (nach den Veröffentlichungen Erich Brandenburgs, 1934–1937):

Generation 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
theoretische Ahnenzahl 2 4 8 16 32 64 128 256 512 1024 2048 4096
tatsächliche Ahnenzahl  
Friedrich der Große 2 4 6 10 18 35 63 118 201 357 627 1108
Ahnenverlust in Prozent 0 % 0 % 25 % 38 % 44 % 45 % 51 % 54 % 61 % 65 % 69 % 73 %
Maria Theresia 2 4 8 16 26 50 74 113 158 238 351 569
Ahnenverlust in Prozent 0 % 0 % 0 % 0 % 19 % 22 % 42 % 56 % 69 % 77 % 83 % 87 %
August der Starke 2 4 8 14 23 39 52 74 122 196 302 499
Ahnenverlust in Prozent 0 % 0 % 0 % 13 % 28 % 39 % 59 % 71 % 76 % 81 % 85 % 88 %
Karl II. 2 4 6 10 10 18 32 -- --- --- --- ---
Ahnenverlust in Prozent 0 % 0 % 25 % 38 % 69 % 72 % 75 % -- % -- % -- % -- % -- %
Alfons XII. 2 4 4 6 8 16 28 48 70 --- --- ---
Ahnenverlust in Prozent 0 % 0 % 50 % 63 % 75 % 75 % 78 % 81 % 86 % -- % -- % -- %

Ahnenverlust und Karl der Große

Um den Ahnenimplex zu veranschaulichen, findet man häufig (vor allem in Internet-Foren) die Behauptung, dies würde auch bedeuten, dass „statistisch gesehen alle heute lebenden Europäer von Kaiser Karl dem Großen abstammen müssten und somit jeder Europäer hochadelige Vorfahren hätte (ob über die eheliche oder uneheliche Linie)“ oder – im englischen Sprachraum – „dass alle Briten von König Edward I. (oder wahlweise Alfred dem Großen) abstammen“.

Behauptungen dieser Art beruhen indes nicht auf Statistik, sondern auf der irrigen Annahme, die 2n Voreltern-Nummern seien unter den damals lebenden Menschen gleichmäßig verteilt. Damit würde der Proband jedoch ebenso häufig von Karl dem Großen wie von einem kinderlosen Zeitgenossen Karls abstammen, was offensichtlich nicht der Fall ist.

Zu quantitativen Aussagen führen stark vereinfachte Rechenmodelle, die eine bestimmte statistische Verteilung (hier eine Poisson-Verteilung) durch eine Reihe von Annahmen erzwingen, etwa:

  • eine homogene Populationsvermischung (der Fischhändler aus Hamburg heiratet die bayerische Sennerin; die fränkische Adlige heiratet einen Schmied aus Württemberg; in Breslau heiratet ein katholischer Bürger eine jüdische Bürgerin etc.)
  • eine homogen wachsende Population (keine Einwanderung, gleiche Überlebenschancen für alle)

Jedoch bilden diese Modelle die Wirklichkeit nicht gut ab. Weitere Erläuterungen zu diesem Aspekt des Ahnenimplex finden sich in der Literatur.[2]

Ahnenverlust und mitochondriale Eva

Einen neuen Zugang zum Thema Ahnenverlust bilden genetische Untersuchungen, die seit etwa 1990 unter dem Thema mitochondriale Eva erarbeitet wurden. Diese Daten legen nahe, dass alle heute lebenden Menschen von einer zahlenmäßig sehr kleinen urzeitlichen Menschengruppe abstammen und damit auch untereinander vielfach verwandt sind.

Literatur

  • Eckart Henning; Wolfgang Ribbe: Handbuch der Genealogie, Neustadt an der Aisch 1972.
  • Hermann Athen: Theoretische Genealogie. In Genealogica & Heraldica. Report of the 14th International Congress of Genealogical and Heraldic Sciences in Copenhagen 25.-29. Aug. 1980, p. 421-432. Hrsg.: Sven Tito Achen, Kopenhagen 1982.

Einzelnachweise

  1. Hierbei ist noch zu erwähnen, dass die Vaterschaft von Francisco de Asís de Borbón umstritten ist, vgl. Hinweise im Artikel zu Alfons XII.
  2. Richard Dawkins (2004) The Ancestor's Tale. A Pilgrimage to the Dawn of Evolution ISBN 0-618-00583-8

Weblinks


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