Elektropneumatische Schaltung

Elektropneumatische Schaltung
Telligent-Schaltung MB Actros 2008

Eine Elektropneumatische Schaltung (EPS) (engl. Electronic Power Shift, ab 1996 Telligent-Schaltung) ist eine halbautomatische Getriebesteuerung von Kraftfahrzeugen des Herstellers Mercedes-Benz, welche den Schaltwunsch des Fahrers mit der Hilfe eines pneumatischen Stellers im Getriebe optimierend umsetzt. Sie wird fast ausschließlich bei schweren Nutzfahrzeugen eingesetzt.

Eine elektropneumatische Schaltung[1] besteht in der Regel aus folgenden Hauptbestandteilen:

  • ein Schalthebel, der den Schaltwunsch des Fahrers in elektrische Signale umsetzt;
  • ein Display im Fahrerhaus, das dem Fahrer die vorgewählten bzw. momentan eingelegten Gänge sowie etwaige Störungen anzeigt;
  • ein elektronisches Steuergerät im Fahrerhaus, das die elektrischen Signale aufnimmt und für die Weiterleitung auf einem Bussystem an die Getriebesteuerung kodiert;
  • ein elektronisches Steuergerät am Getriebe, das die Signale auf dem Bussystem mit weiteren Informationen verknüpft und einen elektrischen Stellbefehl erzeugt;
  • ein Verdichter für die Erzeugung der Druckluft;
  • ein Druckluftspeicher für die Gewährleistung einer schnellen Reaktion des Systems;
  • ein Steuerventil für die Umsetzung des elektrischen Steuerbefehls in pneumatische Energie;
  • ein Pneumatik-Zylinder für die Umsetzung des pneumatischen Steuerbefehls in mechanische Bewegung im Getriebe.

Inhaltsverzeichnis

Entwicklung und Geschichte

Vorgestellt wurde dieses Schaltsystem im Herbst 1985 auf der IAA[2] in der damaligen NG-Reihe sowie im Fernreisebus O 303, nachdem der schwedische Nutzfahrzeughersteller Scania ein Jahr zuvor als erster europäischer Hersteller eine computergestützte Schaltung unter der Bezeichnung CAG (Abk. f. Computer Aided Gearshift) auf den Markt brachte. Die EPS wurde in Fernverkehrs-LKW der höheren Leistungsklasse serienmäßig angeboten. In den darunter liegenden Leistungsklassen, Baustellenfahrzeugen sowie im Omnibus war sie anfangs entweder aufpreispflichtig oder gar nicht erhältlich. Aufbauend auf die zunächst teilautomatisierte EPS folgte 1996 mit Vorstellung der neuen Actros-Reihe die „Telligent“-Schaltung (Kunstwort aus „Telematik“ und „Intelligent“), zunächst als halb-, später als vollautomatische Schaltung.

Neben Mercedes-Benz, die als LKW-Hersteller über eine eigene Getriebeproduktion verfügen, bot ZF zeitgleich als Hersteller u. a. von LKW-Getrieben für MAN beispielsweise, halbautomatische Schalthilfen unter der Bezeichnung AVS (Abk. f. Automatische Vorwählschaltung) an, die über Drucktasten, Schaltknauf oder einen Wippschalter am Lenkrad bedient werden konnte. In der Handhabung sind jedoch alle anfänglichen Systeme weitgehend identisch: der Fahrer gibt über einen Schalter einen Schaltimpuls, welcher von der Elektronik und pneumatischen Stellzylindern umgesetzt wird. Heute ist man dazu übergegangen, dem Fahrer jegliche Schaltarbeit abzunehmen. Diese vollautomatischen Schalthilfen dürfen jedoch nicht mit einem Automatikgetriebe verwechselt werden.[3]

Das Kürzel „EPS“ führt selbst in Fachpublikationen häufig zu Verwechselungen mit dem elektronischen Stabilitätsprogramm ESP.

Bedienung

Wählhebel der Telligent-Schaltung in einem Mercedes Actros ab 2002

Bei der EPS- bzw. Telligent-Schaltung[4] erfolgt die Übermittlung des Schaltwunsches an die Getriebesteuerung elektronisch über einen Wählhebel und ein damit verbundenes Bussystem, z. B. CAN-Bus. Die Steuerung setzt den Schaltwunsch dann um, wenn der jedem Gang zugeordnete Geschwindigkeitsbereich erreicht wird. Ist dies nicht der Fall, wird der Schaltvorgang nicht ausgeführt. Kann das Getriebe den Schaltwunsch keinem Gang zuordnen, schaltet es ggf. in die Neutralstellung, also in den Leerlauf, und erzeugt als Warnton ein Rattergeräusch. Der Fahrer hat dann die Möglichkeit, einen neuen, passenden Gang zu wählen. Das Risiko eines fehlerhaften Schaltvorgangs in einen kleinen Gang, der durch eine zu hohe Motordrehzahl Schäden verursachen würde, wird damit ausgeschlossen. Nachteilig kann dies jedoch sein, wenn der Fahrer beispielsweise einen Gang herunterschalten möchte, um auf einer Autobahnauffahrt eine Lücke zwischen zwei LKW zu nutzen und die Elektronik in der Situation in den Leerlauf schaltet.

Anstelle eines konventionellen Schalthebels mit H-Schaltkulisse steht dem Fahrer ein Joystick-artiger Tippschalter zur Verfügung, der durch Antippen lediglich vor- und zurückbewegt werden kann. Dieser Schalthebel besteht zusätzlich aus einer Neutral- und einer Funktionstaste zum Einlegen des Rückwärtsganges. Der Schaltknauf selbst springt nach jeder Betätigung wieder in seine Ausgangslage zurück. Ein Display im Armaturenbrett zeigt den momentan eingelegten sowie den vorgewählten Gang durch Ziffern entsprechend an. Halbe Gänge (Split) werden durch Pfeile unterhalb bzw. oberhalb der Zahl dargestellt und mit der Halbgangwippe unterhalb des Knaufes wie gewohnt bedient (Schalter auf/ab).

In der Bedienung gibt es bauartbedingte Unterschiede: bei der Urausführung der EPS wurde der Schaltknauf zeitgleich mit der Kupplung bedient. Beim Hochschalten eines Ganges wurde der Knauf nach vorn, beim Herunterschalten nach hinten gedrückt und so lange festgehalten, bis der Gangwechsel vollzogen war. Der Schaltknauf gab dann durch ein hörbares Klacken in der Bewegung nach. Bei den späteren Versionen wählte der Fahrer vor Abfahrt durch ein Antippen des Knaufes nach vorn einen Gang zunächst vor, wobei abhängig von Motordrehzahl und Geschwindigkeit maximal ein Gang übersprungen werden konnte. Das Display zeigt den derzeit eingelegten Gang (z. B. „N“ für Neutral) und daneben mit einer kleineren Ziffer den z. B. vorgewählten 2. Gang blinkend. Durch Betätigung der Kupplung wird der Gangwechsel vollzogen und dies dem Fahrer akustisch durch ein Klacken in der Schaltbox signalisiert. Das Kupplungspedal hat somit auch die Funktion einer „Enter-Taste“ zum Ausführen des Schaltbefehls. Schaltwünsche bei getretener Kupplung werden mit Ausnahme von Leerlauf und Rückwärtsgang von der Elektronik nicht immer akzeptiert. Der Leerlauf wird durch Betätigung eines Drucktasters rechts im Schaltknauf eingelegt, der Rückwärtsgang durch einen Drucktaster links mit gleichzeitigem Zurücktippen des Schaltknaufes. Diese älteren Versionen arbeitet teilautomatisiert. In der vollautomatisierten Version ist kein Kupplungspedal mehr vorgesehen, es ist im Fußraum weggeklappt und kann optional eingesetzt werden. Da die Elektronik sämtliche Schalt- und Kupplungsvorgänge vollständig steuert, können hier unsynchronisierte Klauengetriebe eingesetzt werden, die in ihrer Bauform leichter und kompakter sowie im Betrieb schneller zu schalten sind.

Bei den heutigen Getrieben stehen dem Fahrer zwei Betriebsmodi zur Verfügung: bei Vorwärtsfahrt schaltet das Getriebe die Gänge automatisch, es besteht jedoch jederzeit auch die Möglichkeit des manuellen Eingriffs in den Schaltvorgang. Eine vom Funktionsprinzip her identische Abwandlung der EPS/Telligent-Schaltung ist das Sprintshift-Getriebe für die Mercedes-Benz Sprinter, bei dem es sich ebenfalls um ein automatisiertes Schaltgetriebe handelt.

Die elektropneumatische Schaltung Telligent des Mercedes-Benz Unimog U500 ermöglicht mit ihren bis zu 24 bidirektionalen Fahrstufen eine Fahrzeuggeschwindigkeit zwischen 0,13 km/h im Kriechgang und 80 km/h als erlaubte Höchstgeschwindigkeit in beiden Richtungen.

Vorteile: Schonung der Antriebskomponenten und Erhöhung der Wirtschaftlichkeit durch optimierte Schaltvorgänge, mechanischer Verschleiß wird minimiert, da die Elektronik sämtliche Bewegungsvorgänge im Getriebe steuert und dem Antrieb schadende Schaltwünsche nicht zulässt. Der Fahrer wird bei automatischem Betrieb entlastet.

Nachteile: Das Prinzip „erst vorwählen, dann kuppeln“ im teilautomatisierten Betrieb älterer oder vereinfachter Getriebe erfordert eine gewisse Einübung vor allem bei Fahrern, die jahre- oder jahrzehntelang mit konventionellen Schaltgetrieben fuhren. Da bei einem normalen Getriebe mit H-Kulisse meist ungerade Gänge vorn und gerade Gänge hinten liegen, kann dies auch zu Fehlbedienungen bei der EPS führen, wenn man in den 4. oder 6. Gang durch Zurückziehen des Hebels hochschalten möchte. Es bestehen vor allem

  • die Gefahr, dass man bei Schaltfehlern abgelenkt wird - man muss aufs Display schauen, um einen passenden Gang zu finden, und
  • die Gefahr, dass Schaltvorgänge gerade in schwierigen oder hektischen Verkehrssituationen verweigert werden, da der Fahrer situationsbedingt nervös reagiert.

In der Anfangszeit wurden sämtliche Schalthilfen von der Mehrheit der LKW-Fahrer als „nicht männlich“ belächelt, teils sogar abgelehnt. Inzwischen sind diese Systeme jedoch Alltag und werden nun auch in mittleren und unteren Gewichtsklassen angeboten.

Im Juli 1987 kam es im hessischen Herborn zu einem schweren Tanklastwagenunglück aufgrund eines Bremsversagens. Der verunglückte Tanklastzug war mit der seinerzeit noch neuen, ab 1985 produzierten und damals noch sehr störungsanfälligen EPS ausgerüstet. Der Fahrer gab an, auf der achtprozentigen Gefällstrecke in den Ort hinein nicht mehr herunter schalten zu können und so die Bremswirkung des Motors zu nutzen, da die EPS das versuchte Zurückschalten im Überdrehzahl-Bereich verweigerte. Primärer Auslöser dieser Katastrophe waren jedoch nach Ansicht des Staatsanwalts defekte Bremsen und Wartungsmängel am Tankauflieger. Wie das Gericht später feststellte, war das den Beteiligten im Betrieb bzw. beim Unternehmer, Werkstatt und Fahrer (angeblich) auch bekannt, dennoch wurde mit dem Fahrzeug weiter gefahren.[5][6]

Einzelnachweise

  1. EPS Getriebe und eine Erklärung der Telligent-Schaltung
  2. Nutzfahrzeuge von DaimlerChrysler, Seite 178. Motorbuch-Verlag ISBN 3-613-02541-8
  3. Lastauto Omnibus, Sonderheft 100 Jahre LKW 1996- Seite 175 - Vereinigte Motor-Verlage
  4. Telligent-Schaltung für MB Nutzfahrzeuge und eine Erklärung
  5. Giftig, ätzend, explosiv von Michael Schomers, Seite 104 - 110. Rowohlt Taschenbuch Verlag 1988, ISBN 3-499-12349-5
  6. Die Zeit, Stefani Geilhausen: Suche nach dem Sündenbock im Herborn-Prozess

Weblinks


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